Der Kunsthistoriker, bildende Künstler und Kurator Toma Muteba Luntumbue lehrt an der Ecole de Recherche Graphique (ERG) und an der Ecole Nationale Supérieure des Arts Visuels de La Cambre in Brüssel. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Ausstellung kultureller Andersartigkeit in den Museen der ehemaligen europäischen Kolonialreiche. Muepu Muamba und Cornelia Wilß sprachen mit ihm über die fadenscheinige Restitutionspolitik in Belgien, das Ausmaß der epistemologischen Arbeit nach der Rückkehr der Objekte in ihre Herkunftsländer, das neue Nationalmuseum in der Demokratischen Republik Kongo und über die Pädagogik der Kunst in Afrika.
An der Kreuzung des Selbst und des Anderen
Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit dem Thema Restitution. Würden Sie sagen, dass die belgischen politischen, musealen und wissenschaftlichen Institutionen empfänglicher für Restitutionsanfragen geworden sind?
Toma Muteba Luntumbue: Die Diskussion in Belgien scheint mir zu sehr auf Belgien fokussiert zu sein. Es gibt die Tendenz, anstelle des „Anderen“ denken und sprechen zu wollen. Was mir für Belgien sinnbildlich erscheint, ist ein Opportunismus gepaart mit Intransparenz angesichts des Medienrummels, der auf die Veröffentlichung des vom französischen Präsidenten Macron in Auftrag gegebenen Sarr-Savoy-Berichts folgte.
Seit einiger Zeit verwendet Belgien eine sehr diplomatische Sprache in der Frage der Restitutionen. Das allgemeine Klima geht in diese Richtung, die belgischen Behörden wollen schlichtweg die desaströse Darstellung der belgischen Kolonialgeschichte auf internationaler Ebene vergessen machen.
Während des ganzes Prozesses der Renovierung des Tervuren-Museums war nie die Rede von einer ernstgemeinten Politik der Restitution von Kulturobjekten, die während der Kolonisation geraubt wurden. Zudem ist nicht klar, welche politische Instanz dafür verantwortlich ist. In den vergangenen Jahren hat das Museum in Tervuren eine Politik der Infiltrierung und Neutralisierung der Diaspora betrieben, indem es den medialen Raum vollständig dominieren und die Bedingungen und Kriterien des Dialogs mit Menschen aus afrikanischen Gemeinschaften beherrschen wollte.
Keine echte Politik der Restitution
In anderen Ländern haben sich die Gesetzgebung und eine ethische Praxis mindestens seit drei Jahrzehnten rasant entwickelt. Museen in Kanada, den Vereinigten Staaten, Australien und Neuseeland waren schon immer an vorderster Front, wenn es um die Vielschichtigkeit in der Frage kultureller Restitution ging. Diese Länder haben die Führung übernommen, die moralische Integrität ihrer Sammlungen zu gewährleisten und zu versuchen, historisches Unrecht zu korrigieren.
Die großen Museen sträubten sich lange dagegen, die Sammlungen aufzugeben, auf denen ihr Ruf beruht. Dennoch gab es entscheidende konkrete Fortschritte, nachdem die „indigenen Gemeinschaften“ lange Zeit darum gekämpft hatten, die Rechte an den Objekten des Kulturerbes zu bekommen oder gar Zugang zu ihnen zu erhalten.
1975 erließ Neuseeland ein Gesetz (Protected Objects Act), um die Ausfuhr von geschützten Objekten zu regeln, die sich auf die Kultur, Geschichte oder Gesellschaft der Maori beziehen, und um die Rückgabe von illegal ausgeführten oder gestohlenen Objekten zu ermöglichen. Der Native American Graves Protection and Repatriation Act (NAGPRA) wurde bereits 1990 in den USA in Kraft gesetzt (NAGPRA 1990). Obwohl es international keine Anwendung findet, hat dieses Gesetz, bei dem es sich in erster Linie um eine ethische und menschenrechtliche Frage handelt, einen erheblichen Einfluss auf viele „indigene Gemeinschaften“ in anderen Ländern gehabt, die es als Handlungsmodell nutzen.
Wenn es in Belgien ähnliche Initiativen gegeben hätte, wüssten wir davon. Der derzeitige offizielle Diskurs über die Rückgabe des Schädels des kongolesischen Königs Lusinga, der vom belgischen General Storms enthauptet wurde, scheint mir auf ethischer Ebene völlig unaufrichtig und politisch opportunistisch zu sein. Wenn es ein paar feindselige Reaktionen auf die Restitutionen gibt, so bleiben sie in ihrer großen Mehrheit eher fadenscheinig und beruhen auf dem trügerischen Argument, dass die Museumsfachleute in Subsahara-Afrika unvorbereitet und inkompetent seien, ihr eigenes Erbe zu bewahren.
