Die weißrussische Journalistin Irina Khalip setzt im Kampf um Demokratie und Meinungsfreiheit ihr Leben aufs Spiel. Im Faust-Interview kritisiert sie die Doppelmoral europäischer Politik. Die Nachgiebigkeit der Europäischen Union gegenüber Lukaschenkos diktatorischer Regierung bremse die Demokratiebewegung aus. Unterstützung erhält die Journalistin jedoch vom Internationalen PEN. 2012 wurde ihr der Hermann-Kesten-Preis verliehen. Wegen eines Reiseverbots konnte sie jedoch erst jetzt – als Laudatorin für den diesjährigen Preisträger Index on Censorship – nach Darmstadt reisen. Vor der Preisverleihung sprachen Eugen El und Andrea Pollmeier mit Irina Khalip.
Der diesjährige Preis des PEN-Zentrums betrifft Sie doppelt: vor einem Jahr galt der Preis Ihnen und Ihrem persönlichen Engagement für die Meinungsfreiheit in Ihrer Heimat Weißrussland. Damals konnten Sie den Preis nicht entgegen nehmen, da eine Freiheitsstrafe über sie verhängt worden war. Jetzt gilt der Preis einer Institution, die über all die Menschen wacht, die – wie Sie – wegen ihres Kampfes gegen Unterdrückung, Korruption und Menschenrechtsverletzung in Gefahr geraten bzw. inhaftiert worden sind. Welche Bedeutung haben Preis und Preisträger für Sie, konnte Ihnen diese internationale Wahrnehmung Schutz geben?
Nichts kann Journalisten oder Aktivisten in einer Diktatur schützen. Dennoch war der Preis für mich ausgesprochen wichtig. In der Lage, in der ich in Weißrussland arbeite, entsteht manchmal das Gefühl, ganz allein gegen das absolute Böse zu kämpfen. Das empfindet man vor allem dann, wenn man ins Gefängnis geworfen wird. Durch den Preis konnte ich jedoch im letzten Jahr, als meine zweijährige Haftstrafe in Hausarrest umgewandelt worden war und ich unter der totalen Kontrolle von Polizei und Sicherheitsdiensten stand, konkret erleben, dass ich nicht allein bin und dass mich sogar im Ausland, hinter dem einstigen „Eisernen Vorhang“, viele Menschen unterstützen. Sie haben mir geholfen, mich sicherer zu fühlen, auch wenn weiterhin gilt: In einer Diktatur kannst Du Dich nie sicher fühlen.
An der Preisverleihung versuchten IT-Spezialisten des PEN mich im letzen Jahr via Skype teilhaben zu lassen. Morgens machten wir einen Test. Die Skype-Verbindung war zu diesem Zeitpunkt sehr gut. Genau eine Stunde bevor die Feier beginnen sollte, riefen mich die Techniker des PEN wieder an und sagten, dass jemand in Weißrussland versuche, die Verbindung zu unterbrechen. Die KGB-Agenten (ironisch lachend) waren im Dienst. So konnte ich von Minsk aus der Zeremonie zunächst nicht beiwohnen, erst im letzten Moment gelang den Technikern noch ein Wunder. Ich konnte meinen Dank via Skype übermitteln und sagen: Ich bin ok, ich werde gewinnen und auch weiterhin aktiv sein.
Jetzt aber bin ich froh, hier zu sein und mich persönlich dafür bedanken zu können, dass ich nicht vergessen wurde.
Welche Bedeutung hat der diesjährige Preisträger, die Institution „Index on Censorship“, für Ihr Wirken in Weißrussland?
Es gibt zwischen dem Index on Censorship und der weißrussischen Bevölkerung eine enge Verbindung.
Anfang September 2010 reiste Mike Harris vom Index on Censorship nach Minsk, um sich Aufführungen des Freien Theaters Weißrusslands anzusehen. Drei Monate vor den sogenannten Präsidentschaftswahlen war jedoch unser Freund und Kollege Oleg Bebenin getötet worden. Mike nahm an der Beerdigung des Journalisten und Gründers der Website „Charta97” teil, später traf er sich mit meinem Mann Andrej Sannikow in dessen Büro und nahm Zeugenaussagen von Opfern des weißrussischen Regimes zu Protokoll, die anschließend vom Index on Censorship auf dessen Website und in den Medien der Weltöffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Im Dezember desselben Jahres wurde Natalia Radzina, die für den Preis für Redefreiheit nominiert worden war, verhaftet, außerdem zerstörte man die Büroräume von Charta97.
