Was haben Sanna Marin, Anna-Lena Baerbock, und die Europawahl-Spitzenkandidatin der österreichischen Grünen Lena Schilling gemeinsam? Was wie eine schlechte Scherzfrage klingt, verdient eine durchaus ernste Antwort: Alle drei sind Politikerinnen. Und alle drei mussten sich jüngster Zeit gefallen lassen, dass politisch völlig irrelevante Aspekte ihres Privatlebens in augenscheinlich sorgfältig orchestrierten Medienkampagnen zum Dreh- und Angelpunkt ihrer beruflichen Laufbahn wurden. Die Affäre Schilling ist weit mehr als eine bizarre Randerscheinung des österreichischen Europawahlkampfes. Einmal mehr zeigt sich, wie nationale Medien auf europäischer und internationaler Ebene Politik machen – und wie sehr systemische Misogynie noch immer zu den Grundfesten unseres politischen Systems gehört.
Die österreichische Tageszeitung Der Standard veranstaltet seit einigen Wochen eine regelrechte Kampagne gegen die Grüne Europawahl-Spitzenkandidatin Lena Schilling; seit Kurzem beteiligt sich nun auch der Spiegel, jenes deutsche Qualitätsmedium, das sich schon maßgeblich an Bemühungen beteiligt hatte, Anna-Lena Baerbock in den politischen Ruin zu schreiben. Der Titel “Wie Österreichs Grüne sich selbst und ihre Spitzenkandidatin zerlegen” ist ganz offensichtlich hoffnungsfrohes Programm der Berichterstattung; auch der irreführende Subtitel “Lena Schilling will für die österreichischen Grünen ins EU-Parlament. Vorwürfe von Lügen und Gewalt überschatten diesen Plan.” Hätte Lena Schilling nicht gerade ganz andere Schlachten zu schlagen, läge rein darin bereits der Grund für eine Beleidigungsklage, ist doch – zumindest im Zivilrecht – einer zweideutigen Aussage immer der negativste Gehalt beizulegen. Auch die Kommunikationstheorie geht davon aus, dass die Ursachen von Misskommunikation primär auf Seite der Sendenden zu suchen sind. Und diejenige Leserin, die nicht bereits mit der Affäre Schilling vertraut ist, wird hier schon im Vorfeld den Eindruck gewinnen, dass Schilling selbst vorgeworfen werde, gelogen und Gewalt ausgeübt zu haben. Dass der Artikel das selbst geschaffene Missverständnis auch wieder aufklärt, ist hier nur bedingt von Bedeutung, haben doch psychologische Experimente wieder und wieder gezeigt, wie sehr der Ersteindruck jede weitere Information färbt, die man über eine Person erhält.
Dass die Demontage der Grünen Spitzenkandidatin allerdings nicht der eigenen Partei sondern vielmehr den Mainstream-Medien ein besonderes Anliegen ist, wird in jedem Absatz des Spiegel-Artikels deutlich. Im Fall Lena Schilling gibt es kaum gesicherte Fakten, wohl aber viele Meinungen; mehr als sonst gilt also hier: der Ton der Berichterstattung macht die Musik. Und dieser Ton ist in hohem Maße besorgniserregend: von einem “»Gossip-Girl-Skandal« im Graubereich zwischen Privatem und Politischem” liest man im Spiegel, von “einer Mischung aus »Telenovela und ›House of Cards‹ für Arme«”. In einer Zwischenüberschrift wird Schilling als “Lügen-Lena” apostrophiert. Alles, wie man sich hervorzuheben beeilt, nicht die Formulierung des Spiegel selbst; es handle sich ja lediglich um Zitate aus der österreichischen Presse. Allein: die Auswahl dieser Zitate hat der Spiegel wohl selbst zu verantworten. Das Alignment mit deren Aussage- und Wertungsgehalt – bereichert um die vermeintliche Legitimation durch den Ursprung im Heimatland des Schilling-Skandals – ist offensichtlich.
