Rauchschwaden im Reichstag
Am Abend des 27. Februar 1933 geht der Berliner Reichstag in Flammen auf. Der vom Kommunismus begeisterte Niederländer Marius van der Lubbe wird verhaftet und gesteht die Brandstiftung. Den Nationalsozialisten gibt das im Wahlkampf die Gelegenheit, mit einer Verhaftungswelle gegen die Kommunisten vorzugehen. Erst am Anfang des 21. Jahrhunderts finden sich Hinweise darauf, wie die Inbrandsetzung tatsächlich stattgefunden haben könnte. Das Künstlerkollektiv Marinus hat dazu den Frankfurter Historiker Rainer Orth befragt.
In der Nacht des 27. Februar 1933 wurde der Reichstag in Brand gesetzt. Auf Vorschlag der der Regierung erließ Reichspräsident Paul von Hindenburg am 28. Februar die Verordnung „zum Schutz von Volk und Staat“ (“Reichstagsbrandverordnung”), die die verfassungsmäßigen Grundrechte wie die persönliche Freiheit, die Meinungs-, Vereins- und Versammlungsfreiheit außer Kraft setzte. Ein wesentlicher Schritt der Faschisten in die Diktatur, den die bürgerlichen Parteien billigten. Marinus van der Lubbe hatte in seinen Tagebuchnotizen und öffentlichen Reden die Passivität, Hilflosigkeit und Fehleinschätzung der Parteien gegenüber den Nationalsozialisten angeprangert. Der 24-jährige niederländische bekennende Anarchist und Anhänger eines Rätesystems, Marinus van der Lubbe, wurde an Ort und Stelle im Reichstag verhaftet, er beteuerte wiederholt und beschrieb detailliert vor der Polizei und während des Prozess vom 21. September bis zum 23. Dezember 1933, wie er den Brand gelegt hatte. Ihm wurde vor dem Leipziger Reichsgericht zusammen mit dem Vorsitzenden der KPD-Reichstagsfraktion, Ernst Torgler, und drei bulgarische Kommunisten, Georgi Dimitroff, Blagoi Popow und Wassil Tanew der Prozess gemacht. Der Prozess endete mit einem Todesurteil für Marinus van der Lubbe und Freisprüchen für alle anderen. Seit dem Ereignis bis heute wird mit verschiedenen Theorien gestritten darüber, ob Marinus für die Brandstiftung des Reichstages verantwortlich war, ein kommunistisches Komplott oder etwa vorrangig eine nationalsozialistische Verschwörung. Die Alleintäterschaft bleibt dennoch weiterhin unzureichend widerlegt. Sicher ist: Er war nicht nur eines der ersten offiziellen und das wahrscheinlich erste offizielle niederländische bzw. nicht-deutsche Opfer des Nazi-Regimes, wenn er auch sich nicht als Opfer verstand. Er war ein Mann der Tat, ein Rebell, Widerstandskämpfer und Radaumacher im Dritten Reich. Er war Mensch.
Marinus van der Lubbe wurde am 10. Januar 1934 in Leipzig durch das Fallbeil hingerichtet und auf dem Leipziger Südfriedhof beigesetzt. 1999 würdigte die Stadt Leipzig van der Lubbe an seinem Geburtstag, dem 13. Januar 1999, mit einen Gedenkstein auf dessen mutmaßlichem Grab, initiiert durch das niederländische Künstlerduo Sluik/Kurpershoek. Am 10. Januar 2024 lud die Stadt Leipzig, das Amt für Stadtgrün und Gewässer, Abt. Friedhöfe, der Stadt Leipzig und die Paul-Benndorf-Gesellschaft zu Leipzig e.V. zur Einweihung der Grab-und Gedenkanlage für Marinus van der Lubbe in Anwesenheit ein.
Auch das Kunstkollektiv Marinus beteiligte sich mit Beiträgen am 10. Januar. Das „Kunstkollektiv Marinus“, bestehend aus den Künstler*innn Jos Diegel, Eliana Pliskin Jacobs und Nils Müller, widmet sich, unterstützt vom Frankfurter Kunstverein Kunst Raum Mato e.V., künstlerisch dem Menschen Marinus van der Lubbe. Mit künstlerischen Aktionen und Interventionen in Leipzig, Foto- und Videoveröffentlichungen via Social Media (u.a. https://www.instagram.com/kunstkollektiv_marinus & https://soundcloud.com/kunstkollektiv_marinus), Radiosendungen und v.a. einer ausgiebigen Recherche widmen sich die Künstler*innen dem ungehörten und ungesehenen Marinus.