2011 wurde auch ich verhaftet, ebenso mein Mann Andrej Sannikow, der sich als Präsidentschaftskandidat gegen die Diktatur gestellt hat, und Freunde. Als wir im Gefängnis waren, wurden alle in Weißrussland inhaftierten politischen Gefangenen vom Index of Censorship mit dem Preis der Redefreiheit ausgezeichnet. Wir haben davon im Gefängnis zwar nichts erfahren, aber es wurde alles getan, um die Welt über die Situation in Weißrussland zu informieren. Das war enorm wichtig.
Was hat Ihnen die Festigkeit gegeben, so mutig und wertebewusst Ihren Weg zu gehen?
Mein Sohn gibt mir diesen Mut. Er ist sechs Jahre alt. Ich möchte, dass er in einem freien Land aufwächst und nicht unter einer Diktatur leben muss. Ich weiß zwar, dass man seine Kinder zur Ausbildung auch ins Ausland schicken kann, ich möchte ihm jedoch ermöglichen, in seiner Heimat mehr Freiheit zu erleben, ganz frei zu sein wäre ideal.
Sind dies nicht auch widerstreitende Gefühle, schließlich möchten Sie Ihren Sohn sicher nicht vom Gefängnis aus begleiten?
Ja, natürlich! Doch kann ich nicht in einer Lüge leben. Ich weiß genau, dass man allen Kindern, die unter der Diktatur aufgewachsen sind, sehr früh die Kunst der Lüge beigebracht hat. Man kann mit den Eltern in der Küche offen sprechen, auch mit den allerengsten Freunden, aber nicht in der Schule, nicht auf dem Spielplatz. Mir ist es nicht möglich, meinem Sohn das Lügen beizubringen. Ich möchte, dass er frei sein kann. Und er ist wirklich frei aufgewachsen. Er weiß schon jetzt, was Rede- und Gedankenfreiheit bedeutet. Er hat für sein Alter bereits sehr traurige Erfahrungen gemacht, beide Eltern wurden inhaftiert, er wusste nicht, wo wir waren. Der Sicherheitsdienst wollte ihn am Tag nach unserer Verhaftung in ein Waisenhaus bringen. Dennoch versuche ich mein Bestes, um ihm eine normale Kindheit zu ermöglichen und ich hoffe, dass er einmal in einem freien Land aufwachsen wird, denn er liebt Weißrussland.
Auch unterstützt mich meine Mutter. Ich weiß nicht, woher sie mit 74 Jahren die Kraft nimmt. Ich und mein Mann waren im Gefängnis, ihr Mann im Krankenhaus und der Staat versucht, ihren Enkel in ein Waisenhaus zu bringen. Sie war die einzige Stütze für die ganze Familie. Doch sie ist sehr stark und voller Haltung. 1939, als die Wehrmacht Polen besetzte, ist meine Mutter mit ihrer jüdischen Familie aus Warschau geflohen. Meine Großmutter nahm sie an die Hand und ging zu Fuß mit ihr gen Osten. Sie schafften es. Viele Jahrzehnte später tat meine Mutter das gleiche mit ihrem Enkel, rettete ihn vor den neuen Faschisten.
Gibt es über ihre Familie hinaus Personen, die Ihnen Ermutigung sind? Wo befinden sich Bezugspunkte zu Ihrem Widerstand?