Auch an anderer Stelle geht man in der Selektion ähnlich subtil vor: aus der rhetorisch ungeschickten aber menschlich und politisch unanfechtbaren Unterstützungserklärung des Parteivorsitzenden Kogler wird just jener Teil zitiert, der das höchste Maß an sprachlicher Uneleganz mit dem geringsten Aussagegehalt vereint. Interessant auch die Präsentation unterschiedlicher Meinungen aus den Reihen Schillings eigener Partei: zwei knappe Zeilen widmet man Sybille Hamanns Vermutung, dass institutionelle Misogynie etwas mit der Causa zu tun haben könnte, um sie im nächsten Absatz und ohne weitere Begründung sogleich als “etwas zu simpel” abzutun. Im Gedächtnis der Leserin bleibt der Umstand, dass die zitierte Vertreterin der Gegenmeinung Anneliese Rohrer kürzlich für ihr Lebenswerk geehrt wurde. Dass nicht erwähnt wird, dass Hamann – von der altersbedingt noch nicht erfolgten Prämierung für das journalistische Lebenswerk abgesehen – für ihr Werk weitgehend dieselben Auszeichnungen wie Rohrer erhalten hat, ist sicherlich rein dem Zufall und dem Bemühen um prägnante Kürze in der Berichterstattung geschuldet. Unterfüttert wird all dies auch durch die vom Spiegel selbst gewählte Terminologie: von einer “Politaufsteigerin” und “charismatischen Quereinsteigerin” ist da die Rede, die “das Rollenprofil jung, schlau, Frau und widerständig perfekt zu erfüllen schien” (meine Hervorhebung); erwähnenswert ist auch Schillings Bühnenerfahrung als Tänzerin, nicht aber ihr politischer Lebenslauf.
Dankenswerter Weise streicht aber selbst der Spiegel hervor, wie tendenziös schon die ursprüngliche Berichterstattung über die Causa Schilling war, die am 9. Mai dieses Jahres von der österreichischen Tageszeitung Der Standard losgetreten worden war: Kritik an Schilling habe es auch und vor allem aus den eigenen Reihen gegeben, heißt es da. Und gerade mit “Dutzenden” dieser Kritiker:innen habe der Standard gesprochen, bevor der Artikel erschien, der den Stein ins Rollen brachte. Dass man auch Dutzende Unterstützer:innen Lena Schillings kontaktiert habe, um den Leser:innen ein ausgewogenes Bild zu bieten, ist der Berichterstattung hingegen nicht zu entnehmen – gerade in einem medialen Klima, das sich bei jeder auch noch so unpassenden Gelegenheit einem demokratiepolitisch höchst bedenklichen Both-side-ism verschreiben hat, überrascht dies – oder etwa nicht?
Sehen wir uns die Vorwürfe gegen Schilling einmal genauer an: Die Grüne Spitzenkandidatin habe in private Rahmen geäußert, dass Veronika Bohrn Mena Opfer häuslicher Gewalt geworden sei. Wie viele andere vor ihr wurde sie daraufhin vom Ehepaar Bohrn Mena geklagt; freiwillig erklärte sie sich daraufhin bereit, im Rahmen eines gerichtlichen Vergleichs eine Unterlassungserklärung zu unterschreiben. Lena Schillings Äußerung – deren Wahrheitsgehalt noch nicht abschließend feststeht – war sicherlich indiskret und, gemessen an den Maßstäben des EU-Wahlkampfes, undiplomatisch. Dass das Gerücht über das Eheleben der Bohrn Menas einer größeren Öffentlichkeit zugänglich wurde, ist aber mitnichten Schilling anzulasten – publik im eigentlichen Sinne machte es immerhin erst die Berichterstattung des Standard. Umso überraschender ist, dass das Ehepaar nunmehr Klage gegen Schilling erhoben hat, nicht aber gegen jene Medien, welche die geäußerten Vorwürfe einem breiten Publikum zugänglich machten – nach österreichischem Recht wäre dies ebenso möglich: rechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann schlussendlich nicht nur diejenige, die ein Gerücht in die Welt setzt, sondern auch diejenige, die es weiterverbreitet.
Ihr Privatleben den neugierigen Blicken der Öffentlichkeit zu entziehen scheint den Bohrn Menas aber gerade kein besonderes Anliegen zu sein, hätte man es diesfalls doch bei der bereits von Schilling unterzeichneten Unterlassungserklärung bewenden lassen können. Alles andere ist eine bewusste Herbeiführung des altbekannten Barbara-Streisand-Effekts: erst durch das öffentliche Dementi wird der vermeintlich geheimzuhaltende Sachverhalt der Öffentlichkeit bekannt. Sebastian Bohrn Mena scheint dies aber mittlerweile wenig zu stören – schließlich teilte er den fraglichen Standard-Artikel auf Instagram. Das Gerichtsverfahren gegen Schilling wird für Connaisseure des Beleidigungsrechts noch spannend: Das österreichische Zivilrecht sieht vor, dass dort Schadenersatz zuzuerkennen ist, wo die Klägerin durch eine unwahre Tatsachenbehauptung einen finanziellen Schaden oder Gewinnentgang erfahren hat, wozu im allgemeinen auch der– finanziell nur schlecht bemessbare – politische Imageverlust zu zählen ist. Wie damit umzugehen sein wird, dass der klagenden Partei, deren Image in den österreichischen Medien ansonsten wahrhaft kein unbeflecktes ist, durch eine unwahre Tatsachenbehauptung schlussendlich den Gewinn einer geradezu überschäumend wohlwollenden medialen Berichterstattung und einer ansonsten kaum zu erreichenden Medienpräsenz zugefallen ist, wird noch abzuwarten sein.
