„Es gibt kein Argument gegen den Mord.“ – Teil 2/2
Faschismus ist die Missachtung des Rechtes auf Leben und die Anmaßung der Verfügung über das Leben anderer. Die Idee der Menschenrechte stammt aus der Erfahrung, dass Menschen vor sich selbst und ihresgleichen geschützt werden müssen, um leben zu können. Dass die Menschenrechte zur Grundlage der Bundesrepublik wurden, war eine Antwort auf die Politik der Unmenschlichkeit, die einen Großteil der Welt von 1914-1945 beherrschte. Philosoph und Schriftsteller Andreas Steffens setzt sich dezidiert mit der Essenz der Menschenrechte, dem Recht auf Leben, auseinander. Der folgende Beitrag erscheint in zwei Teilen.
Der Übergang von „Gott“ zu „Natur“ in der neuzeitlichen Metaphysik, den Versuchen, das Unverfügbare zu bestimmen, war prekär. Die Natur nämlich ist nicht weniger unmenschlich als der zürnende, rächende und vernichtende Gott des Alten Testamentes, der eines barmherzigen Sohnes im Neuen bedurfte, um seinem Geschöpf gnädig zu werden. Die Natur ist grausam. So grausam, daß es der Motor der Menschengeschichte ist, sich gegen die Drohungen, denen sie den Menschen allzeit aussetzt, zu schützen. Das neuzeitliche zivilisatorische Programm besteht in den Akten der naturwissenschaftlichen Naturbeherrschung darin, die antimenschlichen Gewalten der Natur gegen sie selbst zu kehren und zu Mitteln der Selbsterhaltung zu machen.
Ideologisch findet die Gleichgültigkeit der Welt gegen das Dasein des Menschen in ihr ihren Ausdruck in der Brutalität des Sozialdarwinismus, der das Naturgesetz der Durchsetzung des Stärkeren als Mittel der Evolution auch zum Gesetz der Entwicklung des Menschen erklärt. Der Nationalsozialismus und seine Anthropolitik war kein Mißbrauch, sondern die konsequenteste Anwendung der sozialdarwinistischen Prinzipien. Eine der ganz wenigen Philosophinnen, die es zu akademischer Reputation und Wirkung brachten, Hedwig Conrad-Martius, eine Schülerin Edmund Husserls, hat das 1955 in ihrer – höchst aktuellen – Untersuchung über die „Utopien der Menschenzüchtung. Der Sozialdarwinismus und seine Folgen“ überzeugend dargelegt.
Die Natur legitimiert den Mord ebenso wie sein Verbot, so, wie das Liebesgebot der Zweiten Offenbarung des Schöpfergottes seine Kirche nicht daran hinderte, den politischen Mord zu legitimieren. Kein Krieg, dessen Waffen nicht von einem Gottesmann gesegnet worden wären, auf beiden Seiten. Noch das atheistische Regime der Sowjetunion erklärte den nach dem Überfall Deutschlands im Juni 1941 begonnenen ‚Großen Vaterländischen Krieg‘ als ‚heilig‘. Und in Stalins dem Sowjetvolk 1936 verordneter Verfassung des ‚Arbeiter- und Bauernstaates‘ steht das biblische Gebot, wer nicht arbeite, solle nicht essen. Auch das war mehr als bloß der Zynismus eines absoluten Herrschers.
Die alles durchdringende anthropologische Erfahrung des 20. Jahrhunderts wurde die erschreckende Einsicht, daß die übernommene Selbstverantwortung des Menschen für sein Dasein kein Garant gegen die Unmenschlichkeit ist. Der nun ausschließlich sich selbst verantwortliche Mensch bleibt das Wesen, das sich selbst verleugnen kann. Durch kein anderes Gesetz als sein eigenes mehr gebunden, kann er die Unmenschlichkeit selbst sogar zur Pflicht erheben, wie in den totalitären Anthropolitiken (Steffens, Wiederkehr, 87-203), die die Bestimmung dessen, was ein Mensch sein soll, in ideologischer Willkür okkupierten, und daran gingen, alle zu vernichten, die ihrem Ideal ‚des‘ Menschen nicht entsprachen. Der staatlich legitimierte Mord wurde zum Mittel der Hervorbringung eines ‚Neuen Menschen‘.
Auf dem historischen Höhepunkt dieses Wütens hat der Romancier und Philosoph Hermann Broch im amerikanischen Exil als dessen Ursache den Verlust der Religion ausgemacht. Religion verstanden im Sinne der ‚religio‘, der Rückbindung des menschlichen Selbstverstehens an das, worüber wir als Grundlagen unseres Daseins nicht selbst verfügen können.
