Djinn und Apostasie

Djinn und Apostasie

Cinzia Sciuto im Gespräch mit Amed Sherwan
Der Autor Amed Sherwan | © Foto: Florian Chefai

Atheist zu sein, ohne mit dem Tod bedroht zu werden, war im christlichen Europa über Jahrhunderte undenkbar. Ex-Muslime aber leben noch heute mit dieser Bedrohung. Amed Sherwan hat zusammen mit Katrine Hoop darüber ein Buch geschrieben. Und Cinzia Sciuto hat den Autor zu seinen Erfahrungen befragt.

Amed Sherwan wurde im irakischen Kurdistan geboren. Seine Familie war streng muslimisch, und er selbst war in den ersten Jahren seines Lebens sehr religiös. Zwei Erfahrungen seiner Kindheit haben ihn unter anderen tief geprägt. Aufgrund seiner schlechten Noten in der Schule und seiner unbezähmbaren Haltung waren seine Eltern überzeugt, er sei von einem Djinn (einem bösen Geist) besessen. Sie haben ihn zu einem Imam gebracht, damit er einen Exorzismus bekommt. Der 11-jährige Amed wurde schwer geschlagen, damit er den Djinn aus seinem Körper herauslässt. Als seine Schreie den Imam davon überzeugten, dass der Djinn endlich heraus war, ließ er ihn gehen. „Alles sah aus wie immer, doch nichts war wie vorher“, erinnert sich Amed.

Nach einer Weile stolperte er zufällig über eine Facebook Seite, in der der Islam sehr kritisch dargestellt wurde. Und er konnte nicht mehr aufhören, die und andere ähnliche Seiten zu lesen. Er hat angefangen, sich selbst und alles, wovon er bis dann tief überzeugt war, in Frage zu stellen, bis er festgestellt hat, dass er nicht mehr an Gott glaubte. Eines Nachts kam die Polizei und holte ihn ab: Sein Vater hatte ihn wegen seiner Apostasie angezeigt. Amed wurde von der Polizei gefoltert und hat im Jugendgefängnis viele Tage verbracht. Er war 15. Das ist die zweite Erfahrung, die sein Leben und seine Zukunft bestimmt hat.

Amed lebt seit 2014 in Deutschland, und in seinem Buch „Kafir. Allah sei Dank bin ich Atheist“, das er mit seiner Freundin Katrine Hoop geschrieben hat und das gerade bei Nautilus erschienen ist, erzählt er sowohl sein Leben in Irakisch-Kurdistan als auch seine Erfahrung als atheistischer Flüchtling in Deutschland.

Cinzia Sciuto: Herr Sherwan, Sie definieren sich selbst als „Ex-Muslim“. Leute, die andere Religionen verlassen, bezeichnen sich selbst normalerweise nicht als „Ex-Christen“ oder „Ex-Hinduisten“ usw. Warum reicht es für Sie nicht, sich einfach als Atheist zu bezeichnen?

Amed Sherwan: Ich würde mich viel lieber als Atheist bezeichnen. Aber tatsächlich ist das Leben als Ex-Muslim nicht so wie z. B. für die meisten Ex-Christen. Ex-Muslime werden noch immer in vielen muslimischen Communities verfolgt. In einigen Ländern der Welt kann der Abfall vom Islam noch immer mit dem Tod bestraft werden. In anderen Ländern erlebt man Gewalt und Ausgrenzung. Im Irak wurde ich wie ein Verbrecher behandelt, nur weil ich nicht mehr glaube. Und für meine Eltern bin ich eine Schande. Und selbst hier in Deutschland werde ich immer wieder beschimpft und bedroht, weil ich ungläubig bin. Für mich beschreibt ‚Ex-Muslim’ genau dieses Problem. Aber sobald Kinder muslimischer Eltern offen ungläubig sein dürfen und es niemanden stört, dann nenne ich mich gerne nur Atheist.

Sie schreiben im Buch, Sie hassen das Wort „Ehre“. Warum?

Die meisten Leute, die ich kenne, können mir nicht mal genau sagen, was Ehre an sich ist. Sie wissen nur, wann ihre Ehre gekränkt ist. Und ihre Ehre ist dann gekränkt, wenn jemand anderes was falsch macht. Wenn die Schwester, Tochter oder Mutter ihm Schande macht. Oder wenn jemand die eigene Familie oder die Religion beleidigt, dann ist auch die Ehre gekränkt. Die gekränkte Ehre funktioniert wie eine Entschuldigung für alle möglichen Gewalttaten. Ich finde, man soll sich nicht damit beschäftigen, was andere alles falsch machen, sondern sich selbst vernünftig verhalten. Also wenn man über Ehre redet, dann als Anspruch an sich selbst.

