Variationen über das Jammern im Zeitalter der Angst

Variationen über das Jammern im Zeitalter der Angst

Zum Gedenken: Ein Text von Matthias Zimmer († 2023)
Matthias Zimmer im Bundestag, 2019 | © Foto: Olaf Kosinsky (kosinsky.eu)    // Lizenz: CC BY-SA 3.0-de

Heute, am Geburtstag von Prof. Dr. Matthias Zimmer, der im Juli 2023 verstorben ist, gedenken wir ihm durch die Publikation eines bisher unveröffentlichten Textes aus dem Jahr 2014, der aktueller nicht sein könnte. Matthias Zimmer war ein kluger Denker, Autor und Freund. Man liest ja so oft vom Immergleichen in Abwandlungen. Hier traut jemand sich und dem Wort. Hier traut jemand dem Denken, dem der Großen, die vorausgegangen, dem eigenen, folgt ihm, kritisch und konsequent, was immer auch Genauigkeit mit einschließt. Die blinden Flecken der Gesellschaft als Menge von Einzelnen, als Phänomen und als philosophisch-soziologischer Begriff lassen sich einzeichnen wie auf einer Karte, wenngleich sie sich auch nicht abdecken lassen. Ebenso steht es mit der Angst, die jeden von uns und die Menschheit an sich umtreibt. Mit nichts ist leichter sein Spiel zu machen. ...

Variationen über das Jammern im Zeitalter der Angst

Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen: Eine der bekannteren Kantaten von Johann Sebastian Bach, am 22. April 1714 erstmals zur Aufführung gekommen. Angst und Not / Sind der Christen Tränenbrot / Die das Zeichen Jesu tragen, fährt die Kantate fort, um am Ende doch das Tröstliche zu wissen: Was Gott tut, das ist wohlgetan, durch alles Unheil, durch alle Trübsal hindurch: Drum lass ich ihn nur walten. Die Freiheit des Christen liegt in der Nachfolge Christi, die auch Trost stiftet. Leiden und Schmerzen haben einen Sinn, der sich in Gott erfüllt, auch für den Menschen. Für die Menschen im 18. Jahrhundert war dies Glaubenswirklichkeit, in der Kantate durch rhetorische Figuren verstärkt. Leiden hat einen Sinn. In Gott ist alles aufgehoben. Das war Sicherheit, die den Menschen frei machte. Jesus hatte den Menschen befreit. Von der Erbsünde, von der Schuld. Die Heutigen lächeln über die Naivität eines solchen Kinderglaubens, schließlich haben wir die Welt erschlossen, erklärt, erforscht. Wir sind Aufklärer, Herren über die Natur, gottlose Selbstgötter (Heinrich Heine).

Das Opfer: Tarkowskijs gleichnamiger Film spielt auf dem Höhepunkt der Angst vor dem nuklearen Holocaust. Der Schriftsteller Alexander feiert seinen 50. Geburtstag auf einer abgeschiedenen nordischen Insel. In die Feier hinein bricht die Kunde vom Atomkrieg. Alexander verspricht, aufzugeben, was ihm wichtig ist, wenn es wieder so wird, wie es war. Am nächsten Tag, als er erwacht und nicht mehr feststellen kann, ob er nur geträumt hat, zündet er sein Haus an. Er bringt ein Opfer. Das Opfer ist ein archaischer Ritus. Eine gestörte kosmologische Ordnung wird eingerenkt, Wohlwollen gegenüber menschlichen Plänen und Absichten erbeten. Opfer sind Zeichen der Demut, sind Gespräch mit dem Göttlichen, Entsühnung ebenso wie Reue. Im Opfer zeigt sich die Einheit von Mensch, Welt und Göttlichem. Es entzieht sich dem zweckrationalen Diskurs, dessen Signum die Versicherung ist.1 Das Skandalon des stellvertretenden Opfers ist unserer zweckrationalen Welt nicht mehr vermittelbar. Das macht die eigentliche Schwierigkeit des Christentums in der modernen Welt aus. Opfer setzt eine kosmologische Ordnung voraus, eine Balance des Natürlichen und des Metaphysischen. Ohne Metaphysik erfindet der Mensch säkulare Sicherungssysteme, um das Bedürfnis nach Kontinuität und Kontingenz befriedigen zu können, schwache Surrogate, die von Verlust künden. Die Leerstelle wird durch Alexanders Tat markiert. Aber dem zweifelnden Ich wird keine Antwort zuteil, der Himmel schweigt.