Das folgende Gespräch entstand im Dezember 2023 im Rahmen des Projekts DAS FANAL des Kunstkollektivs Marinus anläßlich des 90. Jahrestages des Reichstagsbrandprozesses. Geführt wurde es schriftlich von dem deutsch-niederländische Künstler Jos Diegel und der US-amerikanisch-yiddische Künstlerin Eliana Pliskin Jacobs mit dem Historiker Rainer Orth, dessen im Jahr 2021 erschienenes Buch „Martin Lennings und das Rätsel des Reichstagsbrandes“ (ISBN 978-3-17-040941-5) sich mit der obskuren Person des SA Mannes Martin Lennings und dessen spät aufgefundenen eidesstattlichen Erklärung zum Reichstagsbrand auseinandersetzt. Die umfassenden Antworten Rainer Orths wurden für Faust-Kultur stark gekürzt und aufbereitet.
In der Nacht des 27. Februar 1933 wurde der Reichstag in Brand gesetzt. Auf Vorschlag der der Regierung erließ Reichspräsident Paul von Hindenburg am 28. Februar die Verordnung „zum Schutz von Volk und Staat“ (“Reichstagsbrandverordnung”), die die verfassungsmäßigen Grundrechte wie die persönliche Freiheit, die Meinungs-, Vereins- und Versammlungsfreiheit außer Kraft setzte. Ein wesentlicher Schritt der Faschisten in die Diktatur, den die bürgerlichen Parteien billigten. Marinus van der Lubbe hatte in seinen Tagebuchnotizen und öffentlichen Reden die Passivität, Hilflosigkeit und Fehleinschätzung der Parteien gegenüber den Nationalsozialisten angeprangert. Der 24-jährige niederländische bekennende Anarchist und Anhänger eines Rätesystems, Marinus van der Lubbe, wurde an Ort und Stelle im Reichstag verhaftet, er beteuerte wiederholt und beschrieb detailliert vor der Polizei und während des Prozess vom 21. September bis zum 23. Dezember 1933, wie er den Brand gelegt hatte. Ihm wurde vor dem Leipziger Reichsgericht zusammen mit dem Vorsitzenden der KPD-Reichstagsfraktion, Ernst Torgler, und drei bulgarische Kommunisten, Georgi Dimitroff, Blagoi Popow und Wassil Tanew der Prozess gemacht. Der Prozess endete mit einem Todesurteil für Marinus van der Lubbe und Freisprüchen für alle anderen. Seit dem Ereignis bis heute wird mit verschiedenen Theorien gestritten darüber, ob Marinus für die Brandstiftung des Reichstages verantwortlich war, ein kommunistisches Komplott oder etwa vorrangig eine nationalsozialistische Verschwörung. Die Alleintäterschaft bleibt dennoch weiterhin unzureichend widerlegt. Sicher ist: Er war nicht nur eines der ersten offiziellen und das wahrscheinlich erste offizielle niederländische bzw. nicht-deutsche Opfer des Nazi-Regimes, wenn er auch sich nicht als Opfer verstand. Er war ein Mann der Tat, ein Rebell, Widerstandskämpfer und Radaumacher im Dritten Reich. Er war Mensch.
Marinus van der Lubbe wurde am 10. Januar 1934 in Leipzig durch das Fallbeil hingerichtet und auf dem Leipziger Südfriedhof beigesetzt. 1999 würdigte die Stadt Leipzig van der Lubbe an seinem Geburtstag, dem 13. Januar 1999, mit einen Gedenkstein auf dessen mutmaßlichem Grab, initiiert durch das niederländische Künstlerduo Sluik/Kurpershoek. Am 10. Januar 2024 lud die Stadt Leipzig, das Amt für Stadtgrün und Gewässer, Abt. Friedhöfe, der Stadt Leipzig und die Paul-Benndorf-Gesellschaft zu Leipzig e.V. zur Einweihung der Grab-und Gedenkanlage für Marinus van der Lubbe in Anwesenheit ein.