In seiner Studie über ‚Humane Politik‘ schreibt Broch: Der Ebenbildlichkeit beraubt, scheinen die Menschenrechte ihren innersten Gehalt verloren zu haben; auch das Naturrecht, auf das man sie neu hat gründen wollen, genügt allein nicht, sondern braucht den Hintergrund der göttlichen Rechte, um – es gibt da keinen anderen Weg – als Vernunftrecht zur Sichtbarkeit und Existenz zu gelangen. Die ebenhierfür von der französischen Revolution eingesetzte Göttin der Vernunft war zwar eine Farce, trotzdem eine logisch bedingte, denn ohne Berufung auf ein Absolutes hängen die Menschenrechte in der Luft, und die Idee der Demokratie tut es dann erst recht.
Der Verlust des Gottesglaubens hat die Menschen in einem Augenblick getroffen, in dem ihnen die Fixierung an einen Zentralwert am notwendigsten gewesen wäre. Die explosionsartige Industrialisierung hatte die jahrhundertealten traditionellen Lebensformen über den Haufen geworfen und einen kalt-technischen Dschungel undurchsichtiger Großgewalten erzeugt, in dem der Mensch jeden seelischen und materiellen Halt verlor. Und da die Demokratie selber religionsabhängig war und keinerlei Möglichkeit besaß, einen Religionsersatz zu bieten, mußten aus ihr die Totalitarismen erwachsen, die politischen Pseudo-Religionen, die den neuen Zentralwert versprachen (Broch, Humane Politik, 4).
Dabei gab es diesen neuen Zentralwert längst, als Inbegriff der Zivilisation, die aus jener Umwälzung der Lebensverhältnisse in Folge der Industrialisierung entstanden war: den „Fortschritt“ nämlich. Er war zum Leitbegriff jener Revolution im Denken geworden, die die Neuzeit trug. Der Fortschritt aber ist das Kind des Rationalismus.
Je tüchtiger das Denken in seinen Leistungen im Dienst der unmittelbaren Lebensbedürfnisse des Menschen geworden war, die vor allem Körperbedürfnisse sind, desto mehr eröffneten sich ihm Überschüsse, die ihrerseits so erfolgreich wurden, daß sie schließlich sein Bewußtsein und sein Selbstverständnis ganz bestimmten. Aus dem natürlichen, der Welt ausgelieferten Geschöpf wurde das weltbeherrschende denkende Wesen. Wir können unendlich viel mehr, als wir müssen, um zu leben. Von den Geboten der Bedürftigkeit immer mehr entlastet, entwickelt das hypertrophierende Gehirn, das nicht brachliegen, sondern zeigen will, was es kann, eine kulturbildende Dynamik, zu deren effektivstem Mittel die Rationalität wird: das reine, inhaltsneutrale Denken der Logik und Mathematik. Die Kulturgeschichte der Neuzeit entfaltet sich als Übersteigen des Notwendigen ins Mögliche. So erfolgreich, daß das Mittel dazu, die Rationalität, zum Zweck und zur Maxime der technischen Zivilisation wird.
Die Parole liefert René Descartes Formel seiner neuen Metaphysik: Ich denke, also bin ich. Sich der eigenen Existenz gegen alle natürlichen und intellektuellen Unsicherheiten zu vergewissern, gibt es nur eine Möglichkeit: die Selbstgewißheit im Denken. Daß ich bin, kann ich nur wissen, indem ich denke, daß ich es bin, der denkt. Dieser Ausweg aus den Verwirrungen der Skepsis gegenüber einer unverändert feindlichen Wirklichkeit wurde zum Schlüssel dafür, die Macht des Denkens der eigenen Wirklichkeit in der Welt zur Macht zu erweitern, über diese Wirklichkeit zu herrschen. Das Mittel der humanen Selbstgewißheit wird zum Mittel der Verfügung über die Welt, die sie in Frage stellt. Das biblische Gebot, sich die Welt untertan zu machen, hatte sein ultimatives Mittel der Verwirklichung gefunden.
Das ‚Ich‘, das sich im Denken seiner selbst gewiß ist, macht die Welt zum Gegenstand eines Denkens, das sie nicht mehr nur erkennt, sondern verändert. Diese Dynamik der reinen Logik brachte die zivilisierte Welt hervor, in der wir leben.
