Simplicissimus, Don Quichote oder Hans im Glück – erfolgreiches Scheitern will gelernt sein, vor allem erzählt und dadurch trophäeisch bewahrt. Es bewahrheitet sich nämlich durch Sprache, verkehrt sich im Wortsinn letztlich als das bessere Gewinnen. Pfeifen wir auf die berühmten 15 minutes of fame, wie sie einst Andy Warhol kündete. Die Flüchtigkeit des Erfolgs muss dem langfristigen Scheitern weichen. Um das Geheimnis des Verlierens als Lebensprinzip festzuhalten und gleichzeitig zu lüften, braucht es ein Manifest des Scheiterns. Lange haben wir, an Antihelden geschult, darauf gewartet, Lukas Meschik hat es kurz und bündig für uns vorgelegt. Folgen wir also seinem Aufruf...
Zur Poetologie des Scheiterns gehört eine Ästhetik der Niederlage. Das Leben besteht im Kern aus diesen sogenannten Niederlagen, also Fehlern, Auslassungen und Pannen, den Abweichungen vom Idealverlauf; aus dem, was nicht eintritt, obwohl es hätte eintreten sollen; aus dem, was nicht passt, obwohl es dafür maßgeschneidert gewesen wäre. Es gibt viel mehr Dinge, die nicht passieren als jene, die passieren. Es reicht nicht, ein bisschen traurig oder mitteltraurig zu sein; wer es wirklich ernst meint mit dem Verlieren, der muss so traurig sein, dass er davon ununterbrochen lacht. Wo einem bloß noch zum Weinen zumute ist, wird Lachen die einzige Trotzreaktion, mit der man die Götter verdutzt.
Überhaupt die Gottfiguren – anonyme Lenker, mit denen sich vortrefflich hadern lässt, weil sie weder auf Bittgesuche noch Beschwerden reagieren. In esoterisch angehauchten Zirkeln wird bei der Geburt eines missgebildeten oder anders beeinträchtigten Kindes gern gesagt, jedes besondere Kind suche sich noch im Zustand der körperlosen Seelenhaftigkeit gezielt jene Eltern aus, die der auf sie zukommenden Aufgabe gewachsen seien. (Seit flächendeckender Pränataldiagnostik werden neunzig Prozent dieser besonderen Kinder ausgemerzt.) Alles lässt sich schönreden.
Übersetzt ins Verhältnis zwischen Einzelmensch und seinem Schicksal ließe sich sagen: Je mehr Steine einem in den Weg gelegt werden, desto mehr Kompetenzvertrauen besteht auf Seiten der bestimmenden Instanzen. Ein ausgedachtes altehrwürdiges Sprichwort könnte lauten: Wer weglang Stein um Stein begrüßt / Der rühme sich als gottgeküsst. (Der Endreim mit erst langem, dann schnellem s-Laut, hinkt drastisch.) Eingedenk dieser und ähnlicher Sinnsprüche muss der Verlierer sich bei jedem bremsenden Stein bücken und ihn aufheben, als wäre es ein Schatz.
Ihn in die Manteltasche zu stecken und so eine wachsende Steinsammlung mitzuschleppen, ist in dem Bild als Option vorgesehen, will allerdings wohlüberlegt sein, weil es die Reise ja nur noch beschwerlicher macht. Achtlos fortkicken mag man alles aber auch nicht mehr, sobald man die Steine als wertvoll erkannt hat.
Um Missverständnisse zu vermeiden, sei gesagt: Der Scheiternde darf sich nicht beleidigt zurückziehen in die Pose des unverstandenen Verlierertyps, er ist nur ein vehementer Verfechter der Siegesvermeidung. In Abwandlung eines gängigen Wahrspruchs lässt sich konstatieren: Es ist besser, nicht zu gewinnen als falsch zu gewinnen.
Wir arbeiten im Stillen an einem Manifest der Verlierer. Es geht um die Nutzbarmachung der Niederlage, wodurch sie sich verwandelt; sie hört auf, destruktiv zu sein und wird produktiv.