Auch das Kunstkollektiv Marinus beteiligte sich mit Beiträgen am 10. Januar. Das „Kunstkollektiv Marinus“, bestehend aus den Künstler*innn Jos Diegel, Eliana Pliskin Jacobs und Nils Müller, widmet sich, unterstützt vom Frankfurter Kunstverein Kunst Raum Mato e.V., künstlerisch dem Menschen Marinus van der Lubbe. Mit künstlerischen Aktionen und Interventionen in Leipzig, Foto- und Videoveröffentlichungen via Social Media (u.a. https://www.instagram.com/kunstkollektiv_marinus & https://soundcloud.com/kunstkollektiv_marinus), Radiosendungen und v.a. einer ausgiebigen Recherche widmen sich die Künstler*innen dem ungehörten und ungesehenen Marinus.
Das folgende Gespräch entstand im Dezember 2023 im Rahmen des Projekts DAS FANAL des Kunstkollektivs Marinus anläßlich des 90. Jahrestages des Reichstagsbrandprozesses. Geführt wurde es schriftlich von dem deutsch-niederländische Künstler Jos Diegel und der US-amerikanisch-yiddische Künstlerin Eliana Pliskin Jacobs mit dem Historiker Rainer Orth, dessen im Jahr 2021 erschienenes Buch „Martin Lennings und das Rätsel des Reichstagsbrandes“ (ISBN 978-3-17-040941-5) sich mit der obskuren Person des SA Mannes Martin Lennings und dessen spät aufgefundenen eidesstattlichen Erklärung zum Reichstagsbrand auseinandersetzt. Die umfassenden Antworten Rainer Orths wurden für Faust-Kultur stark gekürzt und aufbereitet.
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Kunstkollektiv Marinus: Können Sie den Lesern bitte eine kurze Zusammenfassung darüber geben, wer Lennings war, seine Beteiligung am Reichstagsbrand und seine Behauptungen in seiner eidesstattlichen Erklärung?
Rainer Orth: Martin Lennings ist eine obskure Persönlichkeit. […] Von Mitte der 1920er Jahre bis Anfang der 1930er Jahre war Lennings ein […] Anhänger der völkischen Bewegung. Auf diese Weise wurde er ein frühes Mitglied der 1925 neugegründeten NSDAP […]. Durch seine Betätigung in der völkischen Bewegung lernte Lennings auch einige führende Exponenten der NSDAP und zumal der SA, wie Ernst Röhm, der von 1931 bis 1934 an der Spitze der SA stand, kennen. Anfang der 1930er Jahre wandte Lennings sich in einem schrittweisen Prozess über mehrere Jahre hinweg vom völkischen Gedankengut ab, während er sich gleichzeitig in einem immer stärker werdenden Maße für die Lehren der Katholischen Kirche zu interessieren begann, die er schließlich mit großer Inbrunst in sich aufnahm und vertrat. 1934 vollzog er dann den Bruch mit dem Nationalsozialismus und trat aus der NSDAP aus, – den er fortan aus einer katholischen Perspektive nachdrücklich ablehnte. […] In den folgenden Jahren wurde er zu einem Verfolgten des Regimes. […]
Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien Lennings im Jahr 1955 im Büro eines Notars in Hannover und gab eine eidesstattliche Erklärung zu Protokoll, die, wie Lennings dem Notar auftrug, dem Berliner Rechtsanwalt Arthur Brandt, der damals im Einvernehmen oder sogar im Auftrag mit der Familie von Marinus van der Lubbe eine Wiederaufnahme des Reichstagsbrandprozesses von 1933 betrieb, zur Verfügung gestellt werden sollte.