Willst du Philosoph sein, schreib Romane. Nur wenige haben diese Maxime Albert Camus‘ befolgt. Zu ihnen gehört der Brite Philip Kerr. Wer in England Philosophie studiert, wie der 1956 im schottischen Edingburgh geborene Kerr neben seinem Jurastudium, kommt nicht umhin, sich mit Wittgenstein zu befassen. Kerr tat es so intensiv, daß er die Methode aus dessen >Philosophischen Untersuchungen< seinem zweiten Roman unterlegte. Dieser erschien 1992 unter dem Titel >A philosophical Investigation<. Der Titel der deutschen Übersetzung von 1994 nennt die darin liegende Referenz direkt beim Namen: >Das Wittgenstein-Programm<.
Kerrs große Faszination ist die Geschichte der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, besonders der deutschen, und die Rolle des Verbrechens in ihr. Damit hatte er den Protagonisten seines ersten Romans >Feuer in Berlin< konfrontiert, den Berliner Kriminalkommissar Bernhard Gunther. Während dieser im Auftrag des Staates Mörder jagt, die dieser, wird man ihrer habhaft, aburteilt und hinrichtet, wird der Staat selbst zum Mörder. Der Raubmörder wird von rechtswegen geköpft, der mordende SS-Mann mit einem Orden ausgezeichnet. Was ist dann ein Verbrechen? Gibt es dann überhaupt Verbrechen? Der Kommissar, der darauf keine Antwort findet, quittiert den Dienst, und wird Privatdetektiv.
Im Geist Wittgensteinscher Totalskepsis macht Kerr seinen zweiten Roman zum Untersuchungslabor für diese Frage, die der Gang der Zeitgeschichte zur wichtigsten Frage überhaupt werden ließ. Die staatlichen Vernichtungspolitiken der totalitären Regime haben zur Wirklichkeit werden lassen, was für Dostojewski noch eine Hypothese war: Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt.
Dieser Gedanke ist die Obsession seines Protagonisten Paul Esterhazy, der unter dem Decknamen ‚Wittgenstein‘ zum Massenmörder wird. Im London des Jahres 2013 läßt Kerr ihn – er schreibt im Jahr 1990 – zufällig in ein psychodiagnostisches Frühwarnsystem geraten, das „Lombroso-Programm“, das potentielle Straftäter ausfindig macht. Als er entdeckt, daß er selbst als ein möglicher Mörder gelistet ist, stößt er bei dem Versuch, seine Datei zu löschen, auf die Klarnamen anderer Verdächtiger. Er entschließt sich, deren mögliche Verbrechen zu vereiteln, indem er sie tötet. Obwohl er in sich nicht den geringsten persönlichen Impuls verspürt, zum Mörder zu werden. Sein einziges Motiv ist die Konsequenz des Denkens.
In der Haltung des ‚echten‘ Wittgenstein, einer unbehebbaren Skepsis, läßt Kerr seinen Mörder aus Menschenfreundlichkeit diese Gewißheit in einem Tagebuch, das er führt, während er mordet, zu Ende denken. Als imaginärer Dialog mit der ihn jagenden Kommissarin angelegt, wird es zu einer Abhandlung über die Zulässigkeit des Tötens.
Deren Logik ist zwingend. So sehr, daß es ihm schließlich um nichts anderes mehr geht als Logik. Zunächst noch ethische Überlegungen anstellend, kommt er auf den Spuren Nietzsches dahin, das Denken von der Moral zu befreien, um verstehen zu können, wogegen die Moral gerichtet ist. Seine Reflexionen werden zu einer Meditation des Mordes ‚Jenseits von Gut und Böse‘.
Er überlegt: Der Tod ist die einzige wahre Begebenheit. Beim Tod ändert sich die Welt nicht, sondern hört auf. Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Aber Töten … Töten ist ein Ereignis.
Betrachten Sie die Idee des Tötens: die Behauptung des eigenen Seins, die Leugnung des Seins eines anderen. Selbstschöpfung durch Vernichtung. Und wieviel mehr Selbstschöpfung liegt vor, wenn die anderen, die zerstört werden müssen, selbst eine Gefahr für die Gesellschaft sind, wenn das Töten einem höheren Zweck dient. So entgehe ich dem Vorwurf des Nihilismus (Kerr, Wittgenstein, 101).
Das aber war exakt die Logik der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, ebenso wie die der Stalin, Mao, Pol Pot, der ‚ethnischen Säuberungen‘ im zerfallenden Jugoslawien und in Afrika, der Schlächter des ‚IS‘. Unter der Hand wird Kerrs Krimi-Fiktion zu einer Reflexion der wirklichen kriminellen Geschichte.
Große Verbrechen sind ein Abfallprodukt großer Zivilisationen, setzt deren Protagonist seine Überlegungen fort.
