Gute und böse Geister in Wien

Gute und böse Geister in Wien

Essay
Reichsbrücke, Wien, 25. Dezember 1980 | © TARS631, wikimedia commons

Die österreichische Hauptstadt bleibt eine Metropole des Abgründigen. Schriftstellerin Ela Angerer erinnert sich an ihre Anfänge in den 80er- und 90er-Jahren:

Ich lernte Kali in den frühen 1990ern auf einer Faschingsparty in der Blutgasse kennen. Warum diese Gasse im ältesten Teil der Stadt so heißt, wollte ich mir auf dem Hinweg lieber nicht ausmalen.

Kali trug einen schiefen Zylinder auf dem Kopf, darunter schwarze, schulterlange Locken. Ich hatte mir einen Reifen mit zwei riesigen Mickey-Mouse-Ohren ins Haar gesteckt. Die Gastgeberin präsentierte sich als Rotkäppchen.

Bald stellte sich heraus: Wir waren ihre einzigen Gäste. Alle anderen, die eingeladen worden waren, hatten wohl keine Lust verspürt, sich zu verkleiden. So saßen wir zu dritt um den langen Esstisch. In einem Gastronomie-Kochtopf auf der Kommode simmerten zweihundert Paar Würstel. Auch der vorhandene Alkohol hätte für eine ganze Kompanie gereicht. Stattdessen, eine intime Kennenlernrunde, im vollen Kostüm.

Anfangs fühlte ich mich wie die Kandidatin einer Quizsendung. Doch mit jedem Glas, das wir leerten, jeder Pointe, die wir uns zuwarfen, schätzten wir die absurde Situation ein wenig mehr. Nicht nur, weil Kali und ich zu Hansi Lang und Les Rita Mitsouko tanzten. Auch, weil es ein Auftakt war, der Beginn einer großen Freundschaft.

Stunden später flanierten wir Arm in Arm durch die Nacht. Der erste Frost lag auf dem Kopfsteinpflaster, als kristallener Schimmer. Drei Mal schlug die Glocke im Stephansdom. Essiggasse, Griechenviertel, Fleischmarkt, Judengasse. Zu diesem Zeitpunkt war längst klar, dass Kali die Frauen liebte, auf rein platonische Art. Ich erzählte ihm, dass ich zur Untermiete im sechsten Bezirk wohnte. — „Oje”, sagte er, „das ist weit. Du kannst bei mir schlafen, wenn Du willst.” — Und weil wir jung waren und damals noch sehr spontan, fand ich die Idee richtig gut.

Bald standen wir vor seinem Haus. Massives Holztor, Barockfassade. Unter dem dünnen Licht einer Laterne das Straßenschild: Stoß im Himmel. Wie in einer Schneckenhausspirale ging es über Stufen hinauf in den obersten Stock. Kalis Wohnung war mit minimalistischem Chic eingerichtet. Ein paar Sitzmöbel im Wohnraum, ein modernes Bad, im Schlafzimmer ein großes Bett mit italienischer Leinenbettwäsche.

Müde legten wir uns hinein. Ich räkelte mich zufrieden, schloss die Augen. Aber dann blinzelte ich noch einmal, das erste Dämmerlicht fiel bereits durchs Fenster, und plötzlich sah ich ihn: Im Türrahmen lehnte ein Mann mit Mantel und Hut. Sein Gesicht lag im Schatten, wie überhaupt seine ganze Erscheinung. Täuschte ich mich? Nein, da stand jemand und beobachtete uns! Mein Herz raste. Ruckartig setzte ich mich im Bett auf und rief: „Kali, da ist jemand!”

Natürlich hatte ich mit der Möglichkeit gerechnet, ja, gehofft, dass mich mein neuer Freund für verrückt erklärt. Aber nein. Kali hob schläfrig den Kopf, drehte sich Richtung Türstock und sagte in diesem klassischen Wiener Tonfall, bei dem man die Vokale gelangweilt in die Länge zieht: „Ah, der scho‘ wieda. . . der tut dir nix, der is‘ nur lästig. Ignorier ihn und schlaf weiter!”

Das klang wie ein Befehl von jemandem, der die Zügel in der Hand behielt, in jeder Schieflage. Seltsam beruhigt zog ich die Decke über beide Ohren, hielt die Augen geschlossen und segelte bald davon. Trotzdem blieb es das erste und letzte Mal, dass ich bei Kali übernachtete.