In dieser Erklärung behauptete Lennings, dass er Mitte Februar 1933 aufgrund seiner Zugehörigkeit zur SA zu Hilfsdiensten bei der Inbrandsetzung des Reichstagsgebäudes angeworben wurde. Nachdem er sich hierzu bereit erklärt habe, habe er einige Tage darauf gewartet, aktiviert zu werden. Am 27. Februar 1933 sei er dann zusammen mit zwei anderen SA-Männern in eine Berliner Kneipe delegiert worden, wo er von einem Zwischenträger den angeblich vom Berliner SA-Chef Karl Ernst stammenden Befehl erteilt bekommen habe, in einem SA-„Lazarett“ einen Mann abzuholen und diesen zum Reichstag zu fahren. Diese Weisung hätten er und die anderen beiden Männer dann auch ausgeführt und den Mann abgeholt, der ihnen als Herr van der Lubbe vorgestellt worden sei. Sodann hätten sie den Mann zum Reichstagsgebäude gefahren und ihn durch einen Nebeneingang in dieses gebracht. In dem äußeren Bereich des Gebäudes seien sie von einem Mann empfangen worden, der ihnen van der Lubbe abgenommen habe und ihnen die Weisung erteilt habe, sich schleunigst zu entfernen. Bei dieser Gelegenheit will Lennings, seiner eidesstattlichen Erklärung zufolge, bemerkt haben, dass Rauchschwaden aus den mehr nach Innen gelegenen Teilen des Gebäudes gekommen seien.
Sofern dies zutrifft, hätte der Reichstag also bereits zu dem Zeitpunkt, als Marinus van der Lubbe in diesem eintraf – wenn auch noch nicht nach Außen hin wahrnehmbar – , gebrannt. Vor allem würden Lennings’ Aussagen aber, sofern sie der Wahrheit entspricht, bedeuten, dass die Inbrandsetzung des Reichstagsgebäudes nicht von van der Lubbe als einem Einzeltäter ins Werk gesetzt wurde, sondern dass die Brandstiftung von Nationalsozialisten geplant und praktisch verwirklicht wurde und van der Lubbe von diesen nur als ein, anscheinend manipulierter, Sündenbock in den Vorgang „eingebaut“ wurde.
Lennings‘ Erklärung wurde von dem Anwalt Brandt in den folgenden Jahren mehrfach als Beleg für eine nationalsozialistische Verantwortung für den Reichstagsbrand erwähnt, wobei Brandt den Namen von Lennings als Verfasser der Erklärung jedoch verschwieg, angeblich, um diesen vor Nachstellungen durch die – während der ersten Nachkriegsjahrzehnte ja noch in großer Zahl vorhandenen – Altnazis in der Bundesrepublik zu schützen. […]
Lennings‘ Erklärung wurde schließlich 2019 im Zusammenhang mit einem Forschungsprojekt zur Geschichte des Landeskriminalpolizeiamtes Niedersachsen zufällig im Original im Archiv des Amtsgerichts in Hannover aufgefunden, woraus dann ein kleiner postumer Rummel um seine Person entstand.
Wie war die allgemeine nationale und internationale Meinung über den Hergang der Reichstagsbrandstiftung? Wann und wie hat sie sich geändert?
Außerhalb von Deutschland war die überwältigende Mehrheit der Presseorgane und […] wohl auch der Volksmassen in den Ländern Europas und in den Vereinigten Staaten der Meinung, dass der Reichstagsbrand auf das Konto der Nationalsozialisten ginge und dass Marinus van der Lubbe von den nationalsozialistischen Verantwortlichen für die Brandstiftung in irgendeiner Weise als Instrument oder Sündenbock – vielleicht auch als ein manipulierter (kleiner) Mittäter, den man dann opferte – in den Vorgang hineingeschoben worden sei. Innerhalb von Deutschland glaubten ebenfalls viele Personen an die Verantwortung der Nationalsozialisten für den Brand. Die innerdeutsche Presse konnte dies aufgrund der direkt nach dem Brand einsetzenden völligen Liquidierung der Pressefreiheit und ihrer kompletten Auf-Linie-Bringung mit den Wünschen und den offiziellen Positionen der Regierung, die sich zu dieser Zeit als Diktaturregierung etablierte, aber natürlich nicht mehr artikulieren.