Der Zweifel: Was bleibt, wenn das Alte stürzt, wenn die Gewissheiten zerrinnen und Gott (oder die Götter) schweigen? Die Rückbesinnung auf sich selbst, in möglichst unangreifbarer Methode. René Descartes steht am Anfang dieses Denkens. Durch den radikalen Zweifel kann das Ich sich selbst als Urgrund aller Erkenntnis setzen. Neue Gewissheiten werden aus dem epistemologischen Subjektivismus abgeleitet. Der logische Aufbau der Welt bedurfte für Descartes noch der Existenz Gottes als Garant für die Wahrhaftigkeit, doch war es damit ein Gott der Philosophen. Die Nachfolger begnügten sich mit der Kenntnis der res extensa: Gewissheit gab es ausschließlich in der Beobachtung, der naturwissenschaftlichen Forschung, der Entdeckung der Gesetze der Natur. Der Mensch konstruierte sich seine Welt aus Freiheit. Die Möglichkeiten der Erkenntnis waren unbegrenzt, damit auch die Möglichkeiten der Freiheit. Alles war wohlgeordnet, sinnvoll und für menschliche Zwecke nutzbar.

Die Maschine: Die Schöpfung war rational konstruiert wie eine Maschine, beseelt nur der Mensch. Das beruhigende Wissen einer rationalen und damit logisch nachvollziehbaren Anordnung galt es auf den Staat zu übertragen, um die Leidenschaften zu zügeln. Damit das menschliche Leben nicht einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz (Thomas Hobbes) blieb, bedurfte es eines von Menschen geschaffenen sterblichen Gottes, des Leviathan, der als staatliche Organisation Sicherheit garantierte und Freiheit ermöglichte. Freilich um einen Preis: der Aufgabe der natürlichen Rechte. Die Maschine Leviathan produzierte Sicherheit und stellte den Rahmen für die Freiheit, more geometrico, ganz mathematisch, detachiert und ohne Anteilnahme.2 Erst dadurch konnte der Mensch wieder Träger von Rechten werden: durch die Fiktion eines Herrschafts- und Gesellschaftsvertrags und die Aufhebung des blutrünstigen Naturzustands. Das ist der bleibende Wesenskern moderner Staatlichkeit. Unter dem dünnen Firnis der Zivilisation lauert aber sprungbereit der Zustand, in dem der Mensch des Menschen Wolf ist.

Zeitalter der Angst: Die Grundbefindlichkeit der Angst (Martin Heidegger) hat sich in der Neuzeit gesteigert, potenziert: Durch den Wegfall der Halt gebenden Gewissheiten, durch die drei Beleidigungen des narzisstischen Selbstwertgefühls des Menschen 3, durch die Zunahme der Komplexität und der Geschwindigkeit, durch das Bewusstsein, in einer Gesellschaft zu leben, in der technisch induzierte Katastrophen den natürlichen in nichts nachstehen. Die Unsicherheit ist eine gemachte, sie spiegelt unsere technischen Potenziale ebenso wie den Mangel an gesellschaftlicher Naturbeherrschung. Moderne produziert Angst, radikalisiert sie: Dadurch wird das Bedürfnis nach Sicherheit zu einer Industrie, die alle Lebensbereiche durchsetzt. Durch die Medien wird die Angst potenziert und selbst aus entfernten Räumen gegenwärtig. Angst ist ungerichtet, diffus, allgegenwärtig, existenziell. Sie ist die Negation des planenden und vorausschauenden Geistes. Sie fürchtet das Einbrechen des Ereignisses, des plötzlich Anderen nach dem Versagen der Sicherungssysteme. Hier zeigt sich die Verwundbarkeit des Leviathan und seiner Schöpfer.4

