Die dunkle Jahreszeit Herbst hält nicht nur in unsere Kalender Einzug, sondern auch in unsere Gedanken. Anhand der Romanfigur Charles Marlowe aus Joseph Conrads Roman „Heart of Darkness“ reflektiert Caterina Draschan-Mitwalsky aus heutiger Perspektive die automobile Dunkelheit und den Horror des modernen Reiseerlebens. In einer Gesellschaft, in der es nicht mehr merkwürdig ist, zwischen Wänden eingesperrt einen geraden Weg durch ein Land fahren zu können, das wir nicht sehen oder wahrnehmen, ist der Weg nicht mehr das Ziel, sondern nur noch ein Hindernis, ein Erlebnis nur im negativsten Sinne, bei dem der moderne Reisende sich durch seine Nicht-Partizipation und sein Nicht-Erkennen auch jeder Verantwortung verschließen kann.
Der Sommer ist so gut wie vorbei, und damit auch die Hauptreisezeit. Die Zeit, in der die Autofahrer über die Bahnfahrer lachen, die in überfüllten und nur theoretisch klimatisierten Zügen außerplanmäßige Aufenthalte im Niemandsland ertragen müssen. Die Zeit, in der die Bahnfahrenden wiederum überlegen die Autofahrer belächeln, die sich in überhitzten Blechlawinen in dichtgedrängtem Schritttempo über verstopfte Autobahnen quälen. Die Zeit, in der sich Bahn- und Autofahrer darauf geeinigt haben, dass die eigentlich Bösen diejenigen sind, die ohne Rücksicht auf ihren CO2-Footprint im Flugzeug in den Urlaub fliegen. Die Zeit, kurz gesagt, in der jeder das Weite suchte und in der jeder gute Gründe suchte, der Fortbewegungsart der anderen die wohlverdiente Missbilligung auszusprechen. Und nachdem meine Urlaubspläne noch weitaus weniger fortgeschritten sind als der Sommer, und deren Umsetzung weitaus weniger rasch näher zu rücken scheint als der Herbst, möchte ich zumindest an der allgemeinen Missbilligung den mir zustehenden Anteil geltend machen.
Unmittelbarer Anlass dafür ist, dass ich nach langer Zeit wieder einmal an Charles Marlowe denken musste. Den kennen Sie nicht, werden Sie jetzt sagen. Ich kann Ihnen versichern: Ich kenne ihn auch nicht persönlich. Und wenn es ihn denn gäbe, würde ich ihn auch überhaupt nicht kennen wollen. Es gehört aber nun – neben Langzeitarbeitslosigkeit – zu den unerfreulichen Nebenwirkungen eines literaturwissenschaftlichen Studiums, dass einem ab und an ungebeten und unvermittelt Romanfiguren in den Sinn kommen. Und dieser Charles Marlowe, an den ich heute plötzlich denken musste, ist ein besonders Ungebetener: eine Romanfigur, die schon einiges an berechtigter Kritik über sich ergehen lassen musste – ein unsympathischer Kerl, der in Joseph Conrads Roman Heart of Darkness seinen Weg durch den afrikanischen Kontinent bahnt. Er reist im Auftrag einer Elfenbein-Exportgesellschaft, die mit grausamsten Methoden unglaubliche Mengen des weißen Goldes aus dem dunklen Kontinent herauspresst. Marlowes unmittelbare Aufgabe ist es, einen der erfolgreichsten Ausbeuter – den charismatischen Kurtz – zu finden, welcher auf einer entlegenen Elfenbeinstation offenbar verschollen ist. Als Kapitän eines kleinen Flussdampfers bahnt sich Marlowe den Weg durch den Dschungel dorthin, um festzustellen, dass Kurtz alle Vestigien der damals als Zivilisation gepriesenen Lebensweise abgestreift hat und ein beispielloses Terrorregime über die Einheimischen etabliert hat, von denen er sich als gottgleiche Figur verehren lässt. Doch das Schicksal rächt sich in der für den britischen Kolonialroman üblichen Weise: Marlowe findet Kurtz dem Tode nahe. Ein heimtückisches Fieber sorgt für ausgleichende Gerechtigkeit und rafft Kurtz dahin, bevor Marlowe ihn noch zurück in die sogenannte Zivilisation bringen kann. Kurtz‘ enigmatische letzte Worte: “The horror!”