Wie ist die HAZ (Hannoversche Allgemeine Zeitung) in den Besitz von Lennings eidesstattlicher Erklärung gekommen?
https://www.haz.de/lokales/hannover/reichstagsbrand-dokument-eines-sa-manns-aus-hannover-ist-jetzt-im-archiv-L7LGUIQEAXXMHZ2MQMDPFXU3LI.html
https://www.haz.de/lokales/hannover/reichstagsbrand-dokument-eines-sa-manns-aus-hannover-ist-jetzt-im-archiv-L7LGUIQEAXXMHZ2MQMDPFXU3LI.html
https://www.haz.de/lokales/hannover/reichstagsbrand-zweifel-an-aussage-eines-sa-manns-aus-hannover-LQ46PCMRESOWWZ5DJAXV4ADBGI.html
Die Erklärung wurde in einer Abschrift im Nachlass des ehemaligen Beamten des Verfassungsschutzes des Landes Niedersachsen, Fritz Tobias, und im Original im Archiv des Amtsgerichts Hannover entdeckt. Der Fund war wohl zunächst ein Zufallsfund in anderem Zusammenhang. Nachdem man die potentiell gewaltige Bedeutung dieser Trouvaille erkannte, wurde der Fund der HAZ mitgeteilt. Das Original der Eidesstattlichen Erklärung wurde anschließend […] vom Archiv des Amtsgerichts Hannover dem Landesarchiv Niedersachsen übergeben.
Sie erwähnen, dass die Idee für den Reichstagsbrand von Goebbels stammt. Gibt es Quellen, die dies belegen?
[…] Lennings [behauptete] in einem von ihm in den 50er Jahren verfassten Brief, dass er bei einem Treffen von einer größeren Anzahl von ausgewählten SA-Leuten im Dresdener Trompeterschlösschen im Februar 1933, zusammen mit den übrigen Anwesenden, von dem Führer der schlesischen SA, Edmund Heines (der damals allgemein als der zweite Mann der SA galt), mitgeteilt bekommen habe, dass die SA demnächst den Reichstag in Brand setzen werde und dass die Idee hierzu von „Jupp“, wie Goebbels gelegentlich in SA-Kreisen mit Spitznamen gerufen wurde, stammen würde. Goebbels war als Gauleiter von Berlin für die Aktivitäten der Nationalsozialisten in der Stadt verantwortlich. […] Ein Beweis dafür, dass diese Behauptung Lennings‘ stimmt, […] konnte allerdings, wie zu betonen ist, bisher nicht erbracht werden. […]
Die Behauptung, dass Goebbels der Urheber der Idee bzw. des Plans einer Inbrandsetzung des Reichstags war, findet sich in der Literatur (der Memoirenliteratur, wie der wissenschaftlichen Literatur) sehr häufig, allerdings stets, ohne dass handfeste Belege für ihr Zutreffen geliefert werden. Meist beruhen entsprechende Angaben auf Hörensagen und Kolportagen.
Warum wurde Marinus van der Lubbe für die Rolle des Brandstifters ausgewählt? Woher wussten die Nazis von Marinus van der Lubbe und wie fanden sie ihn?
[I]rgendein Zeugnis besagte, dass er vor seinem Aufbruch aus Leiden geäussert haben soll, dass ihn Freunde nach Berlin gerufen hätten. Wer diese waren und wie sie ihn kennengelernt hatten, liegt aber im Dunkeln.
Möglich erscheint, dass Lubbe während seiner Wanderfahrten in den Jahren vor 1933 aufgrund seiner Stellung als ein heterodoxer kommunistischer Außenseiter während eines Aufenthaltes in Deutschland irgendwelchen Nationalsozialisten unterkam, die, als er bei ihnen unterkam, gerade nach einem etwas naiven Kommunisten Ausschau hielten, den man als Sündenbock bei einer Aktion benutzen könnte, mit der man dem Ansehen der Kommunisten in der Öffentlichkeit schaden wollte. […] Das Ziel, das diese putativen, unidentfizierten Nationalsozialisten mit dieser Handlung verfolgten, wäre es gewesen, den jungen Schwarmgeist Lubbe als ein nützliches Werkzeug an sich zu ziehen, auf das man bei Gelegenheit zurückgreifen könnte. […]
Lubbe selbst würde in diesem Szenario aber natürlich – sowohl während man ihn für dieses Unternehmen einspannen würde, als auch während er an der praktischen Verwirklichung desselben teilnehmen würde – aufgrund der Täuschung, unter der er gestanden haben würde, in dem Glauben gehandelt haben, dass dieses Unternehmen ein großer Coup sei, der dazu diene, die kommunistische Sache voranzubringen und zu fördern. […] Mir scheint, dass die spezifische Mischung von Idealismus und Unbedarftheit, die in seiner Person vereinigt war – anschaulicher, dass Lubbes Naivität und sein Drang, etwas Großes für einen guten Zweck (den Kampf gegen den Faschismus) zu tun, dem er sich etwas blauäugig, dafür aber mit um so größerer Leidenschaft und mit einem um so stärker entwickelten Wunsch, seine Überzeugungen in praktische Taten umzumünzen, verschrieben hatte – , ihn mutmaßlich besonders anfällig dafür machte, manipuliert und ausgenutzt zu werden. Eben diese Eigenschaftenkombination könnte ihn für zynische Zeitgenossen zu einer „person of interest“ gemacht haben, die man gut instrumentalisieren und ausnutzen zu können glaubte.