Zeitalter der Sicherheit: Der Leviathan sollte den Rechtsfrieden erzwingen und damit Recht und Ordnung ermöglichen. Er war souverän, also keinen Beschränkungen unterworfen, und deswegen effektiv. Der souveräne Leviathan kann Sicherheit garantieren, weil er umfassend Kontrolle ausüben kann. Damit wird er allerdings potenziell zur Gefahr für die Sicherheit selbst, er wird zu ihrem inneren Feind. Das ist die Erfahrung totalitärer Regime. Gebändigt wird die Allmacht durch das demokratische Prinzip als Legitimationsgrund und das gewaltenteilige Prinzip als Beschränkungsregel. Dadurch reißen Löcher in der Effizienz des Leviathan auf, Reibungsverluste des Politischen. Die Rede vom Ausnahmezustand, der Suspendierung des Rechts zugunsten der Ordnung, bleibt auf jene institutionellen Arrangements begrenzt, die den Souverän durch das Recht begrenzt haben. Necessitas legem non habet ist der Ernstfall des Politischen in einem System effektiver Gewaltenteilung.

Minority Report: Der Yogi glaubt an die Wandlung der Welt von innen heraus, der Kommissar an die Möglichkeit zur Erzwingung äußerer Gleichförmigkeit.5 Sie stellen zwei Idealtypen dar, Markierungspositionen am jeweiligen Ende des politischen Spektrums. Philip Dicks berühmte Erzählung Minority Report, von Steven Spielberg 2002 kongenial in Szene gesetzt, lässt eine Steigerung des Leviathan erahnen, einen dritten Idealtypus neben dem Yogi und dem Kommissar: den Inquisitor, dem es auch um die Erzwingung der inneren Gleichförmigkeit geht. Inquisitorischer Vorgriff auf das noch nicht gedachte Denken kennzeichnet die Situation des Minority Report: die Bestrafung der Potenzialität. Vollständige Sicherheit durch vollständige Kontrolle bis in die Tiefe des Humanum: Hier vollendet sich die Apotheose des Leviathan in der vollständigen Entkernung menschlicher Freiheit.

Dazwischen: Der Naturzustand negiert die Sicherheit auf Kosten der unbegrenzten Freiheit. Der Minority Report hebt die Freiheit zugunsten grenzenloser Sicherheit auf. Die Ausgestaltung des Zwischenraumes vollzieht sich in der Feinabstimmung von Sicherheit und Freiheit. Der Zwischenraum ist Ort des Jammerns: über die Verluste der Freiheit zugunsten der Sicherheit, über Verluste der Sicherheit auf Kosten der Freiheit. Der Verlust an Freiheit wird beklagt, solange die Sicherheit gewährleistet ist. Der Preis der Sicherheit ist eine Einschränkung der Freiheit. Der Preis der Freiheit sind die Abstriche von umfassender Sicherheit. Das Jammern über einen Verlust an Freiheit ist am lautesten auf den Ebenen der Gefährdungsfreiheit. Die geistige Paralyse besteht in der seltsamen Unfähigkeit, den Zwischenraum ohne gesteigerte Erregungszustände zu vermessen. Die intellektuelle Paralyse besteht darin, das Apriori der Sicherheit nicht anerkennen zu können. Ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit; es wäre die Freiheit der Überlebenden. Doch Sicherheit ist ohne Freiheit durchaus zu haben. Das ist seit Thomas Hobbes immer noch richtig.