Wenn das Gewünschte nicht eintritt, dann muss der Verlierer daraus etwas generieren, das durch dieses Nichteintreten erst ermöglicht oder plausibel wurde; wenn sich ein erhoffter Geldsegen nicht manifestiert oder einem der Arbeitgeber über Jahre hinweg Honorare schuldig bleibt, es sehr eng wird mit den finanziellen Mitteln, mag sich zunächst die bekannte Mischung aus Perspektivlosigkeit und Existenzangst einstellen, es kann notwendig sein, zusätzliche Nebenjobs anzunehmen oder nicht ganz freiwillig bei einer Medikamentenstudie zu multiresistenten Erregern teilzunehmen inklusive der intravenösen Verabreichung von experimentellen Antibiotika – darüber in Verzweiflung zu verfallen, wäre aber so naheliegend wie kontraproduktiv.
Der erfahrene Verlierer kontert, indem er sich der Unausweichlichkeit erfreut. Es reicht nicht, das Beste daraus zu machen, damit wäre nur gemeint, nicht zu verzagen; der Verlierer nach unserem Kaliber macht das Allerbeste daraus, also er gewinnt der Sache etwas ab, das wertvoller ist als die ursprüngliche Wunscherfüllung hätte sein können. Die Studienteilnahme aus Geldnot wird er nicht nur möglichst erträglich gestalten, sondern sie als wünschenswert und bereichernd verbuchen; das ist zum Beispiel dort der Fall, wo er sie so beschreibt, dass es wenn schon nicht für andere, dann wenigstens für ihn selbst lebensbereichernd wirkt.
Noch aus dem schlimmsten Ereignis lässt sich mit einiger Hingabe etwas stricken, das auf eine verquere Art schön ist. Auf Beziehungsfragen umgelegt hieße das, ein langes Jahr als Ansporn für ein längeres zu nehmen; wo ein Liebesgeplänkel mit Karacho durch die Leitplanke fährt, kommt der Verlierer damit nicht nur zurecht, er klettert ramponiert aus dem Wrack, klopft sich die Landstraßenerde von der Übergangsjacke und strebt an, eine Lebenskomplizin zu finden, die er unter anderen Umständen niemals kennengelernt hätte. So wird das, was vermeintlich die Geschichte war, zur Vorgeschichte degradiert; die Krise wird zum nötigen Zwischenschritt vom Guten zum Besseren. Werden einzelne Krisenkapseln aneinandergereiht und an einer Lederschnur aufgefädelt, entspricht das Ergebnis einer Perlenkette, die sich als Schmuck um den Hals tragen lässt.
Dem Erfolg ist nicht zu trauen. In den meisten Fällen entpuppt er sich als anhaltendes Missverständnis. Es muss schon sehr blöd hergehen, dass sich mehrere Menschen gleichzeitig auf etwas oder jemanden einigen können. Die plausible Reaktion auf orchestrierte Huldigung lautet Skepsis. Der Verlierer weiß außerdem, dass Erfolg mit vielen Nachteilen einhergeht, er nötigt zu weiterführenden Verpflichtungen und unabsagbaren Anwesenheiten, was erhöhten Zeiteinsatz bedingt. Anerkennung für Ergebnisse lenkt vom Wesentlichen ab, dem Prozess der Produktion von Inhalten. Misserfolg erlaubt Rückzug, Untertauchen, Versenkung, nicht zuletzt aus Scham.
Wer in seinem Tun unerkannt bleibt, hat kein Lob zu befürchten und ist niemandem Rechenschaft schuldig. (Kompatibel mit einer kapitalistischen Lebensrealität ist ein Agieren auf moderatem Erfolgslevel, durch das man halbwegs sein Auskommen findet; und wie sehr man sich Anerkennung zu Herzen nehmen sollte, liegt an der Richtung, aus der sie kommt.) Die Steuerfahnder des Finanzministeriums lassen einen in Ruhe, weil es für sie nichts zu holen gibt. Überhaupt lassen alle einen in Ruhe – der Verlierer wird nirgends vermisst. Weitgehend unbehelligt von der Öffentlichkeit zeichnet er seine Fußspuren in feuchten Sand, kaum hinterlassen, schon wieder verschwemmt; das Wellenrauschen des ewigen Meeres brummt besänftigend auf ihn ein, seine Unsichtbarkeit verbucht er längst als Superkraft, die Unerheblichkeit seiner Existenz empfindet er als befreiend, er spaziert die Küste entlang, heiter vertraut mit der Loslassenskunst des glücklichen Scheiterns.