Ich habe das Buch schon oft mit meinen Studierenden besprochen. Und ich habe immer wieder gehört und in Hausarbeiten gelesen, dass es kein zeitgemäßes Buch mehr ist; ein Buch, das unendlich schlecht gealtert ist, das mehr halbherzig den Horror des Kolonialismus kritisiert und dabei in dieselbe Kerbe schlägt wie die Kolonialisten selbst; das die Erfahrung der Kolonialisierten völlig ausklammert, ihnen weder Aktivitäts- noch Artikulationsmöglichkeiten, ja nicht einmal ein noch so geringes Maß an Individualität zubilligt, und in im Zentrum dessen Handlung das Scheitern eines einzelnen weißen Mannes steht. Nicht einmal in seiner Kritik schafft es Conrad, den Blickwinkel des Kolonialisten zu verlassen.
Darüber hinaus ist das Buch, wie viele Bücher seiner Zeit, nicht nur rassistisch sondern zutiefst misogyn. Frauen sind bestenfalls – und das ist noch die interessanteste Rolle, die Conrad ihnen zubilligt – exotische Sexobjekte an der Grenze zwischen Mensch und heidnischer Gottheit; im Übrigen sind sie Aufputz, Stereotypen, bloße Symbole für das männliche Schicksal.
Heart of Darkness ist kein Buch, das man im 21. Jahrhundert noch für seinen Inhalt lesen will, und einer der wenigen Vorteile, den ich dem Buch jedes Mal wieder abgewinnen kann, ist, dass es den Studierenden ein Kapitel der Kolonialgeschichte näher bringt, mit dem man ansonsten selten konfrontiert wird: die Gräuel der belgischen Kolonialherrschaft im Kongo. Aber selbst dieser kleine positive Punkt rechtfertigt nicht, dass man die eingehende Lektüre dieser dreihundert Seiten einem modernen Menschen antut. Das Buch, habe ich nun also schon oft gehört und gelesen, hat uns nichts mehr zu sagen. Die Kritik, die Conrad am Kolonialismus übt, ist zu zaghaft, zu unreflektiert, zu vage, zu unentschlossen. Die Kritik, der er sich selbst aussetzt – jene der Teilhabe an patriarchalen Strukturen, jene der Blindheit für jede Erfahrung, die nicht weiß und männlich ist – ist sicherlich berechtigt, aber sie ist schon so oft geübt worden, schon von so wichtigen Personen an so wichtigen Orten geübt worden, dass auch das kaum mehr Thema einer Diskussion sein kann. Es ist nur mehr ein Affirmieren des längst Bekannten, ein Wiederholen des längst Gesagten. Wir wissen, dass der Kolonialismus schlecht war und wir wissen, dass Conrads Kritik daran gemessen an heutigen Maßstäben um nicht Vieles besser ist. Dass er ein grandioser Stilist ist, dass ihm höchste Anerkennung dafür gebührt, dass er es in einer Sprache, die nicht seine Muttersprache war, zu einer solchen schriftstellerischen Brillanz gebracht hat, kann man ruhig nebenbei in einer Fußnote erwähnen, aber auch das rechtfertigt nicht, dass man sich ernsthaft mit Heart of Darkness beschäftigt.
Und trotzdem ist mir, wie gesagt, Charles Marlowe eingefallen. Und mir ist eingefallen, mit welch erstaunlicher Genauigkeit, mit welcher Weitsicht, Conrad das moderne Reiseerlebnis in das Zentrum des Horrors dessen, was Marlowe in Afrika erlebt, gestellt hat.
