Ja, es ist Krieg

Ja, es ist Krieg

Gespräch mit Jean-Luc Nancy
Jean-Luc Nancy | © Foto: Coco Hackel

Jean-Luc Nancy spricht mit Shoichi Matsuba über die Anschläge von Paris und geht vor diesem Hintergrund auf Krieg und Kriegsrecht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Christentum und Islam, aber auch auf das Leben im gegenwärtigen Kapitalismus und in Zeiten von Angst und Verunsicherung ein. Dabei zeigt er die Logik der Ökonomie auf und erläutert, wie Star Wars unser Verständnis von Macht verändert hat und warum er mit dem „Unsichtbaren Komitee“ sympathisiert.

Shoichi Matsuba: Eine ganz einfache Frage: befinden wir uns im Krieg?

Jean-Luc Nancy: Meine Antwort ist zunächst Nein, dann Ja.

Nein, weil der präzise Begriff des Krieges, der dem internationalen Recht zugehört, in keinerlei Bezug zu dem steht, was gerade passiert. Man könnte unter Rückgriff auf Carl Schmitt von, „Partisanenkrieg“ sprechen, aber das ist trotzdem nicht ganz dasselbe. Das erste Beispiel von Carl Schmitt ist, glaube ich, der Widerstand der Spanier gegen Napoleon; es geht um spanische Partisanen, die keine reguläre Armee bilden. Die Front betrifft allerdings zwei Nationen und findet im Inneren eines Landes statt. Dagegen haben wir es jetzt mit einem transnationalen Phänomen zu tun. Die Attentate von Paris gehen aber nicht von einem Staat aus, denn der »Islamische Staat« (IS) ist kein Staat; gerade hat ein weiteres Attentat stattgefunden, in Bamako, der Hauptstadt Malis, zu dem sich Al Quaida bekannt hat. Es handelt sich also um etwas „Nebulöses“, bei dem es nicht um eine Frage des Kriegsrechts gehen kann. Das ist kein formales, terminologisches Problem. Man kann sagen, dass wir den Krieg verloren haben, in dem Sinne, dass die Vorstellung von Krieg in der Welt verschwunden ist; überall gibt es Konflikte, manche sind revolutionäre Konflikte innerhalb eines Landes, aber die meisten gehen von einem Land zu einem anderen über, und ihre wirklichen Quellen oder Bezugspunkte liegen nicht in den jeweiligen Staaten begründet. In gewissem Sinne tangiert das durchaus internationales Recht, allerdings nicht das auf den Staaten basierende, vielmehr das außerhalb, jenseits der Staaten,,das in den internationalen Gerichtshöfen Anwendung findet, von denen freilich keiner von allen Ländern anerkannt wird. Diese Gerichte besitzen eine moralische Macht, aber keine wirklich juridische Macht. Die Fragen, die die Möglichkeit dieses supranationalen Rechtes aufwirft, sind bislang nicht gelöst.

»Man müsste […] unterscheiden zwischen denen, die fanatisch werden und denen, die es nicht werden. Aber durch diese Unterscheidung stellt sich die Frage: warum und wie entsteht ein Fanatismus

Meine zweite Antwort lautet Ja: es ist Krieg, falls man unter Krieg in einem weiten Sinne einen bewaffneten, mörderischen Konflikt versteht, in dem man klar einen Feind bezeichnen kann. Hier ist der Feind der Okzident oder die Verbündeten des Okzidents. Der Feind ist hier viel klarer zu erkennen als der Angreifer – derjenige, der den Feind bezeichnet. Wie sagte doch Carl Schmitt selbst oder wenigstens sein Schüler Julien Freund, es ist immer der Andere, der den Feind bezeichnet: es ist der Feind, der sich als mein Feind zu erkennen gibt. Allerdings sind jene, die sich als die Feinde des Okzidents zu erkennen geben, recht schwer zu definieren. Es sind „Islamisten“. Doch wer sind Sie? Man könnte von fundamentalistischen Moslems sprechen, aber es kann Fundamentalisten geben, die vollkommen pazifistisch sind, wie Slavoj Žižek gezeigt hat. Man müsste also unterscheiden zwischen denen, die fanatisch werden und denen, die es nicht werden. Aber durch diese Unterscheidung stellt sich die Frage: warum und wie entsteht ein Fanatismus, der sich auf den Islam beruft und der stark genug ist, um zu bewirken, was gerade geschieht?