Ein anderes Wort, das Sie nicht mögen, ist „Integration“. Was ist so schlimm daran? Was funktioniert und was funktioniert nicht an der Integrationspolitik Deutschlands?

Ich finde es nicht schlimm, wenn man sich integriert. Ich glaube, ich gelte selbst inzwischen als gut integriert. Ich spreche gut Deutsch, habe eine Wohnung, einen Job und ein Buch geschrieben. Aber ich hatte Glück. Wenn ich nicht die richtigen Leute getroffen hätte, hätte ich das alles nicht so gut geschafft, würde vermutlich Drogen verkaufen, wäre vielleicht obdachlos oder im Gefängnis. Und dann hätten Leute gesagt, dass ich mich nicht gut integriert habe. Mich stört, dass Erfolg als Integration und Misserfolg als fehlende Integration betrachtet wird. So, als ob alles Gute etwas ist, was man durch Integration in Deutschland geschafft hat – und so, als ob alle Probleme aus dem Herkunftsland mitgebracht sind, und so, als ob Integration nur von dem eigenen Einsatz abhängt. Aber das ist ja alles viel komplizierter. Es kommt einfach auch sehr darauf an, ob man Möglichkeiten bekommt.

Sie erzählen, dass viele Flüchtlinge sich nicht trauen, den Behörden zu sagen, dass sie Atheisten oder Homosexuelle sind – obwohl das gute Gründe für das Asylrecht wären. Grund dafür ist, dass sie Angst haben, dass der Dolmetscher ein strenger Muslim ist und ihn oder sie den anderen Muslimen in der Einrichtung verraten könnte. Was bedeutet es, als atheistischer oder homosexueller Flüchtling hierher anzukommen?

Gerade Homosexuelle haben vor ihrer Flucht oft sehr viel Gewalt erlebt und hoffen hier einfach darauf, dass sie nicht auffallen. Sie haben Angst, dass die Leute in der Unterkunft es entdecken und ihnen auflauern könnten. Und sie wissen nicht, ob sie den Dolmetschern vertrauen können. Es ist mit sehr viel Scham verbunden. Auch für Atheisten ist das Thema manchmal sehr traumatisch. Wer offen damit umgeht, wird schnell sehr einsam und erlebt viel Ausgrenzung. Und ich habe erlebt, dass viele Deutsche gar nicht verstehen oder glauben wollen, dass es so große Probleme bereiten kann.

Durch Ihr Buch lernen wir nicht nur Ihre eigene Erfahrung kennen, sondern auch die der vielen anderen Flüchtlinge, die Sie getroffen haben. Und wir lernen: Viele Geschichten haben etwas Gemeinsames, aber jede Geschichte ist einzigartig. Welche von diesen hat Sie besonders beeindruckt?

Oh, das ist sehr schwer zu sagen. Ich habe jemanden getroffen, der Spuren sehr schwerer Misshandlungen am Körper hatte. Die Bilder und Geschichten haben mich lange verfolgt. Mich beeindruckt immer, wenn Menschen, die so schreckliche Sachen erlebt haben, nicht voller Hass, sondern freundlich und friedvoll sind.

Sie behaupten an vielen Stellen Ihres Buches, dass Sie sich freuen, in einem Land zu leben, wo die Meinungsfreiheit herrscht. Aber in Deutschland gibt es viele Islamkritiker, die wegen der Morddrohungen der Fundamentalisten unter Polizeischutz leben müssen, und Sie selbst haben Drohungen erlebt, z. B., als Sie in einer von Flüchtlingen herausgegebenen Zeitung Kritik geäußert haben oder als Sie Ihre Solidarität mit der LGBT-Bewegung ausgedrückt haben. Ist die Meinungsfreiheit in Deutschland in Gefahr?

Das kommt drauf an, wie man Meinungsfreiheit versteht. Ich komme aus einem Land, wo die Polizei einen verprügelt, wenn man die falsche Meinung hat. Hier wird man von der Polizei geschützt, selbst wenn man gerade gegen den Staat demonstriert. Meinungsfreiheit ist für mich, dass der Staat sich dafür einsetzt, dass man seine Meinung sagen darf. Polizeischutz für Islamkritiker ist für mich ein Ausdruck des Rechts auf Meinungsfreiheit. Natürlich wäre es schön, wenn man das nicht bräuchte. Ich finde es furchtbar, wenn Leute Andersdenkende mit Gewalt angreifen. Aber Meinungsfreiheit schützt nicht davor, dass es Leute gibt, denen die Meinung nicht gefällt.