Vaclav Havel ist ein solches Beispiel, denke ich. Seine Biographie und alles, was er für die tschechische Republik getan hat, inspirieren mich. Zwischen den osteuropäischen Staaten und Weißrussland sehe ich viele Gemeinsamkeiten. Ich war früher eine Soviet und hatte die Mentalität einer Bürgerin, die zu einem großen, schrecklichen Reich gehört. Nachdem Weißrussland unabhängig wurde, begriff ich jedoch, dass ich die Mentalität eines kleinen europäischen Staates habe, und dass es für mich sehr gut ist, in einem kleinen Land in der Mitte Europas zu leben. Unser Land ist ein Staat, wie viele andere kleine europäische Staaten, die sich in Europa einbringen. Ich hoffe, dass wir aus dieser Perspektive einmal der Europäischen Union beitreten werden. Ein anderes Vorbild ist übrigens Lech Walesa. Mein Mann traf ihn öfter. Auch er ist ein gutes Beispiel.
Sie haben seit 1995, ein Jahr nach dem Machtantritt von Lukaschenko, für die neu gegründete, unabhängige Zeitung „Der Name“ geschrieben. Wie war diese Zeit für Sie? Gab es damals eine Aufbruchsstimmung? Konnte man viel ausprobieren?
Es war eine fantastische Zeit. Das weißrussische Volk hatte damals bereits erste Erfahrungen mit der Freiheit gemacht, hatte aber noch nicht verstanden, dass die Freiheit ihren Preis hat. Damals gab es noch das verbreitete Gefühl, dass um uns herum viele offene Türen sind. Es gab eine freudige Zukunftserwartung. Für uns Journalisten war es eine Zeit, in der unabhängige Zeitungen wie Pilze aus dem Boden schossen. Es war ein Glück, für eine unabhängige Zeitung arbeiten zu können und mit ähnlich inspirierten, verrückten Leuten etwas Neues zu machen. Uns war klar, dass wir in einer tollen Zeit arbeiten. Wären wir zehn Jahre älter, dann hätten wir es womöglich schwerer gehabt, da wir dann in leitenden Positionen in den sowjetischen Zeitungen gewesen wären und Angst hätten, etwas zu verändern. Junge Leute haben keine Angst vor Veränderungen. Für sie fängt ja alles erst an. Selbst Lukaschenko hat ein Jahr nach seinem Machtantritt noch nach seinem Weg gesucht. In seinem Team waren noch junge, gebildete Leute und Reformer. Es war leicht, einen Interview-Termin mit einem Minister zu bekommen. Sie kamen sogar selber in die Redaktionen, mit einer Flasche Wein. Es gab keine Probleme.
Das Lukaschenko-Regime ist bald seit 20 Jahren an der Macht. Konnten Sie damals absehen, dass es diese Zeit überdauert? Wie sehen Sie diese 20 Jahre? War es eine verlorene Zeit?
Ich konnte nicht absehen, dass sich das Regime so lange hält. Ich konnte auch nicht ahnen, dass wir in die heutige Lage kommen, die einer Sackgasse gleicht. Immer habe ich geglaubt, dass wir inzwischen so tief gesunken sind, dass es nur noch aufwärts gehen kann. Es hat sich aber herausgestellt, dass immer neue Tiefpunkte möglich sind. Abgründe haben sich aufgetan. Es ärgert mich, wenn gesagt wird, die Lage in Weißrussland sei im Vergleich zu Turkmenistan oder Zimbabwe gar nicht so schlimm. Warum vergleicht man Weißrussland mit Turkmenistan und Zimbabwe, warum nicht mit Polen, mit Litauen, anderen benachbarten Staaten? Weißrussland liegt eigentlich in der Mitte Europas, ist aber ein Gebilde, das mit Stacheldraht von seinen Nachbarn abgegrenzt ist. Aber, um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich halte diese zwanzig Jahre nicht für eine verlorene Zeit. Ich bereue kein Jahr, keinen Monat meines Lebens in Weißrussland, so wie ich es gelebt habe. Klar gab es auch Fehler, aber ich hoffe, dass ich alles weitgehend richtig gemacht habe. Wie lange saß Nelson Mandela hinter Gittern? War diese Zeit etwa auch verloren? Die Opfer, die man bringt, sind am Ende nicht umsonst.
Welche Rolle spielen die arabischen Rebellionen und die „orangene Revolution“ in der Ukraine im weißrussischen politischen Diskurs, in den Medien?