Eine zentrale Metapher des Buches ist Charles Marlowes Reise durch den afrikanischen Kontinent, den er durchquert, aber nur selten betritt: Er reist als Kapitän eines kleinen Schiffes den Kongo entlang. Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Mitreisenden ist er gleichsam ein freiwilliger Gefangener auf diesem Schiff; der Dampfer bewegt sich, aber die Menschen auf ihm sind merkwürdig begrenzt in ihrer Mobilität, auf engstem Raum zusammengepfercht und ihrer Individualität weitgehend beraubt. Trotz seiner vermeintlichen Autorität als Kapitän hat Marlowe kaum Einfluss über den Weg, den er das Schiff zu lenken hat; dieser ist ihm durch den Flusslauf vorgegeben, seine Verantwortung beschränkt sich auf das unfallfreie Navigieren durch den durch die beiden Flussufer klar begrenzten Raum. Links und rechts von Marlowe bildet der Dschungel grüne Mauern, die ihm den Blick ins Landesinnere verwehren und ihn von jedem aktiven Erleben der Landschaft oder ihrer Bewohner aussperren; die Ufer sind lediglich eine Bedrohung, welcher er auszuweichen hat.
Es ist dies eine Metapher, die ich wieder und wieder im Unterricht erläutert habe; mit einer ganzen Reihe von Studierendengruppen habe ich diese besprochen, habe versucht für meine Hörer:innen erfassbar zu machen, welch zentrale Rolle die merkwürdig isolierte, nach allen Richtungen streng begrenzte, vom eigentlichen Geschehen abgekoppelte Fortbewegungsart der Erzählfigur im Roman spielt. Es ist dies ein Punkt, der in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Heart of Darkness eine durchaus anerkannte Rolle spielt; aber frei nach Erich Kästners Diktum, das nicht alles, was neu ist, gut sein müsse, und nicht alles, was gut ist, neu, wiederhole ich ihn hier ohne schlechtes Gewissen. Die merkwürdig isolierte, klaustrophobische Qualität von Marlowes Reise ist ein essentieller Teil des Romans, trägt ganz maßgeblich dazu bei, dass der Horror des Erlebten für die Lesenden erfahrbar und nachvollziehbar wird.
Als ich neulich an Charles Marlowe denken musste, wurde mir aber plötzlich bewusst, wie sehr dieser Kunstgriff Conrads dem modernen Leser den Zugang zum Roman versperrt; wie sehr die Symbolik, mit der Conrad dem Leser die Erfahrung Marlowes näherbringen wollte, nun paradoxerweise das Verständnis erschwert, weil wir ihre Ungewöhnlichkeit überhaupt nicht mehr nachvollziehen können; in welchem Maß uns die Reaktion, welche die Zeitgenossen Conrads auf den Roman gehabt haben müssen, unzugänglich geworden ist, weil uns das Reiseerlebnis Marlowes soviel näher ist als jenes der damaligen Lesenden.
Mir ist zum ersten Mal aufgefallen, in welchem Maß wir für das Erleben des Horrors dieser bizarren, zwischen zwei grünen Wänden eingesperrten Reise abgestumpft sind. Das, was dem Leser des neunzehnten Jahrhunderts noch fremd, beängstigend, beklemmend vorgekommen sein muss, wirkt für uns überhaupt nicht mehr ungewöhnlich. Marlowes beklemmendes Reiseerlebnis ist längst unser selbstverständliches tägliches Erleben geworden, sodass wir es überhaupt nicht mehr erwähnenswert finden, ja beim Lesen kaum bemerken, wie eigenartig es ist, dass Marlowe sich durch einen Kontinent bewegen kann, durch eine Landschaft reisen kann, ohne davon etwas wahrzunehmen.