Fiat justitia, et pereat mundus: Die Ethik des Zwischenraumes, die eine Präferenzbildung ermöglicht, lässt sich deontologisch oder konsequentialistisch denken. Die deontologische Perspektive betont die Pflicht aus den Werten heraus: Richtig ist, was ich aus Einsicht der Vernunft heraus formuliere. Die Würde des Menschen ist unantastbar, immer, überall, absolut: Aufrechnungen sind nicht möglich. Das Szenario der tickenden Bombe konstituiert keinen Ausnahmezustand, der die Rechte suspendiert. Recht geht über Zweckrationalität. Schon der Anschein von Grenzverletzung wird anstößig. Das ist das schwierige Erbe der Aufklärung. Von den Folgen her eine Ethik zu konstruieren, erscheint ebenfalls nicht ohne Fallstricke. Es öffnet die Tür zum Ausnahmezustand. Folter wird zum legitimen Mittel der Informationsbeschaffung, wenn der Preis der Nichtbeschaffung hoch genug ist. Menschlichem Leben wird in der konsequentialistischen Ethik nicht nur ein Wert zugemessen, sondern ein Preis: Der Handel mit Menschenleben und das Aufwiegen kann beginnen. Die Ethik des Zwischenraumes ist in Reinform nicht zu haben; gesinnungsethische und verantwortungsethische Motive durchschlingen sich.

Zeitalter der Freiheit: Mit der Französischen Revolution beginnt das Zeitalter der bürgerlichen Freiheit – und der Unfreiheit. Unter dem Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit konstituiert sich die Nation als politisches Subjekt. Die sich daran anschließenden Gemetzel zunächst im Inneren wurden zum Roadkill der Freiheit. Noch heute gilt: Nicht jede siegreiche Freiheitsbewegung vermag Ordnung zu stiften. Nach wie vor fressen Revolutionen ihre Kinder. Die Zähmung der wilden Freiheit durch Kultur, Sitte, Institutionen, Bräuche erst macht sie genießbar, neutralisiert ihre ordnungssprengende Wirkung. Gegenüber der Zumutung der Französischen Revolution, der Mensch könne sich von Grund auf neu erfinden, hat der politische Konservativismus den richtigen Einwand von der sozialen und kulturellen Prägung des Menschen und der Gesellschaft als eines Generationenvertrages vorgetragen. Die Freiheit ist nicht ohne Grenzen; sie wird erst in der Einbettung sinnvoll. Die Vulgarität des Liberalismus besteht darin, dies bis heute nicht verstanden zu haben. Für ihn zählt nur der Einzelne in seiner Freiheit von Bindungen und Zwängen und seiner Handlungsfreiheit. Der Sozialismus hingegen sieht die Einbettung als staatlich zu erbringende (Fürsorge-)Leistung. Für ihn zählen nur Gesellschaft und Staat und sind dem Einzelnen und seiner Freiheit gedanklich vorgeordnet.

In Stahlgewittern: Sicherheit ennuyiert, unterdrückt den thymotischen Impuls. Kampf bedeutet Anerkennung und Bewährung.6 Abenteuer und Gefahr haben etwas Verlockendes, einen besonderen Geschmack von Freiheit: rauschhaft, dionysisch, überbordend. Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit, fühlten wir alle die Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen Gefahr. Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch.7 Freiheit vor der Sicherheit, die Gefahr wird durch als ästhetische Überhöhung gebannt oder ins Mythische verschoben: Der eruptive Ausbruch inszeniert sich als Abenteuer, als Wesensbestimmung, als Schicksalserfüllung und Opfer. Nach dem Rausch folgt aber die Ernüchterung: Helden altern nicht in biedermeierlicher Wohnzimmeridylle, sie erlöschen vor der Zeit.

Lichterketten: Dort, wo der eruptive Ausbruch in die Freiheit nicht (mehr) möglich ist, findet man Lichterketten als Symbol der jammernden Betroffenheitsexklamation über den Verlust von Freiheit. Vorratsdatenspeicherung, NSA: Die lautesten Beschwerden kommen von denjenigen, deren private wie politische Albernheiten der Aufzeichnung nicht lohnten, und müssten jeden Analysten vor Langeweile gemütskrank werden lassen. Mit dem Tremolo der Empörung wird über die Gefährdungen der Freiheit durch den überwachenden Staat diskutiert. Ebenso schnell wirft man ihm nach dem Eintreten des Ereignisses vor, es nicht verhindert zu haben. Sorge für meinen Schutz, aber ohne mich: Ein unpolitischer, gesinnungsethischer Eskapismus, der sich weigert, die wirklichen Gefährdungen der Freiheit ernst zu nehmen. Aber auch, gerade in Deutschland, eine immer wieder auferstehende Grundbefindlichkeit. Wiederbewaffnung, Notstandsgesetze, NATO-Doppelbeschluss, Volkszählung: Die Liste der falschen Alarme ließe sich bis in die jüngsten Zuckungen empörter Affekte gegen angebliche Gefährdungen der Freiheit durch Überwachung des elektronischen Datenverkehrs fortführen.