In Weißrussland gibt es eigentlich keinen politischen Diskurs. Der Arabische Frühling hat zweifellos Aufsehen erregt, da man gedacht hatte, dass die Diktatoren der arabischen Welt überhaupt nicht gestürzt werden können. Das Gegenteil ist eingetreten. Das weißrussische Volk ist aber zu solch einem verzweifelten, bewaffneten Aufstand nicht fähig. In Europa halte ich so etwas für prinzipiell unmöglich. Andererseits ist die Ukraine auch ein europäischer Staat, selbst Georgien in vielerlei Hinsicht. Als es in der Ukraine und in Georgien geschah, war es ein sehr inspirierender Moment. Mittlerweile ist das Vergangenheit. Alle dortigen Revolutionen haben Früchte getragen. Auf sie folgen freie Wahlen, ein politischer Prozess. Die Machthaber kann man mögen oder nicht, sie sind jedoch gewählt. Janukowitsch hat einen sehr knappen, europäischen Wahlsieg errungen. Selbst Russland will es mit verlässlichen Partnern zu tun haben, statt mit Schreihälsen, die ihre Loyalität nur in Worten versichern und sich nicht an Verträge halten. Deshalb ist auch Lukaschenkos panslawische Rhetorik von Nachteil.
Die weißrussische Sprache wird vom Regime nicht gefördert, kulturell orientiert sich das Land nach Russland. Das Weißrussische gilt als provinziell. Welchen Bezug haben Sie zur weißrussischen Sprache und Kultur, zum Weißrussischen?
Mein Vater ist weißrussischer Muttersprachler, er schreibt auf Weißrussisch. Insofern ist die weißrussische Sprache in meinem Leben zweifellos präsent. Da ich aber für eine russische Zeitung arbeite, schreibe ich zurzeit auf Russisch. Die Sowjetunion hat ebenso die weißrussische Sprache bekämpft wie das heutige Regime, leider mit Erfolg. Jemand, der Weißrussisch spricht, galt damals wie heute als verdächtig, als potentieller Nationalist. 1972 wurde in der Zeitschrift „Index on Censorship“ ein 27-seitiger, anonymer „Brief an einen russischen Freund“ publiziert. Der Autor beschreibt ausführlich, wie die weißrussische Sprache vernichtet wird. Dieser Brief ist auch heute noch absolut aktuell. Ich werde ihn in meiner heutigen Laudatio erwähnen. Andererseits kann man vielen meiner Kollegen nicht zustimmen, die nur weißrussisch sprechende Menschen als Patrioten eines europäischen Weißrusslands sehen. Nehmen Sie zum Beispiel die IRA in Nordirland: sie sprechen Englisch, wohl kaum zur Freude Londons, wohl kaum aus Freundschaft zur Londoner Regierung. Als ich vor kurzem auf einer Menschenrechtskonferenz in Dublin war, ist mir am dortigen Flughafen die Beschilderung in einer unverständlichen Sprache aufgefallen. Es stellte sich heraus, dass es sich um Irisch handelt, eine Sprache, die kaum jemand spricht. Dabei fühlen sich die Iren nicht als Briten. Der irische Staat fördert die Renaissance der irischen Sprache großzügig. In Kürze wird diese Sprache wieder lebendig werden. Ich glaube, dass auch die weißrussische Sprache wieder zurückkommen wird, nur nicht unter Lukaschenko. Die Sprache existiert als Symbol für den Protest, wenn sie vom Staat unterdrückt wird. Das ist falsch. Sie ist aber vielmehr etwas Natürliches.
Die Freilassung von Inhaftierten wird von der Regierung Lukaschenko in einem willkürlichen Auf und Ab strategisch genutzt, um je nach Bedarf eine positivere Ausrichtung der EU-Politik herbeizuführen. Was erwarten Sie von Europa? Sind Sanktionen – und wenn, welche – der richtige Weg?