Oft werden Islamkritiker als islamophob und respektlos betrachtet – und das nicht nur von einigen Muslimen, sondern auch von einigen im linken und grünen Spektrum. Die kürzliche Ernennung von Güner Balcı als Integrationsbeauftragte von Neukölln hat Kritik von einigen Exponenten der Linken und der Grünen gelöst. Ist der Vorwurf von Islamophobie begründet? Und was heißt für Sie, jemanden zu respektieren?

Zu Religionsfreiheit gehört für mich zwar, dass Leute ihre Religion ausleben dürfen, solange sie keinem damit schaden. Aber es bedeutet nicht, dass man Religionen nicht kritisieren darf. Ich finde es sogar irgendwie diskriminierend, wenn man Muslime immer ganz vorsichtig anfasst und aufpasst, dass man ihre Religion nicht beleidigt. Sie haben ja keinen Sonderstatus und müssen Kritik und auch Humor aushalten. Respekt vor den Menschen bedeutet nicht, dass ich deren Religion gut finden muss oder nicht darüber lachen darf. Gleichzeitig ist es schwer, weil es so viel Hass gegen Muslime gibt und so viele Leute, die jede Kritik am Islam für ihre rassistische Propaganda nutzen. Es ist fast unmöglich, sachlich darüber zu sprechen, weil alles entweder für islamistische oder rassistische Propaganda ausgeschlachtet wird. Ich bin selbst schon als islamophob und Islam-Appeaser beschimpft worden, nur weil ich versuche, die Sache irgendwie differenziert zu sehen.

Oft wird behauptet, dass viele Sitten nicht mit dem Islam, sondern mit den archaischen gesellschaftlichen Strukturen zu tun haben. Welche Rolle spielt dabei die Religion? Dass ihre Eltern z. B. überzeugt waren, dass Sie als Kind von einem Djinn besessen waren, hatte nur mit archaischen Strukturen oder auch mit der Religion zu tun?

Schwer zu sagen. Natürlich hat das mit Glauben zu tun. Wenn meine Mutter nicht an Djinns geglaubt hätte, wäre es nicht passiert. Meine Mutter glaubt sehr buchstäblich und glaubt religiösen Autoritäten. Sie glaubt ja auch wirklich, dass ich in die Hölle komme, weil ich ungläubig bin. Aber das hat natürlich damit zu tun, dass sie den ganzen Tag nur Prediger im Fernsehen sieht, statt normaler Nachrichten. Ihr fehlt der Zugang zu Wissenschaft. Wenn ein Imam ihr etwas sagt, dann ist das so. Und wenn es mit Schmerzen verbunden ist, dann muss man da durch. Glaube ist gefährlich, wenn er als Wahrheit gilt und echte Macht hat. Und in archaischen Strukturen kriegt Glaube mehr Macht.

Sie sind als strenger Muslim aufgewachsen, wurden mit einer Pädagogik der Angst großgezogen, wie der muslimische Theologe Mouhanad Khorchide sie nennt. Diese Pädagogik der Angst ist auch der Grund dafür, dass viele Mädchen „freiwillig“ das Kopftuch tragen. Khorchide schreibt: »Was ist daran freiwillig, wenn dem jungen Mädchen gesagt wird: ›Gott liebt nur die Mädchen, die Kopftuch tragen, und jetzt entscheide du, ob du willst, dass Gott dich liebt oder nicht‹, ›Mädchen, die kein Kopftuch tragen, wird Gott ihre Haare in der Hölle verbrennen, und nun entscheide selbst, ob du ein Kopftuch tragen willst‹, ›ein kopftuchtragendes Mädchen ist viel anständiger als eines ohne Kopftuch, also entscheide dich‹ usw.« Terre des Femmes fordert ein Verbot des Kopftuches für Kinder in der Schule. Wie sehen Sie diesen Vorschlag?