Könnten Sie die Dynamik der Debatte in der Demokratischen Republik Kongo erklären? Gibt es einen Konsens über das Ziel von Restitutionen, über ihre symbolische Bedeutung, ihre restaurative Wirkung und die logistischen Rahmenbedingungen?
Dieser Prozess braucht Zeit. Im Kongo hat noch nicht jeder das Ausmaß und die symbolische Bedeutung der Restitution erfasst. Präsident Tshisekedi hat bisher eine pragmatische, vorsichtige und maßvolle Position eingenommen, die es ihm ermöglicht hat, nicht in die Falle einer komplexen und hoch ideologischen Debatte zu tappen. Wenn er der Meinung ist, dass die Frage der Rückgabe von Kulturgütern oder die der Wiedergutmachung nicht vordringlich ist, dann denke ich, dass dies nicht nur aus diplomatischen und politischen Gründen so ist. Es gibt derzeit keinen Grund, sich in einen so komplizierten Prozess zu stürzen, in einer Zeit, in der der Kongo vor weitaus schwerwiegenderen Problemen steht.
Persönlich glaube ich, dass Restitution eine starke Position erfordert, weil sie eben politisch ist, auch wenn die diplomatische Logik vorschreibt, dass es keinen Gewinner oder Verlierer gibt. Für die DR Kongo würde sie es ermöglichen, aus einer Situation des Bittstellers gegenüber den belgischen Institutionen herauszukommen, die darauf bedacht sind, eine wissenschaftliche Hegemonie durch eine Politik der technischen Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten, die jedoch politisch instrumentalisiert ist.
In Kinshasa gibt es einige, die meinen, dass eine umfangreiche und sofortige Restitution sinnlos wäre. Objektiv betrachtet, würde es furchtbar mühsam werden, wenn das gesamte kongolesische Erbe, welches in der ganzen Welt verstreut ist, repatriiert würde. Vor allem aus ethnologischen Gründen ist es zunächst einmal wichtig zu erkennen, dass diese Objekte eine Sinnkrise durchlaufen. Zu behaupten, dass sie ein universelles Erbe darstellen, ist eine Verkürzung und eine intellektuelle Täuschung. Die „mächtigsten“ oder symbolisch aufgeladenen Objekte werden von den dortigen evangelikalen Kirchen als „Teufelszeug“ betrachtet. Religiöse Menschen unterschiedlichster Prägung sehen die öffentliche Zurschaustellung dieser Kulturgüter nicht gern. Diese haben zwar ihre ursprüngliche Bedeutung verändert, seit sie Kongo verlassen haben, sind aber im Kontext der kulturellen Globalisierung immer noch problematisch.
All diese Brüche zeigen das Ausmaß der epistemologischen Arbeit, die sich mit der Rückkehr der kulturellen Artefakte eröffnen würde. Im Kongo wollen viele Menschen vom kolonialen Paradigma der „Stämme“ oder ethnischen Gruppen wegkommen. Das Land ist so riesig und vielfältig. Die kongolesische Identität ist sehr komplex, reich an einer Diaspora, die mehr und mehr die Entwicklung der Gesellschaft stark beeinflusst. Das neue Nationalmuseum kann daher nur ein blasses Spiegelbild, eine Karikatur des Kongo von gestern, heute und morgen sein.
In den westlichen Ländern ähneln die Museen den Vergnügungsparks. War es notwendig, dieses Modell hierher zu importieren?
Das MNRDC (Nationalmuseum der Demokratischen Republik Kongo) ist in erster Linie ein neues prestigeträchtiges Gebäude, ein architektonisches Zeichen in der Stadt Kinshasa, ungeachtet dessen, was es tatsächlich enthält (nur 400 Werke werden der Öffentlichkeit präsentiert unter den Zehntausenden von Stücken, die vom Institut der Nationalmuseen aufbewahrt werden (45.000, von denen 12.000 in die Depots des neuen Museums überführt wurden), ungeachtet der wissenschaftlichen Ausrichtung des Museums. Das ist vor allem ein Symbol. Für den Moment scheint es zu reichen, zu sagen, dass es endlich ein Nationalmuseum gibt, das diesen Namen verdient: Punkt. Aber wir dürfen nicht unfair gegenüber einer im Entstehen begriffenen Institution sein, die sich in einem besonders unberechenbaren historischen Kontext erfinden muss.