Warum wurde Marinus im SA-Lokal „Afrika-Kasino“ in der Lützowstraße in Berlin-Tiergarten abgeholt? Welche Bedeutung hatte dieser Ort?
Das Afrika-Kasino war ein SA-Heim, das sich in relativer Nähe vom Reichstag befand. Man musste von der Lützowstraße nur eine Brücke über den Landwehrkanal überqueren und war dann in wenigen Minuten beim Reichstagsgebäude. Das Gebäude könnte somit (sofern Lennings‘ Angaben zutreffen) aus der Perspektive von mutmaßlichen Drahtziehern des Brandes durchaus ein sinnvoller Platz gewesen sein, um van der Lubbe unauffällig in den Stunden, bevor er zum Reichstagsgebäude transportiert werden würde, zu verwahren.
Glauben Sie wirklich, dass Lennings nichts von dem Brand und seiner Rolle dabei wusste, bis die Fotos von Marinus einige Tage später in den Zeitungen erschienen?
In seinem Brief von 1955 behauptet Lennings, dass er bereits Mitte Februar 1933 während eines Treffens im Dresdener Trompeterschlösschen von den Brandlegungsplänen erfahren habe. Wenn er dieses Vorher-Eingeweihtsein in seiner als Dokument für ein amtliches Gerichtsverfahren bestimmten Erklärung deutlich zurückhaltender behandelt, als in dem Privatbrief, indem er dieses – an anderer Stelle von ihm behauptete – Eingeweiht-Sein in der eidesstattlichen Erklärung nicht erwähnt, dann tat er dies vermutlich, um sich juristisch abzusichern. […] Denn wenn er in der Erklärung erklärt hätte, dass er von Brandstiftungsplänen vorher gewusst hätte, hätte dies ggf. strafrechtliche Konsequenzen für ihn haben können […]
Und wenn Lennings erklärte, [dass er (angeblich) am 27. Februar 1933 eine Person zum Reichstag gebracht habe, und] dass er nachdem er bei seinem Eintreffen im Reichstag, d.h. erst bei seinem Eintreffen im Gebäude, aber nicht früher, erfahren habe bzw. bemerkt hätte (eben durch Rauchschwaden), dass es in diesem brannte, d.h. wenn er also erklärte, dass er erst nach seinem Erscheinen im Reichstagsgebäude merkte, dass eine Brandstiftung in diesem stattfand (ohne von dem Plan hierzu vorher gewusst zu haben), dass er aber aus Angst, dass ihm etwas angetan werden würde, wenn er etwas über diese Dinge verraten würde, in der Zeit nach dem Brand geschwiegen habe, dann wäre ihm sein Handeln und sein anschließendes Schweigen rein juristisch nicht vorwerfbar gewesen. […] Aus dieser Überlegung heraus würde sich die zurückhaltendere Angabe, die Lennings‘ in seiner eidesstattlichen Erklärung im Vergleich zu seinem Brief von 1955 zu dem Punkt einnimmt, ob er schon vor seinem Eintreffen im Reichstag (sofern es überhaupt stimmt, dass er diesen am Abend des 27. Februar aufsuchte) gewusst hatte, dass in diesem Feuer gelegt werden sollte, plausibel machen lassen.