Die einzige Chance des Sagbaren ist die Grenze, die den Sinn vom Unsinn trennt. (Diese Begrenzung macht einsichtig, daß der Holocaust vollkommen sinnvoll war, auch wenn man ihn verdammt.) Und dennoch hält sich der Glaube, daß das Verständliche zugleich unaussprechlich sein könne, daß der Sinn der Welt innerhalb der Welt gefunden werden könne.
Aber wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muß er außerhalb alles Geschehens und So-Seins liegen. Tatsache ist, daß alle Sätze gleichwertig sind, und daß es keine Sätze der Ethik geben kann. Die Ethik ist transzendental und unaussprechlich. Kurz gesagt: Ethik ist unmöglich.
Warum sonst sollte man sich dagegen auflehnen? Wenn die Existenz eines moralischen Satzes, der den Mord verbietet, möglich wäre, würde ich ihm nicht widersprechen. Aber vom Willen als Träger des Ethischen kann nicht gesprochen werden. Also töte ich, weil es keinen logischen Grund gibt, nicht zu töten.
Die Wahrheit der hier mitgeteilten Gedanken scheint mir unantastbar und definitiv. Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben. Die Endlösung (Kerr, Wittgenstein-Programm, 174).
Unter dem Zwang der Logik wird aus der frühen Philosophie Wittgensteins, die in den Überlegungen des Mörders immer wieder wörtlich zitiert wird, die absolute Rechtfertigung des absolut Unzulässigen.
In jenem ‚Lombroso-Programm‘ tragen die identifizierten potentiellen Mörder die Decknamen berühmter Philosophen und Schriftsteller. Indem er ihn überlegen läßt, welchen auf seiner Liste er als nächsten töten soll, läßt Kerr seinen reflektierenden Mörder die letzte Konsequenz der ersten Philosophie der Neuzeit offenlegen, die nach strenger Logik verfuhr.
Aber wer soll der nächste sein? Auden? Descartes? Hegel? Hemingway? Whitman?
Auden war gewiß naheliegend, auch wenn mir der Gedanke durch den Geist (im Sinne der Gesamtheit des Wirklichen oder des Absoluten) ging, aus reinem Idealismus Hegel zu töten. Hemingway? Todesbesessen und irgendwie vulgär. Descartes? Den hatte ich bisher verschont. Aber da war noch dieser ganze Unsinn, wenn er die Existenz Gottes als Beweis für die Realität der wahrnehmbaren Welt werten wollte. Und irgendwo hat das alles bei ihm angefangen. Also ja: Descartes. Der Vater der neuzeitlichen Philosophie. Ich werde ihn aus totaler Skepsis zerstören. Er lebe nicht: sieh her, ein Strich verdammt ihn.
Ich töte, also bin ich (Kerr, Wittgenstein-Programm, 259).
Prägnanter läßt die ewige Logik der Geschichte sich nicht formulieren. Es ist die bittere Formel für das, was die zivilisatorische Herrschaft der Rationalität im System der Naturbeherrschung aus Descartes‘ Befreiungsformel des Geistes gemacht hat: Ich denke, also bin ich. Weil ich denke, kann ich, was ich denke. Weil ich denken kann, zu töten, kann ich töten.
Alles Denken reicht nicht hin, das Verbot des Tötens zu begründen. Das reinste Denken der Logik ist von totaler Neutralität.
Zur ernüchterndsten Einsicht der Selbstkritik der Aufklärung, wie sie zwei deutsche Philosophen 1944 in der Einsamkeit ihres amerikanischen Exils unternahmen, wurde für sie die Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen (Horkheimer/Adorno, Dialektik, 127). Seit je – so zogen sie Bilanz – hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde erstrahlt im Zeichen triumphalen Unheils (a.a.O., 9).
Denn das Denken kennt keine Moral, sondern nur die Logik des Denkbaren, aus der die Praktiken des Möglichen abgeleitet werden.
Was vermag Denken noch angesichts dieses Patts? Außer, es beschönigungslos zu erkennen?
Die Leerstelle des fehlenden Arguments gegen den Mord besetzt das Gesetz, das ihn verbietet. Es folgt keiner Logik, sondern Interessen. Das Gesetz schützt die Macht, damit diese die Bürger vor dem Verbrechen schützen kann, weil niemand von der Möglichkeit betroffen werden will, jederzeit von seinesgleichen umgebracht werden zu können. Das Gewaltmonopol des Staates, das das zivile Leben in Sicherheit garantieren soll, ist die Überantwortung der natürlichen Freiheit jedes Einzelnen, sich durch Tötung anderer in seinem Leben zu behaupten, an den Staat. Das Gesetz verbietet, zu töten, damit der Tod zu einem Objekt des Rechts wird.
