Akzeptanz ist mehr als Toleranz

Akzeptanz ist mehr als Toleranz

Faust-Gespräch mit Tamar Jacoby
Tamar Jacoby

Tamar Jacoby, Präsidentin und Geschäftsführerin von Immigration Works USA, war 2010 als Stipendiatin der American Academy Berlin zu einem dreimonatigen Forschungsaufenthalt in Deutschland. Die renommierte US-Journalistin und Wissenschaftlerin hat bereits zahlreiche Grundlagentexte zur Immigrationspolitik der USA publiziert und arbeitete als Journalistin für The New York Review of Books, Newsweek und die New York Times. Im Rahmen des transatlantischen Austauschprogramms zwischen Wissenschaftlern, Künstlern, Publizisten und Politikern sollte sie nun ihr Expertenwissen in Deutschland nutzen. Ihr Aufenthalt erhielt besondere Brisanz, da in diesen Monaten die von Thilo Sarrazin angestoßene Debatte um die Einwanderungspolitik die Schlagzeilen der Medien beherrschte. Im Faust-Gespräch mit Andrea Pollmeier geht es jedoch nicht um emotionale Momentaufnahmen, sondern um die Beschreibung des Status quo deutscher Einwanderungspolitik.

Tamar Jacoby, Sie haben sich als Migrationsexpertin für drei Monate auf den Weg nach Deutschland gemacht, warum?

Die American Academy hat mich nach Deutschland eingeladen, um über Migrationsfragen zu forschen, Vorlesungen zu halten und Gespräche mit Entscheidungsträgern zu führen. Als ich ankam, war die Sarrazin-Debatte gerade auf ihrem Höhepunkt. Für mich ist es interessant zu sehen, wie geht man dieses Thema an?

Für meine eigene Forschungsarbeit habe ich gezielt einen Ort gesucht, an dem es zwischen dem Bedarf an ausländischen Arbeitskräften und der Angst vor Fremdheit in der deutschen Bevölkerung zu einem Konflikt kommt. Deutschland und alle anderen entwickelten Länder der Welt brauchen heute hochqualifizierte Arbeitskräfte. Sie sind in unserem Jahrhundert das Äquivalent zu Kolonien mit Reichtum an Kohle, Eisen und anderen Mineralien: jedes Land benötigt sie, um stark zu sein, jedes Land hat aber auch ein wenig – oder teilweise sogar sehr große – Angst vor Verschiedenheit. Mir geht es um diesen Konflikt. Wie geht Deutschland in dieser Situation mit den aus dem Ausland kommenden, hochqualifizierten Arbeitskräften um? Wo werden sie willkommen geheißen, wo bestehen noch Probleme, sie zu empfangen und ihnen Anreize zu geben? Bietet Deutschland ihnen die Chance, Karriere zu machen? Wie sorgt Deutschland für ihre Frauen und Kinder? Dieser interessante Mikrokosmos steht exemplarisch für die Frage, welch große Herausforderung es noch für Deutschland ist, Einwanderungsland zu werden.

Sie haben fünf junge Chinesen, die in der Finanzindustrie in Frankfurt arbeiten, interviewt. Was haben diese jungen, hochqualifizierten Personen Ihnen geantwortet?

Sie sind die aufsteigenden, schlauen Köpfe in der Finanzindustrie und denken, dass Deutschland gerade erst beginnt, sich an Menschen zu gewöhnen, die anders sind. Aber das macht diesen jungen Chinesen nicht wirklich etwas aus, sie gehen ihrer Arbeit nach, bauen ihr Leben auf und erleben Deutschland als einen Ort, an dem man ein angenehmes Leben führen kann. Mir scheint jedoch, dass sie sich nicht von Deutschen verstanden fühlen. Sie haben wenig Kontakt mit Deutschen, aber anstatt sich zu beschweren, gehen sie ihren alltäglichen Aufgaben nach und erleben das nicht als Problem. Sie stellen zwar fest, dass sie von Deutschen nicht nach Hause eingeladen werden und relativ getrennt von ihnen leben, akzeptieren das jedoch.

Können diese chinesischen Arbeitskräfte Deutsch sprechen?