Es ist mir das erste Mal wieder bewusst geworden, wie merkwürdig es ist, dass wir es nicht merkwürdig finden, dass ein Mann zwischen zwei Wänden eingesperrt einen geraden Weg durch ein Land fährt, das er nicht sehen kann. Dass wir es garnicht mehr beängstigend finden, dass jemand völlig isoliert von seiner Umgebung in einem kleinen Fahrzeug mehr oder weniger gefangen zwischen zwei Wänden sich auf einen Weg macht, der für ihn nur noch ein Hindernis ist, ein Erlebnis nur im negativsten Sinne. Ein Weg, der für ihn bestenfalls Pannen und Probleme beinhalten kann, aber kaum Positives außer dem Umstand, dass man ihn verhältnismäßig rasch hinter sich bringen kann. Was Conrad beschreibt, ist ein Weg durch einen ganzen Kontinent, und trotzdem keine Reise, kein Abenteuer im althergebrachten Sinne, das den Reisenden dann befähigte, Reiseberichte zu schreiben und andere mit seinen Erfahrungen zu unterhalten. Mit den Maßstäben des neunzehnten Jahrhunderts gemessen war dies ein höchst ungewöhnlicher Umstand. Die Erfahrung, die Marlowe auf seiner Reise durch den Kontinent macht, ist eine Erfahrung, die dem neunzehnten Jahrhundert noch fremd und bizarr vorgekommen sein muss; das ist die Prämisse Conrads. Die Erfahrung, die Marlowe macht, durch ein Land, durch einen Kontinent zu reisen, auf einer geraden Straße, umgeben von Wänden, auf dem Weg durch eine Landschaft, die er nicht wahrnehmen kann, an der er nicht partizipiert, deren Teil er nicht ist, die er nicht erforscht oder erkundet, niemals zu sehen bekommt, das war eine Erfahrung, die dem neunzehnten Jahrhundert noch völlig fremd war. Eine Erfahrung, die sich nicht mit den Eisenbahnfahrten, mit den Postkutschenfahrten seiner Zeitgenossen deckt.
Als ich diesen Sommer an Charles Marlowe denken musste, ist mir mit einem Mal aufgefallen, wie selbstverständlich es geworden ist, das der Weg nicht mehr das Ziel ist; dass wir diese Aussage als Platitüde, ja als geradezu lachhaft empfinden; dass es für uns so selbstverständlich geworden ist, dass ein Weg lediglich etwas ist, das man hinter sich zu bringen hat; dass der Weg an sich uninteressant ist, verlorene Zeit, etwas worüber man nicht spricht und nicht sprechen kann, weil es, sofern nichts gröber schief geht, gar nichts zu sagen gibt. Aus unserer modernen Sicht ist das, was Marlowe nicht er-, sondern durch-lebt, ganz selbstverständlich. Das Anti-Erlebnis Marlowes, das Conrad als erschreckend, beklemmend, vorbereitend auf den ultimativen Horror der Begegnung mit Kurtz in diesen Roman eingefügt hat, ist für uns nichts anderes als der tägliche Weg in die Arbeit, der wöchentliche Weg zu den Verwandten am Land, oder der jährliche Weg in den Sommerurlaub: kurz – eine ganz alltägliche Fahrt auf der Autobahn. Marlowe ist der Prototyp des modernen Autofahrers. Wie wir auf einer Autobahn bewegt er sich auf gerader, relativ hindernisloser Bahn durch eine Landschaft, an der er keine Teilhabe hat – keine Teilhabe haben kann, vielleicht auch keine Teilhabe haben will. Er bewegt sich auf einer Strecke, die für ihn nur der Weg von A nach B ist, die als Strecke für ihn keine Bedeutung hat: der Weg ist hier definitiv nicht das Ziel. (Wie weit das Zeil das Ziel ist, lässt uns Conrad freilich offen, doch darum geht es uns hier nicht.) Marlowe ist somit ein viel modernerer Reisender, als Conrad es intendiert hat.