Ich denke, dass die europäische Politik härter vorgehen sollte. Politische Gefangene werden zurzeit zu politischem Verhandlungsmaterial gemacht. Wenn Lukaschenko einzelne Gefangene freilässt, belohnt ihn die Europäische Union, indem sie ihn z.B. zu einem Eastern Partnership Summit einlädt. Politische Gefangene dürfen jedoch nicht zum Spielball von Verhandlungen werden. Lukaschenko muss vielmehr jeden politischen Gefangenen bedingungslos aus dem Gefängnis entlassen. Im Dezember 2010 hatte sich die europäische Denkweise zunächst verändert. Man schien verstanden zu haben, dass es unmöglich ist, mit Lukaschenko zu verhandeln. Diese ersten Signale waren sehr vielversprechend. Doch sechs Monate später, nachdem die Verurteilungen der politischen Gefangenen erfolgt waren, stoppte die Europäische Union ihren harten Kurs und versuchte erneut, mit Lukaschenko zu verhandeln.
Ich erinnere mich, dass die ökonomischen Sanktionen auf vielen europäischen Ebenen stattgefunden hatten, doch leider verfügt Weißrussland über eine Gasverbindung. Diese gehört zwar Russland, doch kann Lukaschenko deren Nutzung unterbinden. Russisches Gas und billiges weißrussisches Petroleum sind wichtiger als die Verletzung der Menschenrechte. Ich versuche, diese Position zu verstehen, doch gelingt es mir nicht. Ich weiß, dass Solidarnosc die kommunistische Macht in Polen nur darum beseitigen konnte, weil die ganze Welt damals geholfen hat. Es ist unmöglich, Lukaschenko finanziell zu unterstützen und im gleichen Atemzug alle politischen Gefangenen zu befreien. Hier zeigt sich leider eine ganz klassische Doppelmoral. Ich bin sicher, wenn Europa sich nur für einen einzigen Tag weigern würde, Öl aus Weißrussland zu kaufen, würde dies ausreichen, um alle politischen Gefangenen aus der Haft zu befreien. Doch gibt es ökonomische Interessen und den Wunsch nach regionaler Stabilität. Leider sind diese Interessen für die Europäer wichtiger als das Leid der weißrussischen Bevölkerung.
Meine Haltung wirkt vielleicht radikal, doch haben wir langjährige Erfahrung darin, wie Lukaschenko verhandelt. Er betrügt Europa und Russland, zugleich haben weder Europa noch Russland Interesse an zu engen politischen Beziehungen mit Weißrussland.
In einem früheren Interview sagten Sie, der Versuch der Europäischen Union, mit der jetzigen Regierung in einen Dialog zu treten, würde die Demokratisierungsbemühungen dort eher ausbremsen statt befördert? Warum scheint aus Ihrer Sicht der Weg „Wandel durch Annäherung“ in Weißrussland nicht sinnvoll zu sein?
Dieser Weg funktioniert in Weißrussland nicht. Europa hat alles versucht, sich Weißrussland anzunähern. Man hat beispielsweise versucht, Beamte aus Lukaschenkos Regierung fortzubilden. 2008 wurde die Einreisesperre für Weißrussen aufgehoben, allen war erlaubt, in die Europäische Union zu reisen, jeder sollte erleben, wie viel besser demokratische Werte sind als eine Diktatur. Das hat jedoch nicht funktioniert. Beamte der Regierung, selbst Angehörige des KGB, des Militärs und der heimischen Ministerien reisten in die Europäische Union, nahmen an internationalen Konferenzen teil und erhielten sogar, wie beispielsweise einige Richter, Fortbildungen. Am Ende haben gerade jene Richter, die in der EU fortgebildet worden sind, uns verurteilt und meinen Mann und seine Kollegen ins Gefängnis geworfen. Jetzt stehen sie alle auf der schwarzen Liste der EU und haben Einreiseverbot erhalten. Gut wäre es, den Kontakt der Studenten Weißrusslands mit der EU zu verbessern. Man könnte vergünstigte oder kostenfreie Visa vergeben. Personen, die noch immer mit Lukaschenko arbeiten, werden jedoch bis ans Ende aller Zeiten an seiner Seite bleiben. Sie sind alle über Blut oder Vergünstigungen aufs engste miteinander verflochten.
Aus Ihrer Sicht bremst also die Doppelmoral des europäischen Engagements die Demokratisierungsbemühungen in Weißrussland?
Ja! Das ist wirklich meine Position!