Pädagogik der Kunst in Afrika
Mit welchen Themen (und mit welchem Material) beschäftigen Sie sich derzeit? Welche konkreten Projekte verfolgen Sie?
Meine künstlerische Arbeit nimmt seit Jahren mehrere voneinander untrennbare Ausdrucksweisen an. Ich arbeite als unabhängiger Künstler und Kurator und unterrichte an zwei Kunsthochschulen in Belgien. Meine theoretische Forschung betreibe ich davon unabhängig, als Kunsthistoriker an der Schnittstelle von postkolonialer Theorie und visueller Kultur. Ich versuche, die Möglichkeit einer kritischen Wiederaneignung des Gedruckten, der Massenmedien und des visuellen Imaginären des Kongo durch eine breite Palette von Bildern zu hinterfragen. Dazu sammle, analysiere und schlachte ich koloniale und postkoloniale Bilder aus. Ich habe festgestellt, dass einige der vergessenen Bilder und Archive außerhalb ihres früheren Kontexts ihres ursprünglichen Zwecks beraubt sind; sie werden autark, weil sie kein Teil mehr eines früheren Sinngefüges sein können. Derzeit interessiere ich mich für die Pädagogik der Kunst in Afrika, aus der Perspektive kollektiver und gemeinschaftlicher Schaffenspraktiken. Ich möchte in meiner Heimatstadt Kinshasa ein neues multidisziplinäres und experimentelles Programm für Kunsthochschulen initiieren oder an der Ausarbeitung mitwirken.
2017 waren Sie der künstlerische Leiter der fünften Lubumbashi Biennale. Welche Erfahrungen haben Sie dort gemacht?
In ihren ersten drei Ausgaben konzentrierte sich die Lubumbashi Biennale, Rencontres de Lubumbashi, auf die Fotografie. Sie dauerte nur ein paar Tage, aber wir haben sie 2015 zu einer multidisziplinären Biennale weiterentwickelt und ihre Dauer auf einen Monat verlängert. Das Motto lautete, die herausragenden Künstler und Künstlerinnen des Kongo zu präsentieren und dem kongolesischen Publikum das Beste der internationalen zeitgenössischen Kunst zu zeigen. Die Idee war es, nicht die westlichen Biennalen zu imitieren. Diese Treffen sollten eine Biennale fürs breite Publikum sein, eine offene Veranstaltung, die der lokalen Bevölkerung gewidmet ist und nicht indirekt mit der westlichen Agenda verbunden ist.
Bei der zweiten Biennale 2017 lag der Fokus auf dem jungen kongolesischen Schaffen und darauf, Künstler und Künstlerinnen sichtbar zu machen. Die Organisation einer solchen Veranstaltung in der Demokratischen Republik Kongo ist immer eine Herausforderung. Wegen der sehr kurzfristigen Entwicklungen, der allgemeinen Unsicherheit. Man muss sich immer schnell anpassen, vermeiden, dass man nur aufs Negative achtet, man muss versuchen, mit den Leuten Lösungen zu finden, anstatt sich über Missstände zu beschweren.
Ist es noch zeitgemäß, über afrikanische Kunst zu sprechen?
Dies ist eine Frage, auf die mehr als eine Person bisher versucht hat, zu antworten. Afrika ist viel zu vielfältig, um das Bild einer homogenen Kunst abzugeben. Ich bin immer wieder überrascht von dem Bild, das manche Ausstellungsmacher von Künstlern und Künstlerinnen des afrikanischen Kontinents zu vermitteln versuchen. Viele Kuratoren bedienen sich vorgetäuschter Themen, entweder um ihren eigenen Geschmack zu transportieren oder um die Kulturindustrie mit leicht bekömmlichen Formaten zu füttern. In einer so zusammengesetzten Kulturlandschaft ist die Ausstellung der Raum, um Ideologien herauszufordern, die Werturteile und ethnozentrische Klassifizierungen produzieren. Persönlich bin ich für Kunst ohne Identität. Die Ausstellungen, die ich organisiert habe, auch wenn sie überwiegend mit Künstlern und Künstlerinnen aus Afrika besetzt waren, haben nie den Anspruch erhoben, eine Einheit zu demonstrieren, die auf einer kontinentalen Identität beruht. Als de-lokalisiertes Subjekt interessieren mich die Kunst und vor allem die Künstler in ihrer Einzigartigkeit.
