Les extrêmes se touchent

Les extrêmes se touchent

Wenn Extreme sich die Hand reichen
Thomas Draschan, Reasonable Rhymes (2011) | © Art Virus Ltd.

In seinem neuen Essay spürt Hans Christoph Buch den gefährlichen Berührungspunkten zwischen politischen Gegensätzen nach – von links und rechts, von Diktatoren und Demokraten, von gestern und heute. Ein Text, der zum Innehalten zwingt.

1

Donald Trump ist vulgär, wenn er sich brüstet, jedes weibliche Wesen sei ihm hörig, sobald er ihr ans Knie oder unter den Rock greift. Wladimir Putin ist vulgär, wenn er Tschetschenen droht, sie im Klo herunterzuspülen. George W. Bush war vulgär, als er Haiti als shithole-country disqualifizierte. Und Venezuelas Chávez war vulgär, als er in der TV-Sendung Alló Presidente junge Frauen an seinen Achselhöhlen schnuppern ließ, um festzustellen, ob er nach Schweiß stank oder nicht. Vier Beispiele, wahllos zitiert aus der politischen Aktualität, denen sich zahlreiche weitere beifügen lassen.
Andersherum, historisch aufgezäumt: Aus Sicht der jeweils Herrschenden war und ist jeder, der die Ordnung der Dinge in Frage stellt, ein Ketzer und Aufwiegler: Spartacus, Anführer des Sklavenaufstands im alten Rom, ebenso wie Jesus Christus, der angebliche König der Juden, Johannes Hus oder Giordano Bruno. Die frühen Christen waren den Machthabern genauso verdächtig wie die stoischen Philosophen, allen voran Sokrates, zum Tode verurteilt, weil er die Jugend zum Denken verführte. Attila und Dschingis Khan, Lenin und Stalin, Hitler und Mussolini – sie alle waren aus Sicht des Adels, später der Bourgeoisie, vulgäre Emporkömmlinge. Aber statt mit Siebenmeilenstiefeln durch die Geschichte zu rasen, ist es besser, innezuhalten: Wenn alles gleich x ist, wäre x gleich null, mithin auch das Wort vulgär.
Der Reiz des Adjektivs besteht darin, dass es nicht politisch/ moralisch, sondern ästhetisch argumentiert, denn schön und gut gelten seit der Antike als zwei Seiten derselben Sache. Dies nur als Vorbemerkung zum folgenden Text.

2

Les extrêmes se touchent: Die auf La Bruyère zurückgehende Erkenntnis verglich der französische Philosoph Jean-Pierre Faye mit einem Hufeisen, dessen auseinanderstrebende Enden sich annähern. „Gegensätze ziehn sich an“ hieß ein DDR-Schlager der 1980er Jahre, der es in die BRD-Hitparade schaffte, und die Wahrheit des Satzes liegt auf der Hand. Dass die Nazis Parolen und Kampflieder samt deren Melodien von Kommunisten abkupferten, indem sie den von Freikorps-Leuten ermordeten Karl Liebknecht durch den „Blutzeugen“ Horst Wessel ersetzten, ist bekannt.
Weniger bekannt ist, dass diese Form des Plagiats auch heute stattfindet, und zwar vorzugsweise in der früheren DDR. Dort rotten sich Tag für Tag militante Ausländerfeinde, Impfgegner und Querdenker zusammen, deren Proteste ohne die 1968er-Revolte als Vorbild schwer vorstellbar sind, einschließlich der damit einhergehenden Gewalt: Von den Ausschreitungen in Rostock und Hoyerswerda, wo Asylantenheime abgefackelt wurden, über angeblich friedliche Pegida-Aufmärsche und die Mordtaten des NSU bis zu Drohungen gegen demokratisch gewählte Politiker zieht sich eine kaum getrocknete Blutspur durch das wiedervereinigte Deutschland. Die Ermordung des Christdemokraten Walter Lübcke hat gezeigt, dass die Verrohung grenzüberschreitend ist.
Wer wie ich die Radikalisierung des Studentenprotests von der sogenannten „Spaßguerilla“ über die Attentate der RAF und die Geiselnahmen der Bewegung 2. Juni miterlebt hat, reibt sich verwundert die Augen beim Anblick dieses Déjà-Vu. Eins aber ist sicher: Es passiert nicht zum ersten und letzten Mal, dass Links- und Rechtsextremisten voneinander lernen und einander an Menschenverachtung überbieten. Auch islamisch motivierte Terroristen von al-Qaida bis ISIS nehmen an dem Überbietungswettbewerb teil, und die Erstürmung des Capitols Anfang 2021 erinnerte nicht von ungefähr an die Belagerung des demokratischen Parteikonvents in Chicago 1968, obwohl die Trump-Anhänger von heute und die Vietnamkriegsgegner von damals nichts miteinander gemein hatten.
Was die Bürger der ehemaligen DDR betrifft, die gegen die angebliche Corona-Diktatur auf die Straße gingen, drängt der Verdacht sich auf, dass hier kompensatorisch etwas wettgemacht oder nachgeholt werden sollte, denn viele von denen, die jetzt am lautesten schreien, waren zu Lebzeiten der DDR mucksmäuschenstill. Statt für Bürgerrechte und gegen Zensur zu protestieren, arrangierten sie sich oder profitierten vom Unrechtsstaat – es ist bezeichnend, dass die AfD mehr Verständnis für Duckmäuser als für Dissidenten hatte und hat. Dass Rechtsausleger wie Trump, Orbán und Le Pen insgeheim oder offen Putin bewundern, passt ins politische Bild. Les extrêmes se touchent , wie gesagt.