Damit aber nimmt der Staat den Tod in seine Verfügung. Um diese Verfügung zu gewährleisten, behält er sich vor, die Zufügung des Todes selbst anzuwenden, als Strafe, wenn einer gegen das Tötungsverbot verstößt, oder im Kriegsfall, der seine eigene Existenz bedroht.
Diese Struktur bleibt auch dann erhalten, wenn ein Staat wie der unsere auf diese Sanktion im Strafrecht verzichtet, und sie durch eine lebenslange Freiheitsstrafe ersetzt, die für den davon Betroffenen allerdings de facto bedeutet, lebendig tot zu sein, da er von eigener Lebensführung ausgeschlossen ist. Um den Tod als Mittel der Selbstbehauptung des Einzelnen auszuschalten, muß die Rechtsgemeinschaft sich seine gesetzliche Zufügung vorbehalten. Deshalb ist die Bestimmung des Artikels 21 der Hessischen Landesverfassung kein Widerspruch zur Abschaffung der Todesstrafe durch das Grundgesetz, so sehr man seinem Wortlaut auch mit spontaner Empörung begegnet: Ist jemand einer strafbaren Handlung für schuldig befunden worden, so können ihm auf Grund der Strafgesetze durch richterliches Urteil die Freiheit und die bürgerlichen Ehrenrechte entzogen oder beschränkt werden. Bei besonders schweren Verbrechen kann er zum Tode verurteilt werden. In der Logik der Macht ist dieser Vorbehalt zwingend. Und nach dem Erfordernis, daß das Recht, gerade das Menschenrecht, den Schutz der staatlichen Gewalt braucht, um zu gelten, ist er unerläßlich. So gilt das Paradox, daß das Tötungsverbot nur unter der aufrechterhaltenen Drohung der Tötungsfähigkeit des Gewaltmonopolisten durchzusetzen ist.
Aber genau das macht die Menschenrechte so schwach: das äußerste Mittel ihres Schutzes ist zugleich das ihrer schlimmsten Mißachtung. Die Geschichte der Neuzeit ist beherrscht von Staaten, die töten. Das 20. Jahrhundert machte den millionenfachen Massenmord zum Mittel der Politik schlechthin. Solange der Tod als Mittel der Politik nicht weltweit von allen Kulturen so vollständig geächtet ist, daß kein Machthaber es mehr wagte, es noch einzusetzen, solange muß jeder Mensch damit rechnen, jederzeit getötet werden zu können. Hier mit geringerer, dort mit höherer Wahrscheinlichkeit.
Aber genau dieser Umstand ist die Quelle dessen, was es geben muß, damit es dazu nicht kommen kann: einer unbezweifelbaren Sicherheit, daß der Tod des Anderen schlechthin unzulässig ist.
Das aber ist weder durch Ethik, noch durch Gesetze allein zu erreichen. Die Unantastbarkeit des Menschen durch seinesgleichen, dieser Kern der Menschenrechte, gewinnt den Grund ihrer möglichen Geltung – und damit der Legitimierung ihres Schutzes durch staatliche Gewalt – ausschließlich aus der Evidenz ihrer Geltung in der Erfahrung ihrer Verletzung. Die unumstößliche Gewißheit, daß es falsch ist, getötet zu werden, können alle Menschen miteinander teilen, weil jeder sie an sich erfahren würde, geriete er in die Lage, es zu erleiden. Wenn es etwas gibt, das alle Menschen miteinander verbindet, etwas, in dem sie ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer Nationalität und Rasse, ihres Alters, ihrer Geschichte, ihrer Bildung und Kultur tatsächlich gleich sind, so ist es die Todesangst.
Darin fand Adorno die einzig realistische Möglichkeit zu einer „Erziehung nach Auschwitz“ angelegt. Schlechterdings jeder Mensch, der nicht gerade zu der verfolgenden Gruppe dazugehört, kann ereilt werden; es gibt also ein drastisches egoistisches Interesse, an das sich appellieren ließe (Adorno, Erziehung, 104). Das Nichteinverständnis mit dem eigenen Tod als Folge des Handelns der anderen ist das einzig ‚Universale‘, auf das der Anspruch universaler Geltung der Menschenrechte sich gründen läßt.
Nicht nur das Opfer, nicht nur der Zeuge der Untat, auch ihr Täter weiß im Moment, in dem sie begangen wird, daß es eine unzulässige Tat ist, obwohl sie möglich ist. Sie kann begangen werden, weil sie möglich ist, wenn einer die Machtmittel dazu findet; aber in dem Moment, in dem sie sich ereignet, stellt sich in allen Beteiligten das unbezweifelbare Bewußtsein ein, daß sie falsch ist. Deshalb mußte Himmler in seinen Geheimreden das oberste Offizierskorps der SS immer wieder darauf einschwören, daß zwar furchtbar und abscheulich sei, was sie zu tun hätten, es aber getan werden müsse. Es ist die Idee der Pflicht und der Mechanismus von Befehl und Gehorsam, die das Bewußtsein des Unzulässigen folgenlos machen.
