„Es gibt kein Argument gegen den Mord.“ – Teil 1/2

„Es gibt kein Argument gegen den Mord.“ – Teil 1/2

Die Un-Begründbarkeit der Menschenrechte
Eleanor Roosevelt & UN Declaration of Human Rights | ©  FDR Presidential Library & Museum

Faschismus ist die Missachtung des Rechtes auf Leben und die Anmaßung der Verfügung über das Leben anderer. Die Idee der Menschenrechte stammt aus der Erfahrung, dass Menschen vor sich selbst und ihresgleichen geschützt werden müssen, um leben zu können. Dass die Menschenrechte zur Grundlage der Bundesrepublik wurden, war eine Antwort auf die Politik der Unmenschlichkeit, die einen Großteil der Welt von 1914-1945 beherrschte. Philosoph und Schriftsteller Andreas Steffens setzt sich dezidiert mit der Essenz der Menschenrechte, dem Recht auf Leben, auseinander. Der folgende Beitrag erscheint in zwei Teilen.

Alle anderen Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen, welches will. Eben deswegen ist des Menschen nichts so unwürdig, als Gewalt zu erleiden, denn Gewalt hebt ihn auf. Wer sie uns antut, macht uns nichts Geringeres als die Menschheit streitig; wer sie feigerweise erleidet, wirft seine Menschheit hinweg. Aber dieser Anspruch auf absolute Befreiung von allem, was Gewalt ist, scheint ein Wesen vorauszusetzen, welches Macht genug besitzt, jede andere Macht von sich abzutreiben.

Friedrich Schiller, Über das Erhabene (1801)

Zu den Kränkungen unseres Sinns für Bedeutsames gehört die Beiläufigkeit, mit der es auftritt. Wie man sich beim Anblick einer Quelle kaum vorstellen kann, wie daraus ein gewaltiger Fluß wird, sind die Umstände, unter denen geschieht, was Geschichtsbücher als bedeutende Ereignisse vermerken werden, unscheinbar. Was die Wirklichkeit schuldig blieb, werden die Inszenierungen der Erinnerung an die „großen Momente“, mit der das ‚historische Bewußtsein‘ sich erhält, ihnen nachträglich verleihen. Der feierliche Aufwand der ‚Gedenktage‘, der umgekehrt proportional zur tatsächlichen Lebendigkeit der Erinnerung ausfällt, stiftet die Kulissen nach, die dem Ereignis selbst fehlten.

Die Kulisse des Ereignisses, mit dem am 1. September 1948 die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland begann, war nicht nur vergleichsweise unscheinbar; sie war auf beinahe komische Weise bizarr, als im Naturkunde Museum Koenig in Bonn der Parlamentarische Rat zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentrat, um die gesetzliche Grundlage eines neuen deutschen Staates zu erarbeiten. Carlo Schmid, einer jener legendären ‚Väter des Grundgesetzes‘ und intellektueller Mentor in der Führung der Sozialdemokratischen Partei, der die Beratungen wesentlich prägen sollte, hat die Szene in seinen Erinnerungen festgehalten.

Wohl kaum hat je ein Staatsakt, der eine neue Phase der Geschichte eines großen Volkes einleiten sollte, in so skurriler Umgebung stattgefunden. In der Halle dieses in mächtigen Quadern hochgeführten Gebäudes standen wir unter den Länderfahnen – rings umgeben von ausgestopftem Getier aus aller Welt. Unter den Bären, Schimpansen, Gorillas und anderen Exemplaren exotischer Tierwelt kamen wir uns ein wenig verloren vor. Die bizarre Umgebung ließ trotz der Beethovenschen Musik, mit der die Feier eröffnet und beschlossen wurde, keine rechte Feierlichkeit aufkommen; gleichgültig jedoch war keinem von uns zumute (Schmid, Erinnerungen, 357).