Dass sich Sebastian Bohrn Mena unangenehm berührt fühlt, wenn ihm eine Bekannte unterstellt, er habe seine Frau geschlagen, ist freilich nachvollziehbar. Nachvollziehbar ist aber auch die Erklärung Schillings, dass sie sich um ihre Freundin Veronika Bohrn Mena Sorgen gemacht habe. Vorwürfe wie jene, die Lena Schilling in einem privaten Chat gegen Sebastian Bohrn Mena erhoben hat, sind für Außenstehende schwer verifizierbar: häusliche Gewalt ist oft von außen kaum sichtbar und kommt in allen gesellschaftlichen Kreisen vor; dass Betroffene nicht offen darüber reden oder die Täter:innen sogar aktiv schützen ebenso. Ist es Lena Schilling also wirklich anzulasten, dass sie sich aus Sorge über ihre Freundin anderen anvertraut und deren Rat gesucht hat? Bedenklich ist vor allem der Zynismus, mit welchem eine solche Erklärung als naiv und unglaubwürdig von der Hand gewiesen wird. Wieso eigentlich? Erlauben Sie mir, Sie zu einem Gedankenexperiment zu verleiten: Sie beobachten, dass sich eine gute Freundin immer mehr von Ihnen zurückzieht. Sie haben den Eindruck, dass sie eheliche Probleme hat, über die sie sich nicht zu sprechen traut; sie vermuten, dass der Mann ihrer Freundin diese schlägt. Sie könnten nun die Schultern zucken und die Sache ignorieren. Das tun Sie aber nicht: Sie sind ein anständiger Mensch, und Ihre Freundin liegt Ihnen am Herzen; gleichzeitig sind Sie aber auch ein wenig ratlos. Einerseits ist es natürlich die Privatangelegenheit Ihrer Freundin; andererseits haben sie die breit angelegte Kampagne zur Prävention von Femiziden mitverfolgt, sind sensibilisiert für die Thematik häuslicher Gewalt gegen Frauen, wollen sich nicht nachträglich Vorwürfe machen müssen, dass Sie wohl etwas vermutet, aber nicht gehandelt hätten. Zur Polizei zu gehen scheint Ihnen nicht ratsam – schließlich haben Sie ja keine Beweise, sondern lediglich Ihr Bauchgefühl; also suchen Sie Rat im Freundeskreis. Dass Sie sich Probleme mit den Betroffenen einhandeln können, wenn Sie sich irren, ist Ihnen vage bewusst; was aber andererseits, wenn Sie sich nicht irren? Wiegen die Unannehmlichkeiten, die Ihnen im Fall eines Irrtums drohen könnten, nicht weit weniger schwer als die Gefahr, in der Ihre Freundin möglicherweise schwebt? Wäre Lena Schilling Sekretärin, Verkäuferin, Frisörin, Büroangestellte – man fände ihre Handlungen nicht nur nachvollziehbar und entschuldbar, sondern nachgerade sympathisch: ein Akt fehlgeleiteter Zivilcourage, aber Zivilcourage immerhin, getragen von einem Übermaß an Empathie und einem Quäntchen Unerfahrenheit.