»Was löst also den Fanatismus aus? Im Islam gibt es wie im Christentum den Willen zur Expansion … Aber es gibt immer auch etwas anderes, eine sozio-ökonomische Situation.«

Das setzt zunächst ideologisch-politisch-kulturelle Gründe voraus, die einen Bereich wie den Osten des Mittelmeerbeckens, den Mittleren Osten, den Orient, Indonesien, Pakistan, Indien umfasst … In diesem ganz realen Bereich erfolgt die Expansion des Islams, der wie einst das Christentum ein soziales Netz generiert. Beim Umgang mit afrikanischen Studenten ist mir das bewusst geworden. Einer von ihnen, ein Malier, sagte mir vor längerer Zeit, dass Moslemsein ein Mittel war, um sozial gut gestellt zu sein. In Europa hatte das Christentum im sozialen Gefüge der Heiden Fuß gefasst, aber in Afrika ist es eher als Religion einhergekommen denn als soziale Praktik. Der Islam hat in Afrika die anderen Kulte fortbestehen lassen und die Rolle des sozialen Gefüges gespielt. Man wohnt dort einem religiösen Phänomen bei, das in Europa zur Säkularisation geführt hat: das soziale Gefüge wurde damals demokratisch, rechtlich, moralisch … Das heißt, dass dieser gesamte islamische Komplex überhaupt nicht dazu berufen ist, fanatisch zu werden, in seiner Eigenschaft als Praxis, die fünf Gebete am Tag, eine Wallfahrt nach Mekka, einen unerkennbaren, unsichtbaren Gott verlangt … Diese ganze Dimension, die eine Eigenheit aller drei Monotheismen ist, kann sehr gut in einen spirituellen Sinn münden, in einen moralischen etc.

Was löst also den Fanatismus aus? Im Islam gibt es wie im Christentum den Willen zur Expansion … Aber es gibt immer auch etwas anderes, eine sozio-ökonomische Situation. Die sozio-ökonomische Situation der arabischen Länder hat sich seit den Erdölschocks der 1970er Jahre, gefolgt von den Finanzkrisen, völlig verändert. Die erste Ölkrise erfolgte, weil die USA den Höchststand ihrer Erdölproduktion erreicht hatten und das Öl des Mittleren Ostens benötigten. Das Bedürfnis nach Energie, im Verbund mit der Stärke der kapitalistischen Wirtschaft, hat die Beziehungen zum Mittleren Osten erschüttert. Länder wie Saudi-Arabien sind sehr mächtig geworden. Nehmen wir den Fall Algeriens. Algerien ist das Land, in dem (grob gesagt) vor 25 Jahre eine erste größere djihadistische Bewegung (die Islamische Heilsarmee; AIS) entstand. Als deren politischer Arm (FIS) 1991 den ersten Wahlgang zu Parlamentswahlen gewann, wurden unter Ausrufung des Kriegsrechts diese Parlamentswahlen annulliert; Jahre des Terrors folgten. Nun gibt es aber viel Öl in Algerien und dieses Land war ein Indiz, ein Symptom für die Wirklichkeit dieser Geschichte des Öls. Öl heißt Energie und Energie heißt Wachstum, heißt Globalisierung … Diese konfliktauslösenden ökonomischen Bedingungen fallen in die Epoche von Reagan und von Thatcher. Aber jenseits von diesen Namen ist vor allem die langanhaltende Bewegung des Kapitalismus mit seinen weltweiten Absichten von Bedeutung. In Europa hat das einen inneren Zusammenbruch (die beiden Weltkriege) ausgelöst, der zugleich die nationalen Souveränitäten erschüttert hat. Diese führten zwar seit längerem schon immer wieder Krieg miteinander, aber 1870, dann 1914 bis 1918 artete der Krieg in einen „europäischen Bürgerkrieg“ aus. Die ökonomische Entwicklung Deutschlands hat dabei eine nicht geringe Rolle gespielt. Ich will nun nicht alles in Geschichte ertränken, aber ich bin doch höchst erstaunt, dass diese ganze Geschichte heute einem völlig geschwächten Europa widerfährt, das nicht in der Lage ist, eine politische Macht zu werden, und dies angesichts eines Gesamtkomplexes, dessen eine, wenn auch nicht die einzige Komponente der Islam darstellt, und zwar eine in sich selbst gespaltene, aber doch zentrale Komponente.