Der Verlierer empfindet ausgeprägten Machtekel. Wer nie gewinnt, der kann auch keine Macht akkumulieren. Während die Mächtigen sich in ihren prunkvollen Burgen verschanzen, baut der Verlierer sich Luftschlösser, in denen er spukt und spinnt. Zunächst ruhig nach den Sternen greifen – eine Pusteblume kann man später ja immer noch pflücken. Vieles von dem, was uns als beglaubigter Erfolg verkauft wird, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als perfide Zielgruppenlukrierung ohne intrinsische Motivation, man sieht ihm die Gemachtheit an. Erstrebenswert ist nur Gewordenheit.
Als mächtig erscheinen uns jene, auf die man sich einigen kann, ihr versessenes – verbissenes – Erfolgsstreben trägt Früchte. Die Mächtigen jonglieren im Spagat mit vier Bällen, aber nur am Nebenschauplatz, besoffen von der eigenen Bedeutung. Die Machtlosen entziehen sich der Festschreibung ihres Potenzials, sie verschwenden und vergeuden ihr Talent als feierliches Hochamt der Unvernunft. Wer sich zum Scheitern bekennt, der vertraut seiner Schwäche. Wo andere stark sind, ist der Verlierer konsequent schwach. Keiner hat etwas von ihm zu befürchten, am wenigsten er selbst.
Der Verlierer hält durch. Die mit Abstand wichtigste Fähigkeit für ein Dasein als Lebenskünstler ist Durchhaltevermögen, eine Charaktereigenschaft, die sich in stetem Üben herausbildet. Erst das beharrliche Improvisieren zu Fallstricken, das schonungslose Stunting um Widerstände und der Kampf gegen Windmühlen schult einen im Scheitern. Die genannten Steine müssen imposant sein – wer große Muskeln will, der muss auch schwere Gewichte heben. Die Windmühlen müssen unbesiegbar bleiben als lohnende Sparringpartner des Lebens.
Das Unglück zu negieren, wäre sinnlos und gefährlich; es stattdessen integrieren und implementieren, dachte ich. Der Verlierer gesellt sich zu den Idioten, den Schwächlingen und Schluderern, ihm stehen die Entkräfteten und Entrechteten näher als die Highperformer und Quotenerfüller. Lieber sind ihm die Zauderer und Zögerer, die so lange abwägen, bis sich die ursprüngliche Frage nicht mehr stellt.
Lieber die Kontaktlinsenblinzler und Geldscheinverlierer und Autoschlüsselverleger, lieber die hoffnungslos Verschuldeten und traufentriefenden Tollpatsche und glorreichen Halunken. Lieber der zigarrerauchende Inspektor im zerknitterten Trenchcoat, der sich dümmer stellt, als er eigentlich ist, und selbstverliebte Unantastbare überführt, als der slicke Kommissar im Designeranzug, der sich mit den oberen Zehntausend nicht anlegt, sondern verbrüdert. So steht es im Manifest der Verlierer.
Es gibt ein Elementarteilchen, aus dem sich alles zusammensetzt, was unser Bewusstsein als Wahrnehmung verbucht, eine Universalressource, aus dem sich die Dramaturgie des Daseins zusammensetzt; dieser Narrativpartikel nennt sich in Anlehnung an Elektron und Proton schlichtweg Narraton. Als Bindemittel der Fiktionen hält es jene Episoden zusammen, die wir in kollektiver Eintracht als erlebte Geschichte absorbieren.
Das Erzählenswertere ist immer auch das Wertvollere. Wer oft verliert, hat sehr viel zu erzählen; er schürft in einem Boden, der angereichert ist mit Narrativpartikeln. Seine Arbeit wird sich lohnen. Die bessere Story gewinnt.
Der Verlierer wacht mit geschärften Sinnen auf Anzeichen für Zufälle, aus denen sich Muster herausbilden. Er ist ein Spürhund des Narraton, das noch in keinem quantenphysikalischen Experiment nachgewiesen werden konnte. Den Teufel wird es tun, sich von uns aufspüren zu lassen. Was also bleibt uns noch? Mit gesenktem Blick sich einreihen in die Prozession der ewigen Verlierer.
Letzte Änderung: 26.07.2024 | Erstellt am: 07.06.2024
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