Da Lena Schilling nun aber Politikerin ist, und Politiker:innen, wie allgemein bekannt, weder menschliche Regungen noch lautere Absichten und schon überhaupt kein Privatleben haben dürfen, ist es Aufgabe der Medien, das politische Kalkül ihrer Handlungen und deren Auswirkungen auf ihre berufliche Karriere zu ermitteln, sie in den Kontext der nahenden Europawahl und der politischen Reputation ihrer Partei zu stellen. Dass dies nicht wohlwollend geschehen darf, versteht sich von selbst: nur kritischer Journalismus ist guter Journalismus; wirklich konstruktive Kritik ist jene, die aus jedem noch so banalem Tatsachensubstrat die weitreichendsten Querverbindungen zu politischen Fehltritten der Vergangenheit zu konstruieren vermag. Der Kreativität sind hier keine Grenzen gesetzt, schon garnicht jene der Logik und Verhältnismäßigkeit. So verwundert es auch kaum, dass der Spiegel die Handlungen Schillings mit der Ibiza-Affäre in Verbindung bringt: Damals hatte ein führender Politiker versucht, mittels Kontakten zu russischen Oligarch:innen die auflagenstärkste Tageszeitung des Landes unter die inhaltliche Kontrolle seiner Partei zu bringen. Heute erhebt eine junge Frau private Vorwürfe gegen einen einflussreichen Umwelt-Aktivisten. Ersteres hat weitreichende Konsequenzen für die demokratische Meinungsbildung im eigenen Land und unterwandert die innenpolitische Souveränität Österreichs; zweiteres hat Auswirkungen auf das persönliche Image Bohrn Menas. Die Parallelen liegen also klar auf der Hand – zumindest für den Spiegel. Ähnlich subtil die Vergleiche, die der Standard bringt: hoffnungsfroh erinnert man an jenes politische Erdbeben 2017, als Peter Pilz die Grünen verließ und die gesamte Jugendorganisation der Grünen geschlossen zurücktrat, um ihren Protest gegen die damalige Parteivorsitzende Eva Glawischnig auszudrücken. Man sieht also, wohin die Reise gehen soll, wenn es nach dem Standard geht.
Werfen wir aber zuerst einen kurzen Blick auf deren Ausgangspunkt: einem Artikel im Standard Anfang Mai, in welchem berichtet wurde, dass die Grüne Spitzenkandidatin sich am 12. April in einer Unterlassungserklärung verpflichtet habe (wohlgemerkt: im Rahmen eines Vergleichs, nicht aufgrund eines Gerichtsurteils!), künftig nicht mehr zu behaupten, dass eine ihrer Freundinnen Opfer häuslicher Gewalt geworden wäre. Dies machte der Standard zum Ankerpunkt, weitere Beispiele für Lena Schillings „problematischen Umgang mit der Wahrheit“ zu thematisieren. Bezeichnend ist, dass der Standard nach eigenen Angaben bereits Wochen vor der Veröffentlichung begonnen hatte, „ergebnisoffen“ über die Grüne Spitzenkandidatin zu recherchieren. Denn, so heißt es weiter, “beide Varianten wären politisch relevant: sowohl eine orchestrierte Verleumdung von Schilling durch ihr früheres enges Umfeld als auch eine Spitzenkandidatin, die problematische Verhaltensmuster an den Tag legt.” Bemerkenswert ist hier vor allem jene dritte Variante, die der Text nicht erwähnt: diejenige einer von politischen Gegnern losgetretenen Hetzkampagne gegen die Grüne Spitzenkandidatin. Vielmehr bemüht sich der Standard, erstere Vermutung zu entkräften: Man habe mit fünfzig Leuten gesprochen, „fast einhellig“ attestiere man Schilling einen Hang zu Klatsch und Tratsch im Freundeskreis, und ein Auge für den eigenen beruflichen Vorteil im Umgang mit Kolleg:innen. Wie sehr dies die Leserin zu überraschen hat, bleibt dahingestellt: eine gewisse Flexibilität im Umgang mit Fakten und die Fähigkeit, anderen die eigene Sichtweise schmackhaft zu machen, sind einer politischen Karriere gemeinhin nicht völlig abträglich.
Dass die Vorwürfe, die der Standard gegen Schilling erhebt, nicht von jener Tragweite sind, die man ihnen gerne beimessen möchte, sucht der Text mit Superlativen zu kaschieren: die Unterlassungserklärung im Fall Bohrn Mena sei lediglich „die Spitze des Eisbergs“, zitiert man Kritiker:innen Schillings; die junge Politikerin habe vielerorts „verbrannte Erde“ hinterlassen. Das Tatsachensubstrat, in dem diese Metaphern wurzeln, bleibt der Leserin verborgen: lediglich, dass Schilling „viele Manschen verärgert oder verletzt, einige sogar in existenzbedrohende Schwierigkeiten gebracht“ habe, erfährt man. Dass ersteres im Kontext einer Polit-Karriere überhaupt erwähnenswert erscheint, überrascht ebenso wie der Umstand, dass zweiteres nicht näher ausgeführt wird: wenn die junge Politikerin tatsächlich mehrere Personen in ihrer Existenz bedroht haben sollte, hätte die wahlberechtigte Öffentlichkeit doch ein begründetes Interesse daran, darüber genauer aufgeklärt zu werden.