Ja und sie sind sehr erfolgreich und verdienen viel Geld in der Finanzindustrie. Sie sind sehr gebildet, haben einen PhD oder Master und könnten überall auf der Welt leben. Jetzt sind sie jedoch hier in Deutschland und erzielen hohe Profite, ohne dass sie wirklich ins deutsche Leben integriert wären. Interessant finde ich, dass sie sich nicht beschweren; andere Gruppen würden sagen: „Dieses Land ist nicht einladend genug, diese Getrenntheit ist ein Problem“, sie aber sagen: „Wir führen hier zusammen mit unserer Familie ein gutes Leben, haben eine gute Ausbildung für unsere Kinder, das ist alles, was wir brauchen“. In gewisser Hinsicht sind sie sehr deutsch und haben ähnliche Prioritäten. Sie schätzen z. B. soziale Sicherheit, die Menge an Urlaubszeit, freie Wochenenden und Arbeitszeiten, die es erlauben, Zeit mit der Familie zu verbringen. In China oder in den Vereinigten Staaten muss man viel härter arbeiten. Das heißt, sie schätzen die deutsche Lebensart und haben in mancherlei Hinsicht deutsche Sichtweisen angenommen.

Frankfurt ist einer der internationalsten Orte in Deutschland. Haben sie auch mit weniger privilegierten Gesellschaftsschichten Kontakt aufgenommen?

Ich habe mich nicht so stark mit ihnen beschäftigt, da ich mich wegen meiner begrenzten Zeit einschränken musste. Menschen, die Angst vor Migranten haben, werden dies vor allem gegenüber Personen empfinden, die einer wirtschaftlich schwächeren Gruppe angehören. Ich habe mich darum dazu entschieden, die wirtschaftlich erfolgreichen Personen in den Blick zu nehmen. Es gibt keinen entschuldbaren Grund, vor dieser Gruppe Angst zu haben. Die Behauptung, Angst sei ein Problem zwischen Bevölkerungsschichten oder Teil eines generellen Klassenvorurteils, trifft in diesem Zusammenhang nicht zu, denn hier geht es eben nicht mehr um einen „Klassenkonflikt“. Ich nehme bei meinen Untersuchungen das Klassen-Argument aus der Diskussion heraus.

Im Grunde ist mir noch nicht klar, ob Deutsche generelle Vorurteile haben oder ob sie im Vergleich zu uns in den USA nur eine andere Einstellung gegenüber Verschiedenheit und Staatsangehörigkeit besitzen. Indem ich die soziale Rangordnung ausschließe, kann ich diese unterschiedlichen Einstellungen klarer erkennen.

Das Buch, das Thilo Sarrazin veröffentlich hat, ist meiner Meinung nach eigentlich nicht wichtig. Trotzdem glaube ich, dass die Debatte, die anschließend stattgefunden hat, für Deutschland gut ist. Sarrazin hat zwar eine unschöne Seite der Diskussion aufgezeigt, zugleich hat er aber viele Menschen dazu gebracht, über dieses Thema nachzudenken. Seit zehn Jahren komme ich nun nach Deutschland, um über Migration zu sprechen. Bei diesem Besuch hat mich die junge Generation überrascht – nicht nur die der Chinesen, sondern die der zweiten oder dritten Generation. Diese Nachfolgegeneration ist hier aufgewachsen und sehr erfolgreich. Sie ist sehr gebildet, vielversprechend, jung und gerade dabei, sich in der Szene zu entfalten, sei es an Universitäten oder in der Politik. Vor zehn Jahren, sogar noch vor fünf Jahren gab, es weit und breit gelegentlich eine Person in diesem oder jenem Gebiet. Heute gibt es dutzende junger Menschen, eine gesamte neue und aufregende Generation mit Migrationshintergrund, junge Menschen, die jetzt schon das Land im Sturm erobern. Ich denke, das ist vielversprechend, spannend und wird sich in der Zukunft behaupten. Selbst, wenn sie Hindernissen begegnen, sind sie, denke ich, schon weit genug, um erfolgreich zu sein. Sie haben eine aufregende Dynamik, die Sarrazin nicht aufhalten kann und wenn sie ihren Erfolg zur Schau stellen, wird Deutschland es begreifen. Ich glaube Deutschland wird diesen Erfolg respektieren und die Deutschen werden diese Menschen und das, was sie geleistet haben, respektieren.

Bildung wird als eines der wichtigsten Instrumente der Integration betrachtet. Denken Sie, dass Bildung das größte zu lösende Problem in Deutschland ist?