Die Evidenz ihrer Geltung allein kann den Anspruch tragen, die Idee des Menschenrechtes politisch zur unantastbaren Grundlage allen menschlichen Handelns zu machen. Jeder Mensch wird im Moment seiner Ermordung die unumstößliche Gewißheit besitzen, daß ihm Unrecht geschieht; daß es nicht sein sollte. Dem widerspricht auch die Willfährigkeit des Märtyrers nicht; er nimmt nur hin, weil er damit bezeugen kann, wofür er mit seinem Leben einsteht; nicht, weil er es für richtig hielte.
Die als Todesangst jedermann eingeborene Evidenz des Unmenschlichen, das an ihm selbst geschieht, kann die Idee und Realität des Menschenrechtes tragen.
Um die wirklichen Menschen schützen zu können, muß auf die Abstraktion ‚des‘ Menschen verzichtet werden. Jedes ‚Menschenbild‘ enthält die dynamische Suggestion, zu beseitigen, was ihm nicht entspricht. Die tätige Unmenschlichkeit ist angelegt in jeder Überzeugung, zu wissen, wie Menschen zu sein haben. Sie verlangt geradezu danach, jede Nichtübereinstimmung zu ‚korrigieren‘, im günstigsten Fall durch ‚Umerziehung‘, im schlimmsten durch Vernichtung.
Auf die Evidenz der Unzulässigkeit des Mordes, die sich jedem mitteilt, der ihm ausgesetzt wird, läßt sich jedoch pragmatisch nicht allein vertrauen. Die Menschenverachtung, die aus der Denkbarkeit der Untat schließlich deren Handlung werden läßt, muß nicht nur gesellschaftlich als eine ‚Meinung‘ geächtet, sondern gesetzlich unter Strafe gestellt werden.
Waren die Menschenrechte ursprünglich gegen den Staat gerichtet, so bedarf es unverändert des auf ihre Geltung gegründeten Staates, um ihre Einhaltung in den Lebensordnungen zu gewährleisten. Das Gebot des Grundgesetzes, alles staatliche und politische Handeln an die Beachtung der Menschenrechte zu binden, ist zu erweitern durch das Bewußtsein einer allgemeinen Bürgerpflicht, sie nicht zu mißachten. Eine Bürgerpflicht, die selbst Rechtskraft dadurch erlangt, daß ihre Nichterfüllung mit Strafe belegt wird. Menschenverachtung muß zum Straftatbestand werden.
Der Schutz vor dem Staat muß erweitert werden um den Schutz der Bürger durch den Staat vor der Mißachtung seines Menschseins durch seine Mitbürger.
Das erscheint umso utopischer, als der Staat in seinem Gesetzeshandeln – etwa in seiner Arbeits- und Sozialgesetzgebung, zu deren Folgen die Verarmung großer Bevölkerungsteile zählt – selbst gegen die Menschenwürde seiner Bürger unentwegt verstößt.
In dem Umstand, daß ein Haßkommentar, ein Aufruf zum Mord in den ‚sozialen Medien‘ keine empfindlichen strafrechtlichen Konsequenzen hat, lauert bereits die Möglichkeit eines Rückfalls des gesamten politischen und sozialen Systems in organisierte Barbarei.
Angesichts der sich tatsächlich ereignenden Barbarei eines weltumspannenden Krieges, in dem massenmordende Staaten versuchten, einander auszulöschen, formulierte Hermann Broch, ebenfalls im amerikanischen Exil, 1944 sein Konzept einer „totalitären Humanität“.
In seiner bereits zitierten Studie heißt es: Die totalitären Staaten schützen die Einhaltung ihrer regulativen Grundprinzipien durch schärfste strafrechtliche Bestimmungen. Die Menschenrechte als die regulativen Grundprinzipien der Demokratie bedürfen heute des gleichen Schutzes. Mit anderen Worten: es genügt nicht mehr, die Regierungen durch eine „Bill of Rights“ auf die Menschenrechte festzulegen, es muß jeder einzelne Bürger dazu angehalten werden, auf daß er – der Ur-Wähler und Ur-Gesetzgeber in der Demokratie, der eigentliche Träger ihrer Politik – die Menschenrechte, die Menschenfreiheit, die Menschenwürde seines Nebenbürgers unverbrüchlich achte. Hierzu gehört eine „Bill of Duties“, ein Verzeichnis der Pflichten als Ergänzung und zugleich als Einschränkung der „Bill of Rights“. Beispielsweise zeigt sich dies in der freien Meinungsäußerung, da jede ‚Meinung‘, welche zu Haß und Verachtung gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen auffordert, unter Strafe gestellt zu werden hätte. Kurzum, es ergibt sich ein Strafkodex mit einem „Gesetz zum Schutze der Menschenwürde“ als Mittelpunkt (Broch, Humane Politik, 15 f.).