Seine Angabe zu van der Lubbe würde ich dabei in dem Sinne verstehen, dass er, obschon er in einer Quelle konzediert, seit dem Dresdener Treffen von der Brandstiftungsabsicht gewusst zu haben (und dieses angebliche Wissen in der anderen Quelle weder eingesteht noch abstreitet, sondern es einfach schweigend übergeht), tatsächlich nicht wusste, dass geplant war, Lubbe der Öffentlichkeit als Brandstifter zu präsentieren, bis er in den folgenden Tagen das Bild Lubbes mit der Behauptung, dass dieser den Reichstag angezündet habe, in den Zeitungen sah. Sprich: Lennings gab also in seiner Erklärung von 1955 wohl zu, dass er Lubbe in der Brandnacht zum Reichstag brachte und gemäß dem, was er in seinem Brief aus demselben Jahr schreibt, muss er sich, während er Lubbe zum Reichstag brachte (sofern der Transport überhaupt stattfand, versteht sich), auch im Klaren gewesen sein, dass dieser irgendwie an der Brandstiftung mitwirken sollte.
Es erscheint aber möglich, dass Lennings (innerhalb des Szenarios, dass seine Angaben stimmen, denkend) dennoch vor der Tat und auch noch während er Lubbe im Reichstag ablieferte, nicht wusste, dass Lubbe nach der Brandstiftung nicht, wie alle anderen Beteiligten, unerkannt vom Tatort fliehen sollen würde, sondern dass man ihn als Sündenbock dort zurücklassen würde und dass man am folgenden Tag der Öffentlichkeit gegenüber behaupten würde, dass Lubbe den Brand gelegt habe und dass man ihn später wegen dieser Bezichtigung einer Bestrafung zuführen würde, sondern dass es Lennings stattdessen erst nachträglich (eben nachdem er die Meldungen über Lubbe in den Zeitungen sah) aufgrund der an den Tagen nach dem Brand als vollendete Tatsachen vor ihm liegenden Ereignisse klar wurde, dass seine Vorgesetzten von Anfang an geplant hatten, Lubbe auf diese Weise zu behandeln. Bevor Lubbe in den Zeitungen als Täter vorgeführt wurde, mag Lennings hingegen ehrlich angenommen haben, dass man nach dem Brand erklären würde, dass irgendwelche Kommunisten, die aber unidentifiziert seien (weil es ihnen gelungen sei zu fliehen), für den Brand verantwortlich seien.
In dem Kapitel „Lennings’ Biographie von 1937 bis 1962“ erzählen Sie von Behauptungen, dass Lennings unmittelbar nach dem Holocaust jüdische Menschen auf verschiedene Weise unterstützt hat, und sogar von einigen Quellen, die behaupten, dass er Juden während der Kriegsjahre unterstützt hat. Wie glaubwürdig sind diese Quellen? Wenn sie glaubwürdig sind, könnte dies ein Beweis für Lennings’ Charakter sein und dafür, dass er in seiner eidesstattlichen Erklärung die Wahrheit sagt, wenn er behauptet, dass er nicht wusste, dass er beim Reichstagsbrand eine Rolle spielte, bis es passierte? Oder glauben Sie, dass Lennings durch die Unterstützung jüdischer Personen nach dem Holocaust seine Spuren verwischt haben könnte?
In Lennings’ Spruchkammerakte finden sich eine Reihe von eidesstattlichen Erklärungen zu seinen Gunsten. Darunter ein Zeugnis des Schriftstellers Oskar Beyer, dessen Ehefrau als Jüdin 1945 in Auschwitz umgebracht wurde. […] Der Ehemann einer von den Nationalsozialisten ermordeten Jüdin hätte gewiss keine Motivation gehabt, nach dem Krieg einen während der Kriegsjahre im Sinne des Regimes handelnden Mann reinzuwaschen, indem er diesem positive Handlungen und Haltungen attestierte, die dieser nicht tatsächlich eingenommen bzw. getätigt hatte. Von daher halte ich es für äußerst wahrscheinlich, dass die positiven Aussagen von Beyer zugunsten von Lennings zutreffen, zumal diese sich auch in das anderweitig gesicherte Bild von Lennings Person für die Jahre 1934 bis 1945 einfügen (gesicherter Parteiaustritt bereits 1934, gesicherte Inhaftierung als im Regime marginalisierte Person 1936/1937 und später erneut).