Was sich Lena Schilling laut Standard zu Schulden kommen lassen haben soll, bleibt jedenfalls weit hinter „existenzbedrohend“ zurück: Außenstehende behaupten, Schilling habe einem Journalisten vorgeworfen, sie belästigt zu haben; dieser habe die Vorwürfe seinem Arbeitgeber gegenüber sofort entkräften können. Einem anderen Journalisten habe sie Affären mit Grünen Politikerinnen angedichtet; dass dies seine Karriere auch nur im Geringsten tangiert habe, behauptet der Standard nicht einmal. Mit Erstaunen stellt man fest, dass der Standard auch daraus einen Vorwurf zu konstruieren versucht, dass Lena Schilling bei einer Party im Wiener U4 von ihrem Parteikollegen Stammer belästigt worden und in weiterer Folge von einem Journalisten beschützt worden sei, den Stammer daraufhin tätlich angegriffen habe. Schilling habe Stammer zuvor den ganzen Abend lang unfreundlich behandelt, liest man – man möchte dem Standard beinahe victim blaming auf unterstem Niveau vorwerfen, würde man nicht darüber aufgeklärt, dass das eigentlich Problematische an der Angelegenheit sei, dass man Schillings Namen nicht sofort offengelegt habe. Von ähnlicher Gravität auch der letzte Vorwurf: Schilling habe in ihrer Funktion als Jugendführerin das Vertrauen Jüngerer dazu genutzt, ihre eigene politische Karriere zu fördern. Die unmittelbar Betroffenen schweigen; der Standard beeilt sich aber zu versichern, vertrauenswürdige Quellen gesprochen zu haben, welche allesamt nicht genannt zu werden wünschen.
Ob man mit ähnlich gründlichen Recherchen im privaten und beruflichen Umfeld der Spitzenkandidat:innen der anderen Parteien nicht ähnlich Skandalöses zu Tage fördern hätte können, sei dahingestellt; etwaiges Fehlverhalten der anderen rechtfertigt ja nicht das etwaige Fehlverhalten Schillings. Ebenso dahingestellt lässt der Standard aber die Frage, warum man gerade die Spitzenkandidatin der Grünen derartig ins Visier genommen hat: Man berichte ganz einfach die Fakten, beteuert man seitens der Tageszeitung. Schlussendlich habe man auch über die strafrechtlich relevanten Vorwürfe berichtet, die Vilimsky in der Spesenaffäre gemacht würden, ebenso darüber, dass Lopatka an einer rechtsextremen Demonstration teilgenommen haben soll. Beinahe rührend der Nachsatz: Politiker:innen hätten höheren charakterlichen Maßstäben zu genügen als Normalsterbliche, heißt es da sinngemäß; schlussendlich hätten sie ja moralische Vorbildwirkung. Dass ein Medium, welches seit Jahrzehnten investigativen Journalismus betreibt, noch an dieses Postulat zu glauben vorgibt, erreicht ein Maß an Scheinheiligkeit, das selbst geübte Politiker:innen nur selten herankommen. Ob der Standard gerade deswegen meint, jene moralischen und charakterlichen Standards festlegen zu können, welchen die Politik ab sofort zu genügen hat, bleibt offen. Genauso wenig erfährt man, weshalb es wünschenswert sein sollte, dass Politiker:innen (als hoffentlich einzige Berufsgruppe!) an ihrem privaten Verhalten anstatt ihrer beruflichen Kompetenz gemessen werden. Aber zumindest kann sich die Leserin nun in einer Hinsicht beruhigt zurücklehnen: im Umkehrschluss ist davon auszugehen, dass es über Schillings Kompetenz in Fragen des Umweltschutzes und der Europapolitik nichts Negatives zu berichten gibt.
Mittlerweile ist aber wohl auch dem Standard bewusst geworden, dass ein anständiger Polit-Skandal zumindest ein Mindestmaß an Politik erfordert. Und so wird Lena Schilling seit dem 21. Mai vorgeworfen, sie habe darüber nachgedacht, nach der Europawahl zur Linksfraktion zu wechseln. Sowohl Schilling als auch die Grünen dementieren diese Gerüchte; selbst ein SPÖ-Funktionär leistet Schützenhilfe, indem er bezeugt, dass diese Idee lediglich scherzhaft von anderen in den Raum gestellt worden sei. Der Standard beruft sich auf „andere Gespräche“, auf eine „eidesstattliche Erklärung“ nicht näher ausgeführten Inhalts, und auf einige kontextbefreite Chat-Nachrichten, aus denen das Behauptete just nicht hervorgeht. Als weiterer Beweis wird ein Bericht des Spiegel zitiert, der sicherlich nur rein zufällig von einem der Ko-Autoren des Standard-Artikels stammt; wo die Beweislage dünn ist, muss man eben selbst Hand an die Tastatur legen.