Andere Geister entpuppten sich als greifbarer. Ich war in Vorarlberg aufgewachsen, hatte einen Umweg über Paris genommen und war schließlich am Wiener Westbahnhof angekommen — als renitente Schulabbrecherin, lebenshungrig und ohne Plan: die ideale Voraussetzung, um in die Eingeweide dieser düsteren Stadt einzutauchen. Denn Wien war bis Ende der 1980er-Jahre auf faszinierende Weise dark, wie man das heute zu sagen pflegt. Die Gebäudefassaden wirkten, als wären sie in Ruß getaucht, zählten wahrscheinlich zu den schmutzigsten in ganz Europa. Die Geschäftsinhaber, Kellner und Handwerker waren die arrogantesten auf diesem Planeten — so verblüffend unfreundlich, dass einem jeder ihrer „Auftritte” Respekt abverlangte.

Natürlich gab es Menschen mit besseren Umgangsformen. Die feinen Döblinger etwa, oder die blasierten Aristokraten. Regelmäßig sah man sie in gebügelten Blusen und Hemden über den Graben stolzieren. Man saß neben ihnen im Demel, während man sich um seine letzten zwölf Schilling eine Kanne Kaffee mit Jourgebäck leistete — einfach aus Jux und Tollerei. Aber man beneidete diese Leute nicht. Weil sie langweilig wirkten, wie Gefangene ihrer selbst, so empfand man es.

Dann schon lieber in einem Abteil sitzen mit all den Lebenskünstlern — beiderlei Geschlechts, — mit Literaten, Musikern, Bildhauern und Schauspielern, mit Betrügern und Verrückten. Das Zentrum dieses Paralleluniversums war die Bäckerstraße mit ihren Ausläufern, dort, wo frühgotische Bauten auf Renaissance-Architektur treffen.

Über Umwege hatte ich mir einen Job in einer Textildruckerei organisiert. Dort arbeitete ich jetzt, in der Handdruckerei Vesa, Bäckerstraße 2. Jeden Tag begab ich mich in den zweiten Stock unter der Erde, zusammen mit einem britischen Künstler und seinem heroinsüchtigen Assistenten (Rudi, der sich nebenbei auch noch als Kellner im Schweizerhaus verdingte und mangels eigener Bleibe heimlich auf dem Druckereitisch schlief). Apropos unter der Erde: Die Werkstadt von Vesa befand sich nicht einfach im Keller. Nein, man musste über wackelige Stufen am ersten Keller vorbeibalancieren, in einen noch tieferen Keller. Dort, in den untersten Gedärmen der Stadt, hantierten wir mit chemischen Farben, Wasser und Reinigungsmitteln, und rauchten dazu Kette — wie all das möglich war, weiß ich nicht — Lob meiner Lunge!

Als hart arbeitende Druckerin erlangte ich ungefragt die Mitgliedschaft im aufregendsten Wirtshaus der Stadt: Nur ein paar Häuser weiter operierte das legendäre Oswald & Kalb. Dort durfte ich in meinen Zwanzigern sitzen und den tonangebenden Stimmen lauschen: Walter Pichler, Karl Welunschek, Elfriede Gerstl, Susanne und Walter Schmögner, Brigitte Kren und wie sie alle hießen.

Die Frauen waren im besten Fall schön, auch die Künstlerinnen, darüber hinaus hatten sie in diesen Runden wenig zu melden — was bitter war für Talente wie Gerti Fröhlich (2023 bedachte sie das MAK posthum mit einer großen Einzelausstellung). Weil sich Gerti keinen Friseur leisten konnte, schnitt ich ihr alle zwei Monate die Haare. Von ihr lernte ich viel, über das Leben, über die Menschen und über Malerei. Nach wie vor zehre ich von ihrer Weisheit und ihrem Witz.

Kurti Kalb, Kunsthändler und Mitbegründer des Oswald & Kalb, stammte zwar aus Vorarlberg, war aber längst Wiener, durch und durch. Er wohnte auf Bäckerstraße 2. Eines Tages, als es im Innenhof des Hauses Umbauten gab, wurden wir Zeugen, wie er um elf Uhr vormittags auf die Pawlatschen stürmte, in einem langen weißen Nachthemd, und die Maurer in Grund und Boden schrie. Was das für ein Wahnsinn sei, brüllte er, dass sie ihn mitten in der Nacht aufweckten.