»Das Geld des Terrorismus setzt sich zusammen aus den Steuern der irakischen, syrischen, afrikanischen Bevölkerung, aber auch aus dem Handel mit Getreide und Öl. Doch wer kauft das Öl von der

Woher beziehen der IS, Al Quaida, Boko Haram … ihr Geld? Das Geld des Terrorismus setzt sich zusammen aus den Steuern der irakischen, syrischen, afrikanischen Bevölkerung, aber auch aus dem Handel mit Getreide und Öl. Doch wer kauft das Öl von der IS? Hier tun sich recht obskure Zonen auf. Welche Stellung nehmen die großen Wirtschaftsmächte in diesen Zonen ein, welche Rollen spielen sie? Ich sage nicht, dass sie den IS bezahlen, es ist viel subtiler und viel komplizierter. Der Terrorismus in Europa hat eine alte Geschichte, man denke nur an Russland, aber die russische Terroristen waren arm, sie fertigten ihre Bomben per Hand an, und ich glaube nicht, dass sie über ein richtiges Waffenarsenal verfügten. Jetzt gibt es einen richtigen Waffenhandel, für den Händler und also Schwerindustrien benötigt werden, die in Frankreich, in Deutschland oder in ähnlichen Ländern zu finden sind. Innerhalb der Globalisierung gibt es einen Umlauf von Geld und von Waffen, der die Mittel einer bis dato unbekannten Gewalt bereitstellt. Daraus erwächst die gegenwärtige Explosion.

Die Frage hinsichtlich des Worts „Krieg“ ist mir in den Sinn gekommen, als ich an einen anderen Kontext dachte; wir stellen uns dieselbe Frage in Japan, wo der Premierminister vom „Krieg“ mit den Chinesen spricht, um eine Verfassungsreform vorzubereiten …

»Sie müssen wissen, ich stehe zu einer Reihe von Opfern, die bei den Anschlägen umgekommen sind, in indirekter Beziehung, was in meinem Leben bisher nie dagewesen war. Diese Nähe hat sehr s

Im Falle des japanischen Premierministers bereitet das Wort „Krieg“ eine Stärkung der Staatsmacht vor. Natürlich steht das in keinem Zusammenhang mit der Sicherheit der Japaner, denn es gibt keinen chinesischen Terrorismus in Japan. Allerdings besteht eindeutig ein ökonomischer Krieg mit China, mit Korea, der an die gesamte Geschichte dieser Region gebunden ist. Man müsste wissen, ab wann eine Verfassungsänderung in Japan zu einer Stärkung der Staatsmacht führt, die für die Japaner repressiv sein könnte. Gegenwärtig stellt sich diese Frage in Frankreich mit dem Eintritt in den Ausnahmezustand. Während in Mali, in Bamako, der Ausnahmezustand 15 Tage dauert, sind es in Frankreich drei Monate.