Welche Rolle spielt der Panafrikanismus im Bewusstsein von Künstlern und Künstlerinnen in Afrika und in der Diaspora?
Der Panafrikanismus bleibt ein wesentlicher Bezugspunkt in der neoliberalen Finsternis, er ist ein Erbe, auf das sich viele Menschen beziehen, um ihre Kämpfe heute zu stärken. Auf der anderen Seite nehmen viele Künstler und Künstlerinnen ihre Hybridität an und setzen sich kritisch mit dieser Philosophie auseinander, die aus ihrer Sicht der Vergangenheit angehört und einen Teil der Heuchelei beinhaltet. Heute versucht jeder, sich von allen möglichen Zuweisungen zu befreien, auch von Gewissheiten über die Identität.
Ist der Begriff der Identität also obsolet?
Der Begriff Identität ist eine Falle, wenn er im Sinne von Einzigartigkeit oder Authentizität gedeutet wird. Gesellschaften und Kulturen sind Prozesse der kontinuierlichen Transformation. Sie können nur das Ergebnis von „Mischungen“ sein, sie können nur Hybride sein. Ohne Wandlungsfähigkeit, ohne Synkretismus kann es keine Identität geben. Dies zu sagen ist eine Binsenweisheit. Doch trotz der Tatsache, dass wir in einer Welt der Vernetzungen leben, ist der Standpunkt, von dem aus man spricht, von größter Bedeutung. Ich fühle, dass ich einen kongolesischen Körper bewohne, meine physische Erscheinung bleibt die Markierung für mein Anderssein in einer globalisierten Welt. Seinerzeit hatte W.E.B. Du Bois diesen Eindruck, sich immer „durch die Augen der anderen betrachten zu müssen“. Was ist das Maß dessen, was mir nahe ist und was weit weg ist? Zwischen einer Beziehung und einem Nachbarn. Welche Verbindungen bestehen zu den Orten und Territorien, die ich mit meiner individuellen oder kollektiven Identität erlebe? Das Fehlen einer Identität erzeugt Panik und Chaos. Die Globalisierung schafft neue segregierte Identitäten, die Solidarität verhindern. Der Philosoph Paulin Hountondji sprach davon, „aus der kolonialen Bibliothek auszusteigen“ und die koloniale Fiktion zu dekonstruieren. Édouard Glissant ermutigte uns, eine Identitätsbeziehung aufzubauen, instabil, beweglich, kreativ, zerbrechlich, an der Kreuzung des Selbst und des Anderen.
Das hier leicht gekürzte Interview entstand im Rahmen des Projektes „Africa past & presence“ (passage-wilss.de/africa_past_present). Dort findet sich auch die französische Originalfassung.
Letzte Änderung: 29.08.2021 | Erstellt am: 29.08.2021
Biografie
Der Kunsthistoriker, bildende Künstler, unabhängige Wissenschaftler und Kurator Toma Muteba Luntumbue lehrt an der Ecole de Recherche Graphique (ERG) und an der Ecole Nationale Supérieure des Arts Visuels de La Cambre, in Brüssel, Belgien. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Ausstellung kultureller Andersartigkeit in den Museen der ehemaligen europäischen Kolonialreiche, die Verfälschung von Erinnerung und die Ikonographie im postkolonialen Kontext sowie die territorialen Mutationen der Stadt in der Globalisierung.
Er war der künstlerische Leiter der 4. und 5. Lubumbashi Biennale, 2015 und 2017, in der DR Kongo. Als Kurator hat Toma Muteba Luntumbue die folgenden Ausstellungen organisiert: „Metasporas“, bei PointCulture, Brüssel, „Ligablo“ in der Königlichen Bibliothek von Belgien (2010-11), „Transfers“ im Palais des Beaux-Arts, Brüssel (2003), „Afrika schreit“ im Kulturzentrum De Markten, Brüssel (2003), „Table Manners“, Kapelle van groeningen, Kortrijk (2003), „Démarcations“ im Centre Wallonie Bruxelles, Paris (2005), „Exitcongomuseum“ im Königlichen Museum für Zentralafrika, Tervuren (2000-2001). Als Künstler zeigte Toma Muteba Luntumbue mehrere Einzelausstellungen, unter anderem in der Cité Miroir in Lüttich 2017, in La Chaufferie in Straßburg, im Aquarium in Valenciennes und in der Galerie Extraspazio in Rom.
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