Ein paar Jahre später pilgerten wir ins Café Engländer, das war etwas jünger und wurde aus dem Stand Welt-Institution, mit zahllosen Anekdoten und „Vorfällen”.

Aber natürlich ging ich auch ins U4. Und natürlich kann auch ich berichten, dass ich zwischen Falco und Helmut Lang am Rand der Tanzfläche stand (beide mit schwarzer Sonnenbrille). Das war nicht weiter beeindruckend, im Gegenteil: einer wie der andere wirkte verkrampft. Falco war mir außerdem zu „g’pritzt”, weil mehr der Typ Reiss Bar — das Schickimicki-Lokal in einer Seitengasse der Kärtnerstraße, mit auffallender Dichte an sonnenstudiogebräunten Prosecco-Trinkern. Aus heutiger Sicht: Miami Vice für Arme. Dann schon lieber mit dem „Ich spiele Leben”-Sänger Hansi Lang leiden. Der lebte die schönere Wiener Traurigkeit und war außerdem echt heroinsüchtig.

Noch wichtiger waren ohnehin die Zwischentöne. Meine damals beste Freundin zum Beispiel, die wohnte am Karmelitermarkt, zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Tante. Beide Frauen hatten Ausschwitz überlebt. Die Atmosphäre in der weitläufigen Altbauwohnung werde ich nie vergessen, diese freundliche Stille und Sprachlosigkeit.

Zwei Häuser weiter residierte eine Astrologin. Bei so jemandem konnte man einfach anläuten und bekam einen Termin. Unglücklich verliebt ging ich hin. Beim zweiten Mal hypnotisierte sie mich mit einem goldenen Pendel. Während meiner Hypnose sah ich mich in hübschen und weniger schönen Filmen mitspielen. Die Astrologin hatte sehr dunkle Augenringe und erklärte mir zum Abschied, dass ich nie aufs Land ziehen dürfe, und nach Ägypten schon gar nicht.

In den 1990ern wurde die Stadt schließlich bunter, urbaner und auf neue Art provokant. Die „Wiener Schule” der Technobewegung wurde bemerkenswerte Club-Avantgarde, gut gebucht bis nach Tokio. Das Nachtleben war aufregend und ich mischte sogar ein bisschen mit — zuerst als Kellnerin im Technischen Museum und dann als Background-Girl der Techno-Acts Ilsa Gold und Punk Anderson von Produzent Christopher Just (die Bezeichnung Sängerin wäre in meinem Zusammenhang völlig übertrieben).

Heute lieben meine Cousins und Cousinen im Ausland die Gangster-Serie „Crooks” von Marvin Kren. Sie schauen „Der Pass” wegen Nicolas Ofczarek und hören die großen Lieder von Wolfgang Ambros. Dass sein Album „Es lebe der Zentralfriedhof” 1975 die Nummer Eins der Hitparade werden konnte, wäre wahrscheinlich nirgendwo sonst auf der Welt möglich gewesen. Auf diesem Lebensgefühl baut auch für uns spätere Generationen alles auf.

Eine Berliner Architektin, die regelmäßig zu Besuch kommt, erklärte mir vor kurzem: „Wenn Wien ein Patient wäre, dann würde ich ihm eine Mischung aus Schizophrenie und Psychose diagnostizieren.” — „Wenn Wien eine Speise wäre”, entgegnete ich, „dann wäre es die Fächertorte: Ein Gebilde aus unzähligen Schichten, das Highlight der K.u.K. Konditorei Demel, ein Rezept, dass in Wirklichkeit aus der jüdischen Küche stammt und dort Fladentorte oder Flódni heißt.”

Man muss umzugehen lernen, mit diesen unzähligen Schichten. Egal, ob man über den Mexikoplatz kommt oder durch die Blutgasse: Dieser Schwemmboden aus Glaubensrichtungen und Abgründen, der schwingt als Baseline immer mit.

Ela Angerer lebt als Autorin und Fotografin in Wien.
Ihr Text erschien soeben in der Anthologie
„Branntweiner, Blue Box und Bermuda Dreieck.
Unterwegs im Wien der 80er und 90er”
(Hg. Vanessa Wieser / Milena Verlag, € 24)
www.milena-verlag.at
www.elaangerer.com

Letzte Änderung: 22.10.2024  |  Erstellt am: 21.10.2024

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