Es ist schrecklich, dass sich die Frage nach dem Ausnahmezustand hier bereits auch an die Vorstellung einer Verfassungsreform knüpft. Sie erinnern sich vielleicht daran, dass diese Frage von einer Person aus dem Publikum während der Gesprächsrunde des Kolloquiums Mutations aufgeworfen wurde, das in der Buchhandlung Kleber an diesem Donnerstag (1) stattfand. Sie fragte uns, ob Sicherheit ein Herrschaftsmittel sei. Meiner Meinung nach handelt es sich bei einem solchen Denken um einen bedingten Reflex … der sich auch in der Position wiederfindet, die Judith Butler in Libération eingenommen hat. Selbstverständlich will auch ich keinen Polizeistaat in Frankreich. Was soll man aber im Falle des Terrorismus tun? Ich beobachte eine wachsende Präsenz bewaffneter Einheiten seit den letzten Anschlägen: Zeit zu beobachten bleibt …

Geht es darum, die Bevölkerung zu beschützen, oder darum, sie zu kontrollieren? Ich bevorzuge eine andere Reaktion als die nur auf Kontrolle fixierte. Ich bevorzuge diejenige des „Comité Invisible“ (Unsichtbaren Komitees): es handelt sich dabei um eine Gruppe in der Nachfolge der „Situationisten“, die eine Zeitschrift, Tiqqun, gemacht haben und außerdem zwei Bücher, L’Insurrection qui vient (Der kommende Aufstand) und A nos amis (An unsere Freunde). Ihre Überlegungen sind vielleicht die intelligentesten, sie stellen auch eine Position des Rückzugs von der politischen Bühne dar. Sie erinnern sich vielleicht an die Affäre von Tarnac, bei der Mitglieder dieser Gruppe des Terrorismus beschuldigt wurden, die Anschuldigung wurde dann aber zurückgenommen … Es sind Leute, die sich dazu entschlossen haben, zurückgezogen vom normalen Leben zu leben. Jede Marginalisierung stößt an eine Grenze, aber vermittelt wird damit eine bestimmte Tonart der Reaktion … So heißt es im Editorial ihrer Website: „wir sind weder für die Sicherheit noch für die Angst“. Falls man wirklich gegen die Sicherheit ist, dann muss man vor nichts Angst haben, was übrigens auf der Ebene einer Gesamtgesellschaft nichts besagt. Sie sagen auch, dass sie sich um ihre Nächsten ängstigen, so wie alle Franzosen.

»Natürlich ist der Ausnahmezustand hier auch da, um eine politische Reaktion und politische Effizienz zu demonstrieren. In Frankreich ist man allerdings bereits an die Grenzen der möglichen V

Sie müssen wissen, ich stehe zu einer Reihe von Opfern, die bei den Anschlägen umgekommen sind, in indirekter Beziehung, was in meinem Leben bisher nie dagewesen war. Diese Nähe hat sehr starke psychologische Auswirkungen, auch weil uns bisher die Erfahrungen der Einwohner von Algier, Kairo oder Mossul fehlen. Man könnte auch sagen, dass Emotionen ausgenutzt werden, um eine verstärkte Sicherheit zu installieren. Aber es geht nicht nur um Emotion, wir sprechen von wirklichen Toten. Da liegt ein Knoten vor, der sich nur auftrennen lässt anhand der Antwort des „Unsichtbaren Komitees“: „weder Sicherheit noch Angst“. Also wird jeder versuchen, sich zu schützen und aufzupassen.

Zum Kolloquiums Mutations waren drei Personen aus dem Ausland geladen, die aber deswegen absagten, sie hatten Angst … Eine Person sagte mir, ich sei mir nicht über die Gefahren im Klaren. Mir wurde bewusst, dass im Ausland, in Italien, in Kanada, in Chile, es die Familien waren, die ihre Angehörigen nicht nach Europa hatten reisen lassen wollen … Der Terrorismus produziert wirkliche Terroreffekte. Diesem erlittenen Zustand des Terrors eignet eine Realität, die man nicht bestreiten kann. Natürlich ist der Ausnahmezustand hier auch da, um eine politische Reaktion und politische Effizienz zu demonstrieren. In Frankreich ist man allerdings bereits an die Grenzen der möglichen Verwendung von Polizei und Armee gelangt. Der Armee steht weniger Geld zur Verfügung als früher; sie ist in den Krieg in Syrien involviert; ihr bleiben nicht mehr so viele Möglichkeiten … Hier herrscht eine ökonomische Logik, die es nicht erlaubt, dass die Bedrohungen der Sicherheit endlos zunehmen, die aber zur gleichen Zeit zum Bezahlen zwingt, um die Bevölkerung zu beruhigen.