Dass Schilling sich nicht untadelig verhalten hat, scheint offenkundig, auch wenn ihre Fehler in ihrer moralischen und menschlichen Tragweite wohl weit hinter jenen zurückbleiben, welche der Standard als Vergleichswerte ins Spiel bringt. Das Narrativ, das man mit ein wenig Wohlwollen und Fingerspitzengefühl konstruieren hätte können, hätte auch ganz anders aussehen können: Anstatt die augenfällige Naivität und Ungeschicklichkeit Schillings zum Kritikpunkt zu erheben, hätte man sie sich als positiv konnotiertes Alleinstellungsmerkmal hervorstreichen können: die Grünen als jene Partei, die selbst dort Kritik zulässt, wo es dem eigenen Geldbeutel schadet; die Enthusiasmus und Zivilcourage auch dort anerkennt, wo einmal versehentlich über das Ziel hinausgeschossen wird; die Fehler zulässt, weil man eben nicht nur erfahrene Polit-Profis in den Vordergrund stellt – kein schlechtes Gegengewicht zu den für viele unwählbar gewordenen Karrierepolitikern, die das tatsächliche Wähler:inneninteresse ganz selbstverständlich dem eigenen Macht- und Imageerhalt opfern.
Und an diesem Punkt wird nun hoffentlich augenfällig, in welchem Umfang die gesamte Angelegenheit in ein System nicht nur institutionalisierter, sondern auch im psycho-logischen Sinne zutiefst internalisierter Misogynie eingebettet ist: wenn die beste Strategie im Umgang mit einem beruflichen Fehlgriff einer Politikerin der Rückzug ins Klischeehafte ist; wenn die Selbstapostrophierung als „Zuckergoscherlrevolutionärin“ plötzlich als unironisches Branding funktioniert und traditionell weiblich konnotierte Eigenschaften wie Empathie, Impulsivität und unreflektierte Emotionalität die beste Verteidigungsstrategie sind, dann krankt es nicht nur am politischen System, sondern an der gesamtgesellschaftlichen Werteordnung.
Will man die Causa Schilling in diesem Lichte besser begreifen, so lohnt es sich, das Augenmerk auf drei unterschiedliche Facetten zu richten: Zum Ersten hat Schilling gegen die Regeln des politischen Systems verstoßen, nach welchen man parteiinterne Kritik oder Kritik an außerparteilichen Unterstützern nur dann nach außen trägt, wenn dies politisch opportun ist. Zum Zweiten hat Lena Schilling den Verdacht häuslicher Gewalt aufgezeigt und damit Gerüchte über das Eheleben eines befreundeten Paares in die Welt gesetzt. Und zum dritten ist sie eine Frau. Dass diese drei Ebenen in der Praxis untrennbar miteinander verbunden sind, bedeutet keineswegs, dass man sie in der kritischen Auseinandersetzung auch so behandeln dürfte; je enger die Verknüpfungen und Interaktionen, desto unerlässlicher ist es, den Versuch einer klaren Trennung dieser Komponenten zu unternehmen. Nur so kann man sich der Frage, ob und welchem Maße die mediale Kritik an der Grünen Spitzenkandidatin erklärbar und gerechtfertigt ist, auch nur einigermaßen reflektiert annähern.