Ich denke es ist ein großes, vielleicht sogar das Hauptproblem. Wenn ich die deutschen Erfahrungen mit den amerikanischen vergleiche, denke ich außerdem, dass die starke Regulierung des Arbeitsmarktes, vor allem für relativ ungebildete Migranten ein großes Problem ist. Das System an Qualifikationen ist sehr komplex und wie mir scheint in vielen Bereichen größer als nötig. In Amerika werden viele Menschen mit Migrationshintergrund erfolgreich, indem sie kleine Unternehmen in Fachbereichen aufbauen, die nicht viel Bildung erfordern. Menschen arbeiten sich also von der Küchenhilfe zum Besitzer eines Restaurants hoch; von jemandem, der ihnen die Fingernägel pflegt zum Besitzer eines Kosmetiksalons. Es gibt in den USA viele Aufsteiger in solchen Gewerben, in Deutschland kann jedoch selbst in diesen Bereichen fast niemand aufsteigen, weil dafür so viel Ausbildung vorausgesetzt wird. Ich meine nicht, dass wir Ärzte haben sollen, die nicht wissen, was zu tun ist, oder Ingenieure, die nicht wissen, wie man Brücken baut. In den Vereinigten Staaten braucht es jedoch lange nicht so viel Ausbildungszeit wie in Deutschlang, um viele dieser Berufe zu erlernen. Meiner Meinung nach ist das der Grund für das Nadelöhr. Ja, Bildung ist ein Problem, aber ich denke auch, dass die Starrheit des Arbeitsmarktes ein wichtiger Faktor ist, darum beschäftige ich mich mit diesem Thema ebenfalls.

Ist Sprachkompetenz für das erfolgreiche Ankommen in Deutschland wesentlich?

Sprachliche Kompetenz ist tatsächlich sehr wichtig. Menschen die die Sprache nicht lernen, sind immer außerhalb der Gesellschaft, deshalb ist es gut, den Fokus auf sprachliche Kompetenz zu setzen. Doch gilt es, zwei Aspekte zu beachten: einerseits müssen Erwartungen gestellt werden, andererseits muss den Menschen aber auch das Werkzeug gegeben werden, um diese Erwartungen zu erfüllen. Solange beides gemacht wird – und Deutsche reden zumindest schon über „fordern und fördern“ –, solange die Balance gehalten wird, denke ich, dass sprachliche Kompetenz etwas Gutes ist.

Denken sie, dass eine Gesellschaft eine kulturelle Richtlinie, eine „Leitkultur“ braucht?

Wenn Menschen darüber nachdenken, neigen sie dazu, sich eine „Entweder-oder-Entscheidung“ zwischen zwei sehr großen Extremen vorzustellen. Das eine Extrem in den Köpfen der Menschen ist komplette Fragmentierung: alle sind voneinander verschieden und es gibt keine gemeinsame nationale Einheit. Das andere Extrem ist, sich überhaupt keine Unterschiede vorzustellen; eine „Leitkultur“ würde dann also bedeuten: es gibt nichts Türkisches, nichts Chinesisches, nichts, was anders ist. Für jedes Einwanderungsland ist ein Mittelweg sinnvoll. Man kann als Einwanderer nicht wirklich erfolgreich sein, wenn man alle Unterschiede beibehält, man braucht schließlich auch ein Gefühl für das Land, in dem man lebt, man ist hier ja in Deutschland und nicht in Kanada oder in den Vereinigten Staaten. Aber man kann auch nicht ganz ohne Unterschiede leben, weil die Menschen sich dann ausgeschlossen, unterdrückt, wütend und entfremdet fühlen.

Die Frage ist also: wie sieht dieser Mittelweg aus? In den Vereinigten Staaten haben wir in der Vergangenheit natürlich viele Fehler gemacht, wir hatten unsere eigenen Sarrazins, wir hatten Sklaverei, wir trafen oft falsche Entscheidungen; aber in den Phasen, in denen wir einen guten Ansatz verfolgten, haben wir einen interessanten Mittelweg entwickelt. Zu Hause, in der Familie, in der Nachbarschaft und bei der Ausübung einer Religion durfte man nach seiner eigenen Art handeln, man konnte so verschieden sein wie man wollte: türkisch, italienisch, deutsch, jüdisch, ganz egal. Aber wenn man in das bürgerliche oder politische Leben kam oder am Arbeitsplatz war, war man gleichberechtigt. Welcher Gruppe man angehörte, war irrelevant. Wenn man zur Arbeit geht, sagt man nicht:„ Ich bin hier, um als deutscher Amerikaner zu arbeiten“, sondern: „Ich bin hier, um als John Smith zu arbeiten.“ Wenn man in der Politik aktiv ist, ist das etwas anders, aber auch hier ist man nicht als deutscher Amerikaner aktiv, sondern als Demokrat oder Republikaner. In Deutschland und generell in Europa erkennt der Staat Gruppen und Unterschiede in einer Weise an, die es, wie ich finde, schwerer macht, eine pluralistische Gesellschaft zu formen.

In den Vereinigten Staaten können Menschen religiösen und kulturellen Unterschieden im Privatleben Ausdruck verleihen, während der öffentliche Bereich neutral bleibt. Inwieweit ist das ihrer Meinung nach in Deutschland oder Europa anders? Können Sie Beispiele nennen?