Marlowe ist aber vor allem auch jener moderne Reisende, der durch seine Nicht-Partizipation, der durch sein Nicht-Erkennen, Nicht-Teilhaben, sich auch jeder Verantwortung verschließen kann. So wie Marlowe durch einen geschändeten, ausgebeuteten Kontinent reist, ohne die Folgen der europäischen Kolonialherrschaft wirklich konfrontieren zu müssen, abgeschirmt durch die grünen Dschungelwände, die die Wasserstraße einsäumen, genauso kann sich der moderne Autofahrer durch die Landschaft bewegen, ohne die Verwüstung, die Zerstörung, die die Autobahn hinterlässt, sehen zu müssen. Er selbst ist nicht Teil dieser zerstörten Landschaft, er ist isoliert von ihr, er muss sich nicht damit auseinandersetzen, was seine Teilhabe an der Zerstörung ist. Er wird nicht konfrontiert damit, er ist abgeschirmt, behütet durch Lärmschutzwände, die ihn vor der Realisation bewahren, welch unwiderruflichen und letztendlich unverantwortlichen Eingriff er in die Landschaft mitzuverantworten hat.
Marlowes stille Verweigerung, Marlowes rücksichtslose, respektlose Reise durch einen Kontinent, an dessen Zerstörung er durch seine Stellung als Angestellter der Elfenbeingesellschaft sehr wohl partizipiert, auch wenn er sie zu kritisieren scheint, findet im Roman ein Gegenstück in Kurtz. Kurtz, der im Roman selbst kaum als Akteur auftritt, ist dennoch die zentrale, die gesamte Handlung dominierende Figur. Die Geschichte, die in Heart of Darkness erzählt wird, ist die Geschichte von Kurtz – und erst diese Geschichte macht Marlowes Reise überhaupt erzählenswert, ja erzählbar. Und dennoch ist Kurtz nicht der Held des Romans; Dreh- und Angelpunkt ist nicht sein Erfolg als Elfenbeinhändler, sondern sein schreckliches und alles überschattendes Scheitern in jenem Punkt, welcher im apologetischen Diskurs des Kolonialismus als wichtigste Rechtsfertigung wirtschaftlicher Ausbeutung dient: das Verbreiten einer westlich-europäischen Weltanschauung und Lebensweise, welche als vermeintlich heilsbringende „Zivilisation“ allen anderen Völkern aufgezwungen werden musste. Conrads Roman entlarvt die Scheinheiligkeit dieser Prämisse, ohne ihr letztendlich aber eine Absage zu erteilen: Dass Kurtz höchst erfolgreich im Dienste seiner belgischen Auftraggeber Ausbeutung betreibt, ohne den Anschein zivilisatorischer Absichten zu wahren, erscheint im Roman gänzlich unannehmbar. Dass Kurtz sich von seiner europäischen Herkunft lossagt und die Lebensweise der indigenen Bevölkerung annimmt, wird als fatale Charakterschwäche ausgelegt, die verdient und folgerichtig zu Kurtz‘ einsamen, qualvollen Tod an Bord von Marlowes Schiff führt. Der Roman lässt keinen Zweifel daran, dass Kurtz gescheitert ist – als Kolonialist und als Mensch; der tiefe Glaube an die Superiorität westlicher Zivilisation ist viel zu fest in den Text eingeschrieben, als dass eine andere Interpretation möglich wäre.
Und dennoch bleibt kein Zweifel offen, dass Kurtz die zentrale Figur des Romans ist, deren Strahlkraft uns beim Lesen fast blind dafür macht, dass Kurtz‘ Scheitern eine Parallele in Marlowes findet. Auch Marlowe versagt letztendlich in jenen Rollen, die der Text ihm zuteilt. Seine Aufgabe ist es, Kurtz‘ Geschichte zu erzählen – und daran scheitert er gleich zweimal, als Mensch ebenso wie als Erzähler: zunächst belügt er Kurtz‘ Verlobte, danach gelingt es ihm nicht, seine Zuhörer emotional anzusprechen und für seine zaghafte Kolonialismuskritik empfänglich zu machen.