Blicken wir auf die erste Ebene, jene der Berufspolitik, so kommt man nicht umhin einzuräumen, dass Lena Schilling ungeschickt gehandelt hat: Bohrn Mena ist ein wichtiger und finanziell nicht unbedeutender Unterstützer Grüner Agenden, und als Spitzenkandidatin beißt man nun einmal nicht die Hand, die die eigene Partei füttern könnte. Nicht nur deswegen ist die Kritik, die Lena Schilling sich mitunter auch aus eigenen Reihen gefallen lassen muss, nachvollziehbar. Auch das Argument, dass man als Politikerin sich des Umstandes gewahr sein müsse, dass das Private eben nicht privat bleibt, hat Gewicht. Was erschwerend hinzukommt ist, dass einige von Schillings Vorwürfen Journalisten betreffen: kein kluger Schachzug, wenn man mitten im Wahlkampf steht und auf mediales Wohlwollen für sich selbst und seine Partei angewiesen ist. Hier hat Schilling also zweifellos Fehler gemacht; hat gegen geschriebene und ungeschriebene Regeln des Systems verstoßen, in dem sie sich bewegt und als dessen Teil sie sich eine berufliche Karriere aufbauen will. Dass dieses System in seinem zynischen Opportunismus zutiefst fragwürdig und reformbedürftig ist, tut hier wenig zur Sache: Revolution von innen sieht anders aus. Schillings Vorgehen war, an allen etablierten Maßstäben gemessen, schlicht und einfach unprofessionell. Diese Unprofessionalität durch Alter oder Geschlecht zu rechtfertigen, schlägt, wie wir gerade gesehen haben, in eine höchst problematische Kerbe: „junge Frauen sind eben so“ sollte heutzutage kein Argument mehr sein, der Zweck des Gender-Stereotyps heiligt auch hier nicht das Mittel. In welchem Ausmaß Schilling dieser Fehler nun aber angelastet wird, und mit welchen Mitteln die Grüne Spitzenkandidatin in den Medien desavouiert wird, ist allein dadurch aber nicht zu erklären.
Die Erklärung liegt also anderswo – und zwar just dort, wo die Grüne Spitzenkandidatin noch direkter mit patriarchalen Machtstrukturen in Konflikt geraten ist: Wer sich als Außenstehende mit Befürchtungen über häusliche Gewalt Dritter an die Öffentlichkeit wagt, bewegt sich notwendigerweise in einem sehr prekären Spannungsfeld zwischen der Wahrung der Privatsphäre anderer und dem Schutz der Betroffenen. Und wenn der angebliche Gewalttäter ein politisch einflussreicher, finanziell potenter und überaus klagfreudiger Mann wie Sebastian Bohrn Mena ist, dann können die Konsequenzen sehr unangenehm werden – bis hin zur Zerstörung der eigenen beruflichen Zukunft. Der eklatante Mangel an medialer Selbstreflektion der gesellschaftlichen Verantwortung, welche die Berichterstattung über eine solche Thematik mit sich bringt, erschreckt. Fatal wäre es, wenn die Woge der medialen Empörung über Schillings vermeintliche Indiskretion zur Folge hätte, dass sich Zeug:innen häuslicher Gewalt aus Angst vor persönlichen Konsequenzen nun erst recht nichts mehr zu sagen trauten; naheliegend ist eine solche Vermutung aber durchaus. Der Standard, ansonsten nicht scheu sich feministische Politik auf die Fahnen zu heften, ist sich dieses blinden Flecks scheinbar nicht bewusst.
Hier kommt nun die dritte Ebene zum Tragen: die Mutmaßung, dass ein großer Teil der Kritik an Schilling auch dadurch (mit)bedingt ist, dass sie eine Frau ist, ist keinesfalls von der Hand zu weisen; wenn sie uns naiv erscheint, so nur deswegen, weil diese Betrachtungsweise die beiden anderen Ebenen mitunter zu weit in den Hintergrund stellt, die Querverbindungen zu wenig aufzeigt – und letztendlich zu offensichtlich ist, als dass man sich als deren Vertreterin auf die Fahnen heften könnte, etwas grundlegend Neues entdeckt zu haben. Dass es Frauen mitunter schwieriger haben als Männer, hat man schlussendlich schon ad nauseam gehört. Doch das diese Beobachtung mittlerweile langweilig geworden ist, macht sie nicht weniger korrekt. Mit großem Bedauern lasse ich meine persönliche Eitelkeit also nun kurz beiseite und behaupte: dass Lena Schilling eine Frau ist, hat ganz maßgeblich mit dem, was hier geschieht, zu tun. Gestatten sie mir ergänzend auch die unoriginelle Anmerkung, dass der Mediendiskurs sich merklich anders gestalten würde, wenn im Mittelpunkt der Kontroverse ein fünfzigjähriger Mann anstelle einer dreiundzwanzigjährigen Frau stünde. Sollten Sie selbst eine Frau sein oder die eine oder andere Frau kennen, haben Sie dieses Phänomen vielleicht schon einmal beobachtet: Eine junge Frau, die, wie Hamann es plakativ formulierte, nicht stillsitzt und den Mund hält, eckt fast unweigerlich an – und diese Erfahrung musste, nach ihrer deutschen Parteikollegin Annalena Baerbock, nun auch die österreichische Grüne Spitzenkandidatin machen.