Infektionen: Der moderne Staat entstand auch im Kampf gegen die verheerende Wirkung von Epidemien durch die Aufstellung und Durchsetzung hygienischer Standards, Quarantäne und präventiver Maßnahmen. Die nicht sichtbare Bedrohung löst auch heute noch reflexartige Reaktionen aus, in der die Gefährdung durch die Fantasie übersteigert, inflationiert wird.8 Das Überspringen der metaphorischen Rede auf das Gemeinwesen ist eine der großen Gefahren für die Freiheit. Ist der politische Körper infiziert, ist der Weg zur Quarantäne und zum Lager nicht mehr weit; man denke etwa an die frühen Vorschläge aus Bayern zur Bekämpfung der Krankheit AIDS, die auf eine solche Absonderung abzielten. Guantanamo schließlich ist die Absonderung von der Menschheit als solches: Hier kann der Homo sacer studiert werden.9 Infektionen sind Brandbeschleuniger ihrer Abwehrreflexe, auch in Demokratien. Man muss nicht die widerwärtigen epidemiologischen Redewendungen totalitärer Politik heranziehen, mit denen die Vernichtung von Minderheiten begründet worden ist, um zu sehen, dass hier auch eine reale Gefahr in demokratischen Gesellschaften lauert.

Katastrophen: Paul Crutzen hat unser Zeitalter als Anthropozän bezeichnet. Der Mensch gestaltet die Natur, und auch seine Katastrophen sind technisch induziert. Sicherheit vor den Konsequenzen unserer technischen Welt suchen wir in neuer Technik; das Streben nach Sicherheit gebiert neue Unsicherheiten. Das ist die Tragik der Katastrophengesellschaft.10 Die Komplexität unserer technisch gestalteten Welt lässt sich nicht durch eine ebenso hohe Komplexität der Sicherungssysteme einfangen. Die alte Gleichung, die bei Descartes und Hobbes noch gegolten hatte, dass nämlich die Sicherheit der Erkenntnis die Sicherheit der Lebensführung garantieren könne, stimmt nicht; lächelnd entziehen sich die Artefakte unseren Kontrollbemühungen. Trotz aller Technikfolgenabschätzung gewinnen die Artefakte ein nicht mehr kontrollierbares Eigenleben, das menschliche Freiheit und Sicherheit einschränkt. Zudem führen hohe Komplexität und die Unübersichtlichkeit von Konsequenzen zu Risiken für demokratisch verfasste Politik. Autoritäre Lösungen drängen an die Oberfläche, wenn sich ökologische Fragen als Verteilungsfragen auch international zuspitzen.11 Somit liegen die Katastrophen und die zentralen Gefährdungen von Sicherheit und Freiheit in der Emanzipation unserer Artefakte von ihren von uns bestimmten Zielen. Da helfen auch keine Bürgerwehren oder Freiheitsdeklarationen: Am Gehäuse unserer technischen Hörigkeit können sowohl Sicherheit als auch Freiheit zerbrechen.

Endspiele: Freiheit wird gefährdet durch unsere Abhängigkeiten. Frei ist nicht der, der gelenkt ist durch Werbung, durch peer groups, durch Begierden und Leidenschaften. Die Sucht, die uns infiziert hat, führt in die Katastrophe. Haben ist das Signum unserer Zeit. Es ist ein Ersatz für verloren gegangene metaphysische Gewissheit. Aber erst im Angesicht der selbstgemachten Apokalypse halten wir inne; die Möglichkeit einer göttlichen Apokalypse als Regulativ haben wir längst verabschiedet. Aber wir werden weitermachen wie bisher. Nicht jammernd und klagend, sondern jammernd und klagend, solange der Rechtsweg offensteht. Irgendjemanden können wir immer verantwortlich machen, zur Rechenschaft ziehen. Irgendjemand hat seine Pflicht verletzt, wenn etwas passiert ist. Dass wir nicht mit Unsicherheiten leben können, mit Ambivalenz, gehört zur Grundausstattung des modernen Menschen: Es ist das Zeitalter der Angst. Gleichzeitig wollen wir frei, wild und gefährlich leben, denn es ist das Zeitalter der Freiheit.

Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen: Dem modernen Menschen sind die Mechanismen der Bewältigung existenzieller Krisen fremd. Wir versichern uns. Wir verklagen. Wir beklagen und klagen an. Wir fordern, weil wir der Mittelpunkt der Welt sind, jeder Einzelne. Wir sind einmalig, und das muss Konsequenzen haben. Wir sind gottlose Selbstgötter, und das hat Konsequenzen. Wir sind weder frei noch sicher. Zumindest das ist gewiss. Aber vielleicht ist Gewissheit ja genau unser Problem. Die andere, die humanistische Wurzel der Moderne haben wir verdrängt.12 Sie nimmt das Problem der Einbettung und die Gemeinschaft ernst, sperrt sich gegen generalisierendes Denken, betont die conditio humana, sieht die Machbarkeit der Sachen kritisch, übt sich in kosmologischer Demut, akzeptiert eine gewisse Unsicherheit in der Welt, und schließlich: Kann angesichts der Donquichotterien der Moderne auch einmal herzlich lachen. Denn mit dem Weinen, Klagen, Sorgen und Zagen haben wir auch das Lachen verloren in unserer sicheren, freien, modernen und aufgeklärten Welt.


1 Aufschlussreich hier Robert Spaemann, Zur Rückkehr der Erinnyen. Zum Begriff des Opfers. in: Ders., Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze I. Stuttgart 2010, 253–268.
2 Barbara Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats. Berlin 1986.
3 Die kosmologische Beleidigung nach Galilei: Die Erde ist nicht das Zentrum der Schöpfung, sondern ein Stern unter vielen; die naturgeschichtliche Beleidigung nach Darwin: Der Mensch ist nicht Herr und Krone der Schöpfung, sondern Resultat der Evolution; die psychoanalytische Beleidigung nach Freud: Der Mensch ist zwar vernunftbegabt, aber triebgesteuert.
4 Vgl. Johano Strasser, Gesellschaft in Angst. Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit. Gütersloh 2013.
5 Arthur Koestler, Der Yogi und der Kommissar. In: Ders., Der Yogi und der Kommissar. Auseinandersetzungen. Frankfurt am Main 1980, S. 11-22.
6 Grundlegend Leon Craig, The War Lover. A Study of Plato’s Republic. Toronto 1994.
7 Ernst Jünger, In Stahlgewittern. In: Sämtliche Werke I, Stuttgart 1978, S. 11
8 Philip Sarasin, ‚Anthrax‘. Bioterror als Phantasma. Frankfurt am Main 2004.
9 Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main 2002.
10 Ulrich Teusch, Die Katastrophengesellschaft. Zürich 2008.
11 Grundlegend Vittorio Hösle, Philosophie der ökologischen Krise. München 1994, S. 121ff.
12 Stephen Toulmin, Cosmopolis. The Hidden Agenda of Modernity. Chicago 1990.

(Matthias Zimmer)

Letzte Änderung: 16.05.2024  |  Erstellt am: 03.05.2024

Matthias Zimmer war einer, der den Finger auf wunde Stellen legen konnte, die der Zeitgeist abzuschaffen oder einzupassen sucht, die jedoch in keiner Ideologie aufgehen. Und Ideologie ist immer Aufgehen und Untergehen in einem. Er schrieb, weil Freiheit einen Grund braucht, der fest, transparent und formbar zugleich ist. Freiheit war für ihn weder individuell noch gesellschaftlich bedingt – sie entspringt und mündet in beidem.

(Elvira M. Gross)

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