Würde jenseits von Leistung – über das Recht, einfach zu sein

In einer Welt, in der Leistung als Währung gilt, wird bloßes Dasein zum stillen Widerstand. Besonders die jüngeren Generationen spüren den Druck, ständig performen zu müssen – genährt von sozialen Medien, gestaltet von älteren Generationen mit Profitinteresse. Mischa Piecuch, Initiator des Projekts @mehralsleistung, hinterfragt in diesem Gedankenstück ein System, das Produktivität über Präsenz stellt, und erinnert uns daran, dass Würde nicht verdient werden muss. Sie ist da. Immer.
Es gibt Tage, da stehe ich am Fenster und sehe nichts. Kein Ziel, kein Fortschritt, kein Ergebnis. Nur den Baum vor dem Haus, wie er unbeirrt wächst. Niemand verlangt von ihm, sich zu optimieren.
Wir leben in einer Welt, in der Leistung zum Taktgeber geworden ist. Selbst der Schlaf wird vermessen, jede Pause muss produktiv sein. Die Stille gilt als Schwäche. In Bewerbungen zählen Lücken mehr als Lebensgeschichten. Selbstzweifel werden zur Schuld, Müdigkeit zum Makel.
Aber was, wenn Würde dort beginnt, wo Leistung endet?
Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der „sei einfach du selbst“ in Instagram-Bios stand, aber nie gemeint war. In der man sein Leben kuratierte wie eine Ausstellung. Immer etwas zeigen. Immer etwas sein. Immer etwas leisten.
Doch Würde braucht kein Publikum. Sie ist kein Titel, kein Status, keine messbare Eigenschaft. Würde ist das leise Recht, zu existieren – auch dann, wenn man nichts vorzuweisen hat. Auch dann, wenn man fällt. Auch dann, wenn man schweigt.
Ich habe lange geglaubt, ich müsse mich rechtfertigen. Für mein Tempo. Für meine Unsicherheiten. Für meine Gedanken, die nicht in 280 Zeichen passen. Aber die eigentliche Zumutung ist nicht meine Unangepasstheit – es ist die Normalität, die keinen Raum lässt für das Einfache, das Nicht-Funktionale.
Wir brauchen einen anderen Begriff von Wert. Einen, der nicht auf Output beruht, sondern auf Beziehung. Auf Menschlichkeit. Auf Verletzlichkeit. Vielleicht ist das die radikalste Form politischer Handlung heute: zu sagen „Ich bin genug“, ohne es beweisen zu müssen.
Was wäre, wenn das Bildungsziel nicht „leistungsstark“ hieße, sondern „würdebewusst“? Wenn wir nicht fragen würden: „Was willst du mal werden?“, sondern: „Was brauchst du, um ganz zu sein?“ Wenn Erfolg nicht nur sichtbar wäre, sondern fühlbar – als innere Stimmigkeit, nicht als äußere Abgrenzung?
Würde ist kein Ideal. Sie ist ein Fundament. Und sie beginnt dort, wo wir einander nicht mehr messen. Sondern sehen.
Die Natur kennt keine Leistung – über das Maßlose und das Mögliche
Die Eiche vor dem Fenster hat keine Ziele. Sie wächst nicht schneller, weil es jemand verlangt. Sie vergleicht sich nicht mit der Buche neben ihr. Sie ist da – unermüdlich, unbeeindruckt, unverglichen.
Ich habe mich oft gefragt, wann der Mensch begann, sich wie eine Maschine zu betrachten. Wann das Leben zur Rechnung wurde. Wann wir anfingen, uns zu messen, statt uns zu spüren.
Leistung, sagt man, sei natürlich. Ein evolutionäres Prinzip. Doch wer genau hinsieht, erkennt das Gegenteil. In der Natur ist Kooperation verbreiteter als Konkurrenz. Wälder sind Netzwerke. Pilze tauschen Zucker gegen Nährstoffe. Tiere ruhen mehr, als sie jagen. Nur wir glauben, dass Wert nur im Mehr liegt.
Das Maßlose ist ein Symptom unserer Zeit. Immer mehr: Klicks, Output, Selbstoptimierung. Doch wer bestimmt, was „genug“ ist? Und wer profitiert davon, dass wir uns nie genug fühlen?
Ich habe gelernt, mich zu unterbrechen. Nicht aus Trägheit, sondern aus Trotz. Gegen ein System, das Produktivität über Präsenz stellt. Ich habe gelernt, langsamer zu werden. Weniger zu sagen. Leerer zu bleiben. Und in dieser Leere ist Platz für das, was nicht in Tabellen passt: Würde. Mitgefühl. Zeit.
Vielleicht ist das Politischste, was wir heute tun können, die Wachstumslogik in uns selbst zu unterbrechen. Uns nicht mehr zu beschleunigen. Sondern zu verbinden.
Die Natur kennt kein „Zielerreichungsgespräch“. Sie kennt Resonanz. Und Geduld. Und Verluste, die nicht versagen heißen.
Vielleicht ist das genug. Vielleicht ist das alles.
Letzte Änderung: 20.08.2025 | Erstellt am: 20.08.2025
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