Die Verdrängung des Todes aus dem zivilisatorischen Bewußtsein der Moderne ist die Kehrseite seiner Okkupation in den Orgien des politischen Massenmordes, die unser historisches Bewußtsein nur wenig, unsere historische Erfahrung dafür umso stärker beherrschen.
Die säkulare Anthropologie des über sich selbst bestimmenden Individuums, an die wir ebenso selbstverständlich ‚glauben‘, wie wir ununterbrochen in unserem sozialen und ökonomischen Leben gegen sie verstoßen, indem wir die Welt in eine Fabrik verwandeln, und uns selbst zu Arbeitssklaven einer weltumspannenden Ökonomie der reinen Profitmaximierung machen lassen, hat ihre natürliche Grenze an den Weltbedingungen unseres Daseins.
Der Mord ist die Verfügung über das Unverfügbare, den Tod; dessen willkürliche Zufügung vollzieht aus eigenem Entschluß, was Natur für jedes Lebewesen vorsieht. Indem er ihn aber dem anderen zufügt, verleugnet der Mörder seinen eigenen Tod, weil er unfähig ist, sein Leben als Vorbestimmung zu seinem Tod zu verstehen. Das säkulare Selbstverhältnis hat den Tod vom Leben getrennt. Deshalb konnte die Moderne zur Epoche des politischen Massenmordes werden. Wenn es keinen eigenen Tod mehr gibt, den das eigene Leben hervorbringt, wird es gleichgültig, jemandem sein Leben zu nehmen. Der politische Tod verweigert dem Individuum, seinen Tod als Sigel seines Lebens zu finden. Deshalb sind die Menschenrechte durch eben die Modernität selbst gefährdet, die sie überhaupt erst hervorbrachte.
Ihr Schutz bedarf einer Anthropologie, die den Anspruch der humanen Selbstbestimmung mit der Anerkennung elementarer Unverfügbarkeiten verbindet, die uns die Bedingungen unseres Daseins auferlegen. Sie zeigen sich in dem, was wir als Bedürfnisse erleben, zu deren Befriedigung wir unser gemeinsames Leben organisieren. Wir müssen essen und trinken, schlafen und beischlafen, uns kleiden und gegen Kälte und Unwetter schützen. Dem dienen die gesellschaftlichen und ökonomischen Institutionen. Aber wir müssen auch sterben. Daß wir der Welt unseren Tod schulden, weil wir leben, aber ist die einzige unverfügbare Daseinsbedingung, die das moderne Bewußtsein nicht mehr als ein Bedürfnis versteht. Rilke hat es in seinem „Stundenbuch“ (1891) zuletzt beschrieben.
Denn dieses macht das Sterben fremd und schwer,
daß es nicht unser Tod ist; einer der
uns endlich nimmt, nur weil wir keinen reifen.
Drum geht ein Sturm, uns alle abzustreifen.
(Rilke, Gedichte, 294)
Bestimmen können wir, wie wir leben, nicht daß; so wenig, wie wir hindern werden, nicht mehr zu leben. Diese elementare Unverfügbarkeit dem Daseinsbewußtsein zurückzugewinnen, ist die elementare Bedingung dafür, uns als das Wesen Mensch, das wir sind, erkennen und gegenseitig anerkennen zu können. Weil niemand wirklich in ausschließlicher und freier Selbstbestimmung über sein Leben verfügen kann, steht es niemandem zu, über das Leben auch nur eines anderen zu verfügen.
Die Gleichheit aller Menschen in der Unfreiheit, mit der unser Dasein dem Unverfügbaren unterworfen ist, stiftet die Möglichkeit einer Daseinssolidarität, die es jedem auferlegt und als eigene Pflicht anzuerkennen ermöglicht, den anderen seinem eigenen Tod zu überlassen. Dann ist das ‚Menschenrecht‘ verwirklicht. Das Recht auf Leben ist das Recht auf den eigenen Tod.
Das aber setzt außer der Idee voraus, daß all die, die wollen, daß die Menschenrechte uneingeschränkt für jedermann gelten, weil sie an sie ‚glauben‘, sich im Kampf um die staatliche Macht, die es braucht, sie zu schützen, gegen die behaupten, die es nicht wollen: Die Bewahrung der Macht durch die Schwächeren gegen die, die sich für die Stärkeren halten.