Der deutsche Staat gibt religiösen Institutionen wie der Katholischen und Evangelischen Kirche finanzielle Unterstützung. In den Vereinigten Staaten kann man zu Hause ein türkischer Amerikaner sein, aber sobald man zur Arbeit geht, sagt niemand, man sei ein türkischer Amerikaner. Wenn man mit dem Staat interagiert, tut man das nicht als Muslim, sondern als Bürger. Ich denke dieser Unterschied zwischen dem bürgerlichen, öffentlichen und politischen Leben sowie dem privaten Leben ist sehr nützlich. Er ermöglicht es den Menschen, die Vorteile aus der Freiheit des Andersseins zu ziehen, aber gleichzeitig im bürgerlichen Leben ebenbürtig und vor dem Recht gleich zu sein.

Die Konsequenz hieße dann: kein Geld, weder für die katholische Kirche, noch für irgendeine sonstige religiöse Gruppe…

Das Individuum und nicht die Gruppe ist die Einheit, die für das öffentliche Leben wichtig ist. Aus diesem Grund haben Menschen so stark das Bedürfnis, sich auch als Gruppe zu behaupten. Latinos sind wichtig in der US-Politik. Es gibt Latino-Organisationen, die das politische Geschehen beeinflussen. Letztendlich aber kann man, wenn man möchte, in den USA als Latino erfolgreich sein, dies wäre hier, denke ich, schwieriger. Ich sage nicht, dass Amerika besser ist, oder alles richtig macht. Deutschland bietet manches an, was wir nicht haben, wie z. B. gute Englischkurse. Wir haben jedoch eine Tradition, in der man anders sein kann und trotzdem Teil unserer Familie ist. Ein wirklicher Teil der Familie, nicht nur eine tolerierte Gruppe, deren vorübergehenden Aufenthalt wir bei uns hinnehmen. Deutsche Amerikaner waren deutsche Amerikaner, nicht Deutsche, deren Anwesenheit wir dulden. Ein Grund, für diese Haltung, ist diese Art privater Öffentlichkeit. Es funktioniert nicht, nur Gast zu sein; als Gast werden sie sich nie wirklich wohl fühlen. Toleranz ist nicht genug, man muss es den Menschen ermöglichen, Teil der Familie zu werden. Diese jungen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, die ich hier jetzt aufwachsen sehe, scheinen mir inzwischen Teil der Familie zu sein. Vielleicht gibt dies niemand wirklich zu, aber diese Menschen, die die nächste Generation von Politikern, Akademikern und Fachmännern sein werden, sind Teil der Familie, es geht also nur noch darum diese Realität zu akzeptieren.

Übersetzung: Aïda Roumer

Letzte Änderung: 19.08.2021  |  Erstellt am: 19.08.2021

Tamar Jacoby wurde 1954 in New York City geboren. Nach ihrem Studium an der Yale University arbeitete sie als Redaktionsmitglied für The New York Review of Books. 1981-1987 war sie stellvertretende Redaktionsleiterin der op-ed-Seiten der New York Times und von 1987 bis 1989 senior writer von Newsweek. 1998 publizierte sie das Buch „Someone Else’s House: America’s Unfinished Struggle for Integration“, in dem sie die Geschichte der Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Rassen am Beispiel der drei amerikanischen Städte New York, Detroit und Atlanta beschreibt. Sie wirkt beratend im National Council on the Humanities mit und lehrt an Universitäten wie der New York University und Yale University. Im November 2010 war Tamar Jacoby im Rahmen der Vortragsreihe „Transatlantischer Mittwoch“ zu Gast im Holzhausenschlößchen in Frankfurt.

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Kommentare

Matthias Schulze-Böing schreibt
Eine abgewogene Position. Von daher sehr hilfreich. Was fehlt, ist eine vertiefte Befassung mit den historischen Hintergründen der Eigenheiten des deutschen Wirtschafts- und Sozialsystems sowie der deutschen Kultur, die ja doch meist stärker zusammenhängen als man denkt. Damit bekäme man einen besseren Blick auf die Wertschätzung von beruflicher Bildung, die Regulierung des Arbeitsmarktes, aber auch die Sitten und Lebensgewohnheiten. Einfach Deutschland und die USA zu vergleichen bringt da nicht viel, weil man dann nicht versteht, warum manche Dinge so anhaltend wirksam sind und immer wieder in veränderter Gestalt auftauchen. Deutschland hat eben historisch keine individualistische, sondern eine gruppenbezogene Kultur ausgebildet. Das Individuum für sich fühlt sich hier sehr schnell verloren. Auch deshalb die hier besonders große Sorge um den "Zusammenhalt" der Gesellschaft. Das alles hat aber nicht verhindert, dass Deutschland gemessen an der Bevölkerung eine wesentlich größere Zuwanderung aufweist als die USA. Irgendwie scheint es Deutschland doch gar nicht so schlecht hinzubekommen mit der Vielfalt.

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