Dieses und andere Zeugnisse zeigen, dass Lennings, auch wenn er sein Leben lang ein ausgemachter Leichtfuss und ein Wirrkopf, und in mancher Hinsicht auch ein Filou, war, er doch in dem wohl wichtigsten Punkt, den es gibt, einen weit über Durchschnitt anständigen Charakter hatte, nämlich, indem Lennings sich der Teilnahme an der von dem Regime während der Kriegsjahre durchgeführten Verfolgung und Ermordung der Angehörigen schwacher Randgruppen, versagte, indem er hieran nicht nur nicht teilnahm, sondern indem er im Gegenteil den Opfern dieser Vorgehensweise aktive Unterstützung leistete, um sie vor den Nachstellungen des Regimes zu bewahren oder die Folgen derselben so stark wie möglich abzumildern. Trotz einer nicht unerheblichen Zahl von Ganovereien, die Lennings über die Jahre hinweg beging, hatte er meines Erachtens, um es ein wenig pathetisch auszudrücken, eine in ihrem Kern unverdorbene Seele.
Dass Lennings die Charaktergröße besass, den gewaltigsten Verbrechen dieser Jahre entgegenzuwirken, heißt aber natürlich nicht automatisch, dass seine Behauptungen in seiner Erklärung von 1955 stimmen. Denn er hatte, wie andere Quellen zeigen, unzweideutig einen stark entwickelten Drang zum Fabulieren und zum Geschichten-Erzählen, so dass seiner Wahrheitsliebe, trotz der ihm hoch anzurechnenden Handlungen während der Kriegsjahre, mit starken Vorbehalten zu begegnen ist.
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Rainer Orth ist Historiker mit Wohnsitz in Frankfurt am Main. Er studierte Geschichtswissenschaft, Politologie und Literatur in Konstanz am Bodensee und Berlin und wurde mit einer Studie über ein konservatives Staatsstreichunternehmen gegen die NS-Regierung im Jahr 1934 an der Humboldt Universität zu Berlin promoviert. Sein Forschungsschwerpunkt ist die europäische Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gegenwärtig arbeitet er an einer mehrbändigen Studie zur Geschichte der politischen Gewalt in Deutschland während der Jahre 1919 bis 1934.
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Kunstkollektiv Marinus
Jos Diegel ist freischaffender Künstler und studierte visuelle Kommunikation und audiovisuelle Medien an der Hochschule für Gestaltung Offenbach bis 2010. Seine Werke, Filme und Projekte werden international präsentiert auf Festivals, in Galerien und Museen, u.a. in Berlin, Bozen, Nova Gorica, San Francisco, Wien, Goa, Shanghai, Plovdiv, Leipzig, Salzburg, New York, Montreal, Paris. Er spielt, unterhält und beschäftigt sich mit gesellschafts-politischen und normativ-narrativen Strukturen und begreift seine fröhliche, a-disziplinäre Experimentalwissenschaft im Verhandeln und Konstruieren von Situationen mit den Mitteln Videokunst, Film, Installation, Malerei, Performance, Theater und Wrestling. Er ist Gründungsmitglied des Kunstkollektivs Marinus.
Eliana Pliskin Jacobs ist bildende und Performance-Künstlerin, Sängerin und Zirkusartistin. Sie hat einen BA in indigener Kunstgeschichte und bildender Kunst von der University of British Columbia und einen MFA von der HEAD-Genf. Eliana ist professionelle jiddische Sängerin und Luftakrobatin (Trapez und Luftring). Aktuelle Residenzen, Auftritte und Produktionen sind u.a. ihr Klezmer-Zirkus “Das fligende Balagan”, eine Solorolle in Lera Auerbachs Sinfonie Nr.6 in der Dresdner Philharmonie und im Gewandhaus, sowie eine laufende Künstlerresidenz an der H.U. Berlin. Als Enkelin von Holocaust-Überlebenden aus Deutschland und Jiddischland konzentriert sich Eliana in ihrer künstlerischen Forschung auf Holocaust-Gedenkkultur. Sie ist Gründungsmitglied des Kunstkollektivs Marinus.
Letzte Änderung: 26.02.2024 | Erstellt am: 26.02.2024
Rainer Orth Martin Lennings und das Rätsel des Reichstagsbrandes
Reihe „Geschichte in Wissenschaft und Forschung“
131 S., brosch.
ISBN 978-3-17-040940-8
Verlag Kohlhammer, Stuttgart 2021
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