Was tun?

„Na schön, was sollen wir tun?“ Das hörte ich unlängst im Nationaltheater von Straßburg, wo wir uns eine Inszenierung von Warten auf Godot durch Jean-Pierre Vincent anschauten. Meine Frau und ich sagten uns, dieser Satz am Anfang des Stücks sei ein Symptom.

»Ich habe das Gefühl, dass alle Welt spürt, dass unsere kapitalistische Zivilisation an eine Grenze gestoßen ist.«

Die Frage „was tun“ kann sich auf die Sicherheit beziehen, auf den Krieg, auf die Möglichkeit eines Bodenkriegs – aber ich glaube nicht, dass das eintreten wird, sollte das geschehen, würde die Truppenstärke von IS sofort zunehmen; oder man überträgt diese Frage auf die grundlegendere Ebene des ökonomischen, finanziellen, geopolitischen Kontextes, von dem ich sprach, und dann lautet sie „Was sollen wir mit dem Kapitalismus in seinem jetzigen globalen Zustand tun?“ Es ist die Frage des internationalen Rechts: wie kann man die Beziehungen zwischen den nationalen Souveränitäten steuern? Sie ist auch die des Rechts der Staaten gegenüber den Großunternehmen: seit längerem (mit Ausnahme vielleicht der USA und Chinas) agieren die Nationalstaaten in einem vollständigen Ungleichgewicht gegenüber den multinationalen Konzernen. Der französische Staat läuft ihnen nach, um Arbeitsstellen zu sichern (Mittal, Google, sind mächtiger als er, sie verfügen über souveräne Macht).

Um etwas philosophischer zu werden … Die Frage „was tun“ ist in sich selbst problematisch geworden. „Tun“ bedeutet immer auch produzieren. Soll man also mehr Waffen produzieren? Oder soll man juristische und ökonomische Mittel entwickeln, damit die Firmen ihrer Pflicht nachkommen … aber welcher? Die einer guten Demokratie, doch wie sähe diese „gute“ Demokratie aus, die in der Lage wäre, den Terrorismus auszurotten, und die ihre Souveränität nicht mit den Firmen teilte? Was wir, die wir nicht an den Schalthebeln der Macht von Firmen oder Staaten stehen, tun sollten, wäre vielleicht der Versuch, diesen explosiven Zustand der ganzen Welt zu denken, der das Ende einer Zivilisation anzeigt. Man muss allerdings ohne Voraussicht, Planung denken können. Verfällt man in Vorausschau oder Vorhersage, ist es z. B. schwierig, auf Atomenergie zu verzichten; in dem Fall ließe sich die japanische Regierung durchaus legitimieren. Ich bin überzeugt, dass die Entscheidung Deutschlands, aus der Nuklearenergie auszusteigen, vorläufig ist, es sei denn, die gegenwärtige Energienutzung wird grundlegend geändert. Ich habe das Gefühl, dass alle Welt spürt, dass unsere kapitalistische Zivilisation an eine Grenze gestoßen ist. Diejenigen, die darunter am stärksten leiden, die Allerärmsten, spüren dies offenbar nicht. Wir allerdings, die wir diese technische, berechenbare und vollkommen ökonomische Zivilisation geschaffen haben, können uns fragen, welche Zäsur uns erwartet oder welche Zäsur vorgenommen werden kann.