Die deutsche Geschichte hat auch in Weißrussland tiefe Wunden hinterlassen. Sie haben erwähnt, dass Ihre Mutter als polnischer Flüchtling hier eine neue Heimat fand. Welchen Blick auf Deutschland hat man heute von Weißrussland aus?
Die Position der gegenwärtigen deutschen Außenpolitik ist gegenüber Weißrussland stark und streng. Vor der Wahl hatte Lukaschenko dem deutschen Außenminister Guido Westerwelle noch versichert, es werde alles offen, frei und transparent sein. Später mochte er sich an dieses Versprechen nicht mehr erinnern. Diese Enttäuschung mag zur strengen Haltung Deutschlands beigetragen haben. Nach meiner Freilassung hat mich Kanzleramtsminister Pofalla mehrfach angerufen und mir am Telefon – wissend, dass wir abgehört werden – erklärt: Solange nicht alle poltischen Gefangenen freigelassen sind, werde sich diese strenge Haltung nicht ändern.
Wünschen Sie, dass die Europäische Union sich an dieser Linie der deutschen Außenpolitik orientiert?
Deutschland hat sehr viel Erfahrung mit der Demokratie und scheint paradoxerweise genauer als andere ehemalige Staaten der Sowjetunion in der Lage zu sein, die Situation richtig einzuschätzen. Litauen oder Lettland sollten beispielsweise wissen, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben und dementsprechend den demokratischen Wandel unterstützen. Deren Regierungen unterstützen jedoch Lukaschenko, weil sie ökonomisch verflochten sind. Weißrussland hat keinen eigenen Seehafen, beide Länder stehen in Konkurrenz um diese Cargofracht.
Ihr Ehemann, der ehemalige Präsidentschaftskandidat Andrej Sannikow, lebt mittlerweile im politischen Exil in London. Sehen Sie Ihre Zukunft in Weißrussland? Haben Sie die Hoffnung, dass sich die Situation zum Besseren ändert?
Auch mein Mann sieht seine Zukunft in Weißrussland. Er musste schnell aus dem Land fliehen, da wir aus westlichen Botschaftskreisen Hinweise auf einen bevorstehenden Mordanschlag erhalten haben. Natürlich habe ich Hoffnung. Ich glaube nicht, dass 10 Millionen Menschen in Europa ihr Leben lang unter einer Diktatur leben können. Andererseits glaube ich nicht, dass Wahlen etwas verändern können. Wir haben uns bisher zu sehr auf die Präsidentschaftswahlen konzentriert. Der Wandel muss über andere Wege geschehen. Darüber müssen wir uns jetzt Gedanken machen.
Das Gespräch führten Andrea Pollmeier und Eugen El.
Aus dem Englischen von Andrea Pollmeier. Aus dem Russischen von Eugen El.
Letzte Änderung: 19.08.2021 | Erstellt am: 19.08.2021
BIOGRAFIE
Irina Khalip
Geboren 1967 in Minsk. Seit 1993 schrieb Khalip für diverse weißrussische Zeitungen. Zurzeit arbeitet sie als Korrespondentin der russischen Zeitung Novaja Gazeta in Minsk.
Nach der Präsidentschaftswahl im Dezember 2010 wurde Khalip verhaftet. Bis Juli 2013 befand sie sich unter Hausarrest.
Irina Khalip ist mit dem weißrussischen Oppositionspolitiker Andrej Sannikow verheiratet und hat einen Sohn.
HINTERGRUND
Weißrussland (Belarus)
Die Republik Weißrussland ist seit 1991 unabhängig, vorher war sie ein Teil der Sowjetunion. Weißrussland grenzt im Osten an Russland, im Westen an Polen, im Norden an Litauen und Lettland, im Süden an die Ukraine.
Seit 1994 wird Weißrussland autoritär regiert von Präsident Alexander Lukaschenko.
Die Bevölkerung beträgt etwa 9,5 Millionen. Die Hauptstadt Weißrusslands ist Minsk (ca. 1,9 Millionen Einwohner).
In Weißrussland wird vorwiegend Russisch gesprochen. Weißrussisch ist eine eigenständige Sprache, die neben Russisch Staatssprache ist.
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