Doch die Kampagne gegen Schilling richtet sich keineswegs nur ad personam; vielmehr ist es ein konzertierter Angriff auf die Grüne Partei, der man inhaltlich in diesem Wahlkampf nicht viel vorzuwerfen hat. Die Medien haben zweifellos nicht unrecht, wenn sie mutmaßen, dass das Spannungsverhältnis zwischen Grünen Parteiinteressen und Grüner Genderpolitik, zwischen Loyalität zu plakativen Ehrlichkeitsidealen und Loyalität zu ihrer allzu menschlichen Spitzenkandidatin, welches sich aus dem Schilling-Dilemma ergibt, dem parteiinternen Zusammenhalt nicht förderlich sein kann. Mit offenkundigem Missfallen muss man nun aber konstatieren, dass die Grüne Partei das Narrativ der politischen Selbstzerstörung aber nur sehr begrenzt mitträgt. Der Umgang mit den Turbulenzen, in welche ihr EU-Wahlkampf geraten ist, ist geradezu vorbildlich – man ist um Schadensbegrenzung und Informationsmanagement bemüht, präsentiert eine geschlossene Front und pocht auf Inhaltliches. Die mediale Empörung darüber, dass das Schilling-Skandälchen von selbst nicht ganz zum Skandal werden möchte, ist demzufolge groß: die Partei habe sich geschlossen hinter die junge Spitzenkandidatin gestellt, klagt man; nur ganz vereinzelt gäbe es Kritik aus den eigenen Reihen. Anonyme Vorwürfe habe man als anonyme Vorwürfe bezeichnet, Gerüchte als Gerüchte. Kurz gesagt: es gibt nicht viel zu kritisieren – also stößt man sich, wieder und wieder und mit wachsendem theatralischen Entsetzen, an der Wortwahl des Parteivorsitzenden. Voll berechtigter Empörung, dass das, worüber man eigentlich berichten möchte, schlicht und einfach nicht stattfindet, sehen die Medien keinen Ausweg mehr, als den prognostizierten Untergang der jungen Europapolitikerin und den Zerfall der Grünen selbst herbeizuführen – man will doch nicht riskieren, sich in den Polit-Prognosen geirrt zu haben. Noch weniger will man in Kauf nehmen, dass das Interesse der Öffentlichkeit sich auf das Niveau reduziert, welches die Angelegenheit eigentlich verdienen würde, dass die Klicks und Verkaufszahlen wieder schwinden. Und Schillings kolportierte Attacken auf Journalisten gilt es am Rande auch noch zu rächen.
Doch die Hartnäckigkeit, mit der die mediale Berichterstattung das Grüne Parteiimage zu torpedieren sucht, legt nahe, dass hier fundamentalere Interessen zu Grunde liegen als reine journalistische Eitelkeit. Im Grunde genommen geht es hier auch nicht um Innen- oder Europapolitik, sondern um die subliminalen gesellschaftlichen Werte, welche die Causa in Frage zu stellen droht: Wollen wir denn wirklich eine Welt, in der Täter befürchten müssen, dass häusliche Gewalt nicht mehr als pure Privatangelegenheit gesehen wird? Eine Welt, in der einflussreiche Männer Kritiker:innen nicht nach Belieben mundtot klagen können? Eine Welt, in der ein zynisches Kalkül in der Politik weniger Berücksichtigung findet als Empathie und Toleranz für menschliche Fehler? In der patriarchale Strukturen ungestraft aufgebrochen werden können und eine junge Frau zur Europawahl kandidieren kann, ohne es sich gefallen lassen zu müssen, dass das mediale Establishment in ihrem Privatleben wühlt und mit erhobenem Zeigefinger über ihre charakterliche Eignung urteilt? In der nicht nur eine Einzelperson, sondern eine ganze Partei sich gegen das stellt, was immer war und immer funktioniert hat? Schier untragbar wäre es offenbar, dass die Grünen, die diesmal mehr als je zuvor mit der Wahl ihrer Spitzenkandidatin die grundlegendsten Strukturen des Patriarchats in Frage gestellt haben, ungestraft damit davonkommen. Während die Politik langsam erkennen muss, dass die Aufrechterhaltung des genderpolitischen Status quo sich nicht mehr uneingeschränkt als explizites Parteiprogramm eignet, ist die Sicherung des patriarchalen Grundgefüges nun Aufgabe der Medien: wer aufmuckt, wird kleingeschrieben.
Letzte Änderung: 05.06.2024 | Erstellt am: 05.06.2024