Ich bin von der Tatsache beeindruckt, dass das Christentum und auch – wenn auch weniger heftig – der Buddhismus Religionen sind, die mit einer Kritik am Reichtum einhergehen. Die Religionen früherer Zeiten (die ägyptische, die mesopotamische, die der Majas, der Hinduismus …) haben Reichtum nicht beanstandet. Nun war bereits zwei Jahrhunderte vor dem Christentum das entstanden, was Marx den Vorkapitalismus nennt. Was in Erscheinung trat, war ein Reichtum, der nichts Heiliges mehr an sich hatte. Die ägyptischen Pyramiden oder die Hindutempel konnten im Rahmen einer Ökonomie des Sakralen erbaut werden; aber ab einem bestimmten Moment– mit dem Aufkommen eines Gewinns ohne Sakralität – hat die Ökonomie sich von Grund auf verändert. Was den Buddhismus anbelangt, weiß ich zu wenig, auch er hat für eine bestimmte Zeit öffentliche Prachtentfaltung gekannt, die verknüpft war mit der Macht.

Formulieren wir es anders: in Star Wars geht es immer um „Macht“ (2). In der modernen Welt herrscht eine Vorstellung von Macht als immaterieller, die aber sofort eine materielle, kriegerische Verwendung findet. Die Kraft des Geistes, die den bewaffneten Arm stark und tapfer sein lässt … das existiert sicher in allen Kulturen, aber entwickelt sich in einem Okzident, der unfähig geworden ist, dem Tod auf Schlachtfeldern zu trotzen. Die Furcht vor dem Tod affiziert noch die Idee des Krieges selbst. Man denke an Baudrillards Artikel La Guerre du Golfe n’a pas eu lieu [Der Golfkrieg hat nicht stattgefunden]. Macht ist zu einem enormen Problem geworden … Denn wir können uns geistige Macht nur noch als magische und dabei zugleich als super-technische Kraft vorstellen (Laserschwerter, etc.).

Nun bedeutete die große Veränderung des Okzidents im Zuge Roms und des Christentums auch eine Veränderung der Macht; das Christentum hat eine Macht hervortreten lassen, die die Römer nicht mehr besaßen und die sich anschließend in Macht des Kapitalismus verwandelte. Der Kapitalismus ist die Geburt des Bürgertums, der Bourgeoisie, derjenigen Leute, die die Städtchen, die Bourgs, bewohnen, die den Feudalismus hinter sich lassen – ein Wort, das die Historiker heutzutage kritisieren, worin aber die Macht des Rittertums bestand; nun hat das Rittertum gegen die Hakenbüchsen und dann gegen die Gewehre den Kürzeren gezogen … also gegen andere Modi der Kraftausübung. Das Bürgertum scherte sehr schnell Milizen – wie in der Nachtwache von Rembrandt – um sich. Dort finden Verschiebungen der Kraft statt, auf symbolischer und materieller Ebene, die bemerkenswert sind, während sich die Macht des Geldes vergrößerte.

Aber jetzt … was mit der Macht geschieht, ist ziemlich schwierig zu denken, und man darf nicht einfach nur den Okzident beschuldigen, diesen großen Schuldigen an allem …

1 Die Gesprächsrunde versammelte am 19. November Avital Ronell, Jean-Christophe Bailly und Jean-Luc Nancy im Rahmen des Kolloquiums Mutations, autour de Jean-Luc Nancy, das von Jerome Lèbre und Jacob Rogozinski organisiert wurde.

2 Wenn Jean-Luc Nancy hier – ausgehend von Star Wars – von Macht spricht, verwendet er die Vokabel force, die es sowohl im Englischen als auch im Französischen gibt. Sie enthält die verwandten Bedeutungen Kraft und Stärke, die es folglich mitzudenken gilt. (A. d. Ü.)

Das Gespräch führte Shoichi Matsuba. Er lehrt Humanwissenschaften am Institut für „Freie Künste und Grundlagenforschung“ des Kobe City College of Nursing, Japan.

Das Gespräch wurde auf Französisch von Jérôme Lèbre am 6.12.2015 auf der Website Mediapart veröffentlicht. Hier erscheint es in einer von wenigen Transkriptionsfehlern bereinigten Fassung; da das Gespräch für die japanische Presse bestimmt war, enthält es einige Ausführungen, die dem europäischen Leser verzichtbar erscheinen könnten.

Übersetzung ins Deutsche: Ingo Ebener
Lektorat: Bernd Schwibs

Siehe auch

Letzte Änderung: 26.08.2021

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