Keiner lebt, weil er das will. Aber nachdem er lebt, muß er es wollen, schrieb Ernst Bloch in seiner Abhandlung über „Naturrecht und menschliche Würde“ (Bloch, Naturrecht, 15). Dem ist – nur, aber nachdrücklich – hinzuzufügen: Niemand ist allein deshalb ein Mensch, weil er ist; man muß einer auch sein wollen. Man wird es, indem man die anderen sein läßt.
Adorno, Theodor W., Erziehung nach Auschwitz (1966), in: ders., Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, hg. von Gerd Kadelbach, Ffm 1970, 88–105
Arendt, Hannah / Broch, Hermann, Briefwechsel 1946 bis 1951, Ffm 1996
Badiou, Alain, Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen (1993), Wien 2003
Bloch, Ernst, Naturrecht und menschliche Würde (1961), Ffm 1977
Bonhoeffer, Dietrich, Ethik, hg. von Eberhard Bethge, München 1949
Brecht, Bertolt, Aufstieg und Fall der Stadt Mahogony, in: ders., Gesammelte Werke 2, Stücke 2, Ffm 1967, 499-564
Broch, Hermann, Trotzdem: Humane Politik. Verwirklichung einer Utopie, in: Die Neue Rundschau, 61. Jahrgang 1950, Heft 1, 1–31
Broch, Hermann, Massenwahntheorie. Beiträge zu einer Psychologie der Politik, hg. von Paul Michael Lützeler, Werkausgabe Bd. 12, Ffm 1979
Conrad-Martius, Hedwig, Utopien der Menschenzüchtung. Der Sozialdarwinismus und seine Folgen, München 1955
Derrida, Jacques, Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Ffm 2003
Die Verfassungen aller deutschen Länder. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, hg. von Rudolf Schuster, München 1994
Foucault, Michel, In Verteidigung der Gesellschaft. Kolleg am Collège de France (1975-1876), Ffm 1999
Groethuysen, Bernhard, Philosophie der Französischen Revolution (1956), Politica Bd. 32, Neuwied-Berlin 1971
Hartung, Fritz, Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte von 1776–1946, Quellensammlung zur Kulturgeschichte, Schrift 1, Berlin 1948
Höffe, Otfried, Sieben Thesen zur Anthropologie der Menschenrechte, in: ders., Hg., Der Mensch – ein politisches Tier? Essays zur politischen Anthropologie, Stuttgart 1992, 188-211
Kermani, Navid, Zum 65. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes. Rede vor dem Deutschen Bundestag am 23. Mai 2014, in: ders., Zwischen Koran und Kafka. West-östliche Erkundungen, München 2014, 341-349
Kerr, Philip, Das Wittgensteinprogramm. Roman (1992), Reinbek 1994
Lenk, Hans, Kritik der kleinen Vernunft. Einführung in die jokologische Philosophie, Ffm 1987
Mirabeau, „Der Redner der Revolution“. Reden, Briefe, Schriften, hg, von Horst Günther, Ffm 1989
Rilke, Rainer Maria, Die Gedichte, Ffm 1986
Rosen, Michael, Dignity. Its history and meaning, Cambridge/MS-London 2012
Schiller, Friedrich, Über das Erhabene, in: ders., Gesammelte Werke, hg. von Reinhold Netolitzky, Bd. 5: Schriften zur Kunst und Philosophie, o.O. 1955, 431–449
Schmid, Carlo, Erinnerungen, Bern-München-Wien 1979
Schnur, Roman, Hg., Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, Wege der Forschung XI, Darmstadt 1964
Singer, Issac Bashevis, Der Büßer. Roman (1983), München-Wien 1987
Steffens, Andreas, Ontoanthropologie. Vom Unverfügbaren und seinen Spuren, Wuppertal 2011
Vossler, Otto, Studien zur Erklärung der Menschenrechte (1930), in: ders., Geist und Geschichte. Gesammelte Aufsätze, München 1964, 100-129
Wyszynski, Stefan Kardinal, Für Freiheit und Menschenwürde. Ansprachen zur Tausendjahrfeier des christlichen Polen, Limburg 1966
Vortrag am UNESCO Welttag der Philosophie, 16.11.2017, in der City Kirche Elberfeld, Alte Reformierte Kirche Wuppertal-Elberfeld
Letzte Änderung: 10.09.2024 | Erstellt am: 10.07.2024
Hier geht es zum ersten Teil dieses Essays
Kommentare
Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.