Im Unterschied zum Scheitern von Kurtz ist Marlowes Scheitern farb- und ereignislos: es ist das stille Scheitern eines Mannes, der sich zum Komplizen macht und es selbst nicht wahr haben möchte. Kurtz’ Scheitern hingegen ist grandios, ist der Horror schlechthin, zieht die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich und verlangt, erzählt zu werden – und macht damit auch Marlowes Versagen erzählbar.
Ein solches spektakuläres Gegenstück fehlt dem modernen Autofahrer aber; und somit fehlt die Handlung, welche das Geschehen zum Teil eines Narrativs machen würde, das fasziniert und Emotionen weckt. Das Scheitern des Autobahnfahrers ist wie jenes von Marlowe: ein stilles, ereignisloses, unspektakuläres; ein Scheitern, über das man weder schreiben noch sprechen kann, weil es genauso langweilig ist, wie die Autobahnfahrt selbst. Und doch ist es ein Scheitern – genauso wie das Scheitern Marlowes – das zentral für das eigentliche Geschehen ist. Es ist nicht die Einzelfigur des grandiosen Antihelden; es ist nicht der unaussprechliche Horror, der sich einmal in einem Individuum manifestiert, der uns Sorgen machen sollte. Was uns als Gesellschaft Sorgen machen sollte, ist dieses stille, langweilige, unaussprechliche und unausgesprochene Scheitern jedes einzelnen, der sich durch eine Landschaft bewegt, an deren Zerstörung er teilhat, aber nicht an deren Schönheit. Das Scheitern jedes einzelnen, dessen Weg nicht mehr das Ziel sein kann, weil der Weg verkommen ist zu quälender Eintönigkeit zwischen zwei Lärmschutzwänden, den man immer schneller hinter sich bringen will. Und um diesen quälenden Weg schneller hinter sich bringen zu können, erscheint es notwendig, die Strecke von hier nach da immer breiter, immer schneller befahrbar, immer unmenschlicher zu gestalten. Der eigentliche Weg wäre aber der Schritt zurück; der Schritt zur Verlangsamung, zur Vorstellung, dass das Zurücklegen eines Weges an sich bereits ein lohnendes Erlebnis sein kann und muss.
Der Horror des Kolonialismus, wie ihn Joseph Conrad beschreibt, ist nicht der Verlust des moralischen Kompasses, wie ihn Kurtz erleidet; es ist nicht der mentale Zusammenbruch eines einzelnen – dies sind lediglich Symbole; das ist die Handlung, die Conrad braucht, um die Szenerie, um den Rahmen, um die Reise des Marlowe zu verpacken und dem Leser schmackhaft zu machen. Der eigentliche Horror dessen, was Joseph Conrad in seinem Roman beschreibt, ist die rücksichts- und respektlose Zerstörung eines Kontinents, die rücksichts- und respektlose Zerstörung einer Landschaft und der Menschen, die sie bewohnen, für den Profit einzelner; die Zerstörung, die es dem weißen Mann möglich macht, sich auf diesem Kontinent von A nach B zu bewegen, ohne den Ort, an dem er sich befindet, wahrzunehmen und ohne das, was geschehen ist, konfrontieren zu müssen oder Verantwortung dafür zu übernehmen. Und es ist die Isolation des Individuums von seiner Umgebung; die forcierte Nicht-Teilhabe an der Landschaft, welche die Illusion einer Dichotomie zwischen menschlicher Lebensweise und Natur erzeugt, die es im Interesse beider Teile nicht geben dürfte, die aber – nicht nur in Heart of Darkness, sondern auch in unserer realen Welt – zur self-fulfilling prophecy wird: Es gibt keinen tödlicheren Ort als die Autobahn; jedes Lebewesen, das sich ihr ohne den Schutz eines metallenen Panzers auf vier Rädern nähert, ist unweigerlich dem Untergang geweiht. Wo der Mensch sich der Fortbewegungsart des Conrad’schen Horrors verschrieben hat, können Natur und Mensch nicht koexistieren.