Ich bin zwar grundsätzlich dafür, dass jedes Mädchen sich so anziehen darf, wie sie will. Aber ein Kopftuch ist nicht einfach ein Kleidungsstück, es steht für eine frauenfeindliche Sexualmoral, wo die Frau schamhaft sein muss. Die Frau soll sich verhüllen vor dem Mann, der seinen Sexualdrang sonst nicht steuern kann. Ich finde das ganz furchtbar. Aber ich weiß, dass viele Frauen ihr Kopftuch aus ganz anderen Gründen tragen. Und natürlich darf jede Frau sich für ein Kopftuch entscheiden. Aber dazu braucht sie eine echte Entscheidungsfreiheit. Ich weiß aus Erfahrung, wie schwer es als Kind streng religiöser Eltern ist, sich frei zu entscheiden. Der Druck ist unfassbar. Und nicht nur durch die Eltern. Auch Mitschülerinnen und Mitschüler üben oft starken Zwang aus. Ein Kopftuchverbot in Kindergärten und Schulen bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres gibt Töchtern muslimischer Eltern aus meiner Sicht einen dringend notwendigen Schutz- und Freiraum, der ihr zu einer selbstbestimmten Entscheidung helfen kann.

Kürzlich hat das Bundesarbeitsgericht in Erfurt den Entschädigungsanspruch einer Lehrerin bestätigt, die wegen ihres Kopftuchs aufgrund des Berliner Neutralitätgesetzes abgelehnt worden war. Was denken Sie über das Thema religiöse Symbole im Öffentlichen Dienst?

Ich finde, dass religiöse Symbole nichts im öffentlichen Dienst zu suchen haben. Ich bin wirklich dafür, dass Leute in ihrer Freizeit tragen können, was sie wollen. Ich will ja schließlich auch mit einem Kafir- oder Allah is Gay-T-Shirt rumlaufen dürfen. Ich erwarte aber nicht, dass ich solche Shirts tragen darf, wenn ich eine öffentliche Funktion ausübe. Das Kopftuch ist nicht einfach ein harmloses muslimisches Symbol. Das Kopftuch steht für eine ganz bestimmte politische Ausrichtung des Islam, der aktuell überall auf der Welt mehr an Einfluss gewinnt. Es ist eine menschenverachtende, diskriminierende Ausrichtung, die auch in Deutschland in vielen Moscheen und über Islamverbände verbreitet wird und für sich beansprucht, für alle zu sprechen. Es gibt sehr viele Menschen, die darunter leiden. Daher finde ich es falsch, wenn das in Schulen und Kindergärten erlaubt wird.

Sie behaupten, dass Islamisten und Rechtsextremisten viel Gemeinsames haben. Was meinen Sie damit?

Naja, sie teilen ziemlich viele Werte, sie stellen sich gegen „Genderwahn”, sie unterstützen klassische Geschlechterrollen, sie feiern starke Männlichkeit, sie sind sich darin einig, dass der Islam und die westlichen Werte nicht zusammenpassen, sie freuen sich über Konflikte zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, und sie schrecken nicht davor zurück, ihre Feinde zu töten. Und vor allen Dingen denken sie, dass ihre Gruppe allen anderen überlegen ist.

Sie sind heute ein Aktivist für eine offene und säkulare Gesellschaft und plädieren für eine humanistische Haltung, die die Menschen als Menschen betrachtet und nicht als Vertreter irgendeiner Gruppierung. Heute erleben wir leider eine Rückkehr der identitären Politik, sowohl in der rechtsradikalen als auch in der Linksmultikulti-Version. Sehen Sie zwischen den beiden Platz für eine offene, humanistische, säkulare Perspektive?

Ja, ich hoffe darauf. Ich kann verstehen, wenn Gruppen, die unterdrückt oder ausgegrenzt sind oder sich so fühlen, für ihre Rechte einstehen und als Gruppe zusammenstehen. Aber irgendwie nervt es mich auch. Ich habe überhaupt keine Lust, in irgendeine Schublade gesteckt zu werden. Irgendwann ist es hoffentlich egal, wie ich aussehe, woran ich glaube und wen ich liebe. Da wären wir dann eigentlich wieder bei der ersten Frage. Solange Ex-Muslime so große Probleme erleben, ergibt diese Gruppenbezeichnung für mich Sinn, aber ich wünsche mir, dass es irgendwann völlig egal ist.

Die Fragen stellte Cinzia Sciuto.

Letzte Änderung: 13.08.2021

Amed Sherwan, geboren 1998, ist der jüngste Mensch, der in Irakisch-Kurdistan wegen Gotteslästerung inhaftiert und gefoltert worden ist. Er lebt seit 2014 in Flensburg und ist heute Blogger und Aktivist.

Amed Sherwan / Katrine Hoop KAFIR. Allah sei Dank bin ich Atheist | © Foto: Florian Chefai

Amed Sherwan / Katrine Hoop KAFIR. Allah sei Dank bin ich Atheist

Broschur, 240 Seiten
ISBN: 978-3-96054-238-4
Nautilus Verlag, Hamburg, 2020

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