3

Als ich vor über dreißig Jahren in einem Essay auf Parallelen zwischen Hitler und Stalin hinwies, war keine westdeutsche Zeitung bereit, den Text zu drucken: Die Totalitarismustheorie von Hannah Arendt galt als überholt, und ein die Entspannung ermöglichender, gesamtdeutscher Konsens besagte, das absolut Böse sei, wenn überhaupt, nur im Nazireich zu verorten. Einzig die linksradikale TAZ druckte den Beitrag.
Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben, und was heute von Historikern fast aller Denkschulen anerkannt wird, galt damals als Ketzerei: Dass im sowjetischen Gulag mehr Menschen ums Leben kamen als in deutschen KZ, dass die Tyrannen sich gegenseitig respektierten und dass ihr 1939 geschlossener Pakt, bei dessen Unterzeichnung Stalin auf das Wohl des Führers trank, kein Betriebsunfall war, sondern der Wesensverwandtschaft der Regimes entsprang und entsprach.
Schon vor dem Krieg soll Stalin zu Willi Münzenberg gesagt haben, Hitler sei ein Mordskerl, russisch: molodec, und Hitler gab mehrmals zu Protokoll, nicht Churchill oder Roosevelt, nur Stalin sei ihm ebenbürtig. Beider Hauptfeind war nicht der politische Gegner, sondern die eigene Partei: Die blutige Niederschlagung des Röhm-Putschs hat Stalin zur Großen Säuberung inspiriert, und Hitler bedauerte es im Nachhinein, nicht wie dieser das gesamte Offizierskorps liquidiert zu haben. Beide waren Antisemiten: Die prominentesten Opfer der Moskauer Prozesse waren Juden, allen voran der im Exil ermordete Trotzki. Noch kurz vor seinem Tod entfesselte Stalin eine Kampagne gegen jiddische Dichter und jüdische Ärzte, die er pauschal des Verrats bezichtigte: „Judas ist der ewige Verräter“, hatte er schon 1937 zu Lion Feuchtwanger gesagt.
Ist das nicht Schnee von gestern oder, wie Kubas Botschafter in Ostberlin sagte, als ich ihn nach Che Guevara fragte: „That’s history!“ Leider stimmt das nicht ganz, denn Putin hat Stalin rehabilitiert und die von Memorial begonnene Aufarbeitung seiner Verbrechen gestoppt, während er die Ukraine mit Krieg überzieht und sein Satrap Lukaschenko Stalin nacheifert. Die Literatur nahm den Totalitarismus vorweg, noch bevor er Wirklichkeit wurde: Hier ist vor allem George Orwells 1984 zu nennen, aber auch Aldous Huxleys Brave New World von 1932. Die dort ausgemalte Dystopie einer hedonistischen Welt, in der Sex zur Bürgerpflicht wird, aber Liebe verboten ist, wird überraschend aktuell, wenn ich in einer SPD-nah erstellten Zukunftsvision lese:

„Im Jahr 2048 gibt es: Ein Recht auf sicheren, selbstbestimmten, kostenlosen Zugang zu Schwangerschaften und Schwangerschaftsabbrüchen für alle Menschen, kostenlose Verhütungsmittel, vielfältige sexuelle Bildung und viele verschiedene Familienmodelle.
Im Jahr 2048 gibt es nicht mehr: Informationseinschränkungen bezüglich medizinischer Eingriffe, Grenzen, Entwicklungshilfe und Bevölkerungspolitik, die, getarnt als Klimaschutz auf Kosten der Selbstbestimmung von Frauen und Queers im globalen Süden gehen. (…) Im Jahr 2048 leben wir in einer Welt voller Freude, Genuss, körperlicher Autonomie, Integrität und Freiheit. Wir wagen es, uns ganz intim zu fragen: Was will ich für mich und meinen Körper?“

Ich frage mich, ob die Verfasserinnen Orwell oder Huxley gelesen haben – wohl eher nicht. Bestimmt aber haben Sie Foucault und Derrida gelesen – das geht aus ihrer verqueren (nicht queeren!) Sprache hervor. Kostenlose Schwangerschaft und/oder Abtreibungen gab es schon im Dritten Reich: Stichworte Lebensborn und Euthanasie. Dass es sich um eine Horrorvision handelt, die dem Überdruss an der Demokratie entspringt und die im Namen des Körpers die Abdankung des Geistes propagiert, war den Autorinnen vermutlich nicht bewusst.

Letzte Änderung: 23.07.2025  |  Erstellt am: 23.07.2025

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