Beinahe ironisch ist, dass Conrads Horrorvision just im Kongo verortet ist – ein Land, dessen Wirtschaft schon längst nicht mehr vom Elfenbein lebt, sondern vom Erdöl, und vom Export des für E-Auto-Batterien so wichtigen Kobalts: wiederum oder noch immer das Herzstück einer neuen, nun automobilen Dunkelheit, die Conrad wohl weitgehend unbewusst vorgezeichnet hat. Doch in einem wichtigen Punkt bricht die Parallele zwischen Conrads Roman und unserer Realität: Im Gegensatz zu Marlowe, dessen Reisemodalität im doppelten Sinne determiniert ist – intradiegetisch durch die strikten Anweisungen seiner Vorgesetzten, extradiegetisch durch den Plan des Schriftstellers – haben wir die freie Wahl: Wir können jederzeit aussteigen und uns andere Wege suchen.
Spätestens jetzt werden Sie mir entgegenhalten, dass meine Vision – wenn man sie eine solche überhaupt nennen kann – unrealistisch ist: Geschwindigkeit ist Fortschritt, werden Sie sagen, und wenn Fortschritt einmal gemacht wurde, gibt es kein Zurück, weil die Früchte dieses Fortschritts nicht nur erfreulich, sondern geradezu unerlässlich für das Funktionieren unseres Alltags sind, und weil niemand freiwillig darauf verzichten würde. Selbst wenn wir die Frage dahingestellt lassen, ob unser Alltag – auf individueller ebenso wie auf gesellschaftlicher Ebene – wirklich in derartigem Ausmaß schützens- und bewahrenswert ist, ist dieser Argumentation nicht viel abzugewinnen. Denn wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns eingestehen, dass unsere Gesellschaft die Notwendigkeit hoher Geschwindigkeit, wie sie die Autobahn vermeintlich bietet, längst hinter sich gelassen hat. Dort, wo es heute wirklich schnell gehen muss, haben wir ganz andere Möglichkeiten: vieles, was früher physische Präsenz erforderte, kann heute auf virtuellem Wege viel rascher und effizienter erledigt werden. Dort, wo medizinische oder menschliche Notfälle die körperliche Anwesenheit eines anderen erfordern, ist der Weg über die Autobahn oft ebenfalls zu langsam: hier ist man zumeist auf rasche Hilfe aus der unmittelbaren Umgebung angewiesen. Alle anderen Fälle hingegen lassen sich bei hinreichender Planung auch ohne Autobahn bewältigen: Waren, die just in time angeliefert werden müssen, kommen bei entsprechender Planung ebenso pünktlich an, wenn man sie mit gemächlicherer Geschwindigkeit auf den Weg schickt; Besuche bei Oma oder das Eintreffen am Arbeitsplatz erfolgen ebenso pünktlich, wenn man mit achtzig statt hundertachtzig km/h dorthin fährt.
Was es bräuchte, wäre die Bereitschaft, offen, ehrlich und mit Interesse über jene Langeweile, jene passive Teilhabe an der Zerstörung unseres Lebensraums zu sprechen. Die Bereitschaft, unsere stoische Hinnahme persönlicher Unannehmlichkeiten und ökologischer Katastrophen zu hinterfragen. Und die Bereitschaft, auch der emotionalen Ebene wieder Raum in diesem Diskurs zu geben. Um ein Problem zu begreifen, braucht es Analysen und Fakten; um ein Problem unerträglich zu machen und damit den gesellschaftlichen Impetus für dessen Lösung zu schaffen, braucht es auch Emotionen. Es muss wieder möglich werden, die Fahrt auf der Autobahn in aller Intensität als das wahrzunehmen, was sie ist, und dies auch zu sagen, ohne zynisch belächelt zu werden: The horror!
Letzte Änderung: 25.09.2024 | Erstellt am: 25.09.2024
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