Der 23. Mai 1948, an dem das ‚Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland‘ mit seiner Verkündung im ersten ‚Bundesgesetzblatt‘ in Kraft trat, markiert einen Höhepunkt in der Verfassungsgeschichte der Neuzeit. Denn es bildet geradezu deren Summe. In ihm ist ausformuliert, was gleichsam deren innere Zielbewegung gewesen ist, seitdem mit der englischen ‚Magna Carta‘ von 1215 ein Prozeß der Verrechtlichung der Macht begonnen hatte, der mit der Unabhängigkeitserklärung der englischen Kolonien in Nordamerika 1776 und der Verfassung der Französischen Republik von 1791, schließlich der Charta der Vereinten Nationen von 1945 zur Etablierung der ‚Menschenechte‘ als Grundlage staatlicher Gewalt führte. Die in Europa seit der Renaissance entwickelte Anthropologie, die ihre Vollendung in den Lehren der Aufklärung fand, wurde zum Fundament eines Rechtssystems, das den Staat zum Schutz des Menschen verpflichtet. Aus Untertanen wurden Bürger; aus Staaten, die Gewaltordnungen waren, Rechtsgebilde. Aus der natürlichen Gegebenheit, ein Mensch zu sein, wurde ein Recht.

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

Diese Bestimmung des Artikel 1 des Grundgesetzes zieht die des Artikel 102 zwingend nach sich: Die Todesstrafe ist abgeschafft. Denn das Recht auf Leben ist die Essenz der Menschenrechte. Aus ihm folgt alles übrige. Seit der Einrichtung des UNO Menschenrechtsgerichtshofes in Den Haag ist es nicht nur einklagbar, nun ist seine Verletzung auch sühnbar geworden. Wer immer in Ausübung staatlicher Gewalt dagegen verstößt, begeht ein Verbrechen, zu dessen Bestrafung die Völker der Weltgemeinschaft sich verpflichtet haben.

Deshalb markiert der 22. September 2017 einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Mit der Wahl einer Partei in den Bundestag, deren Führung Politiker angehören, die dazu auffordern, zum Schutz der deutschen Staatsgrenze unerwünschten Personen, denen wir nach Artikel 16a GG Schutz und Asyl zu gewähren haben, an der Einreise auch mit Waffengewalt zu hindern, ja sie im äußersten Fall zu erschießen, ist der bisher geltende Konsens des politischen Handelns aufgekündigt, der in der uneingeschränkten Anerkennung der Menschenrechte als unantastbarer Grundlage allen staatlichen Handelns besteht.

Nun sitzt der Faschismus, legitimiert durch freie, gleiche und geheime Wahl, im Parlament. Zum ersten Mal wieder seit den Zeiten der NPD. Und wenn nicht schon er, dann das Erbe seines Ungeistes. Eines Ungeistes, der so gefährlich ist, wie er intelligent wird. Nichts anderes ist der Wesenskern des Faschismus: die Mißachtung des Rechtes auf Leben und die Anmaßung der Verfügung über das Leben anderer. Nun ist die Nichtanerkennung der Bestimmung des Artikels 2, Absatz 2 des Grundgesetzes: Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich, Bestandteil des Souveräns. Ein sehr kleiner Teil, aber ein Teil. Die Dramatik dieses Bruchs kann nicht überschätzt werden. Sie bedeutet nicht weniger als die Aufkündigung der Grundlagen unserer staatlichen Gemeinschaft. Die Prinzipien unseres politischen Lebens sind innerhalb seiner wichtigsten Institution in Frage gestellt. Ein Teil des Souveräns mißachtet die Grundlage seiner Macht.

Zur Abwehr der möglichen Folgen ist nichts wichtiger, als die Vergegenwärtigung des Sinns jener ‚Grundrechte‘, die in den Artikeln 1 bis 19 des Grundgesetzes als Grundlage unseres Handelns festgelegt sind.

Dieser inneren Bedrohung korrespondiert die äußere. Der Terrorismus, gegen den wir uns nach jedem Anschlag mit der Beschwörung unserer ‚Werte‘ empören, deren Zentrum die Menschenrechte bilden, ist nichts anderes als die Verabsolutierung des Mordes zum alleinigen Mittel einer Politik, deren Ziel es ist, alles Leben auszulöschen, dessen Gestalt einer absolut gesetzten Bestimmung ‚des‘ Menschen nicht entspricht. Als pure Gewaltsamkeit ist der Terrorismus die neueste Form tätiger Menschenverachtung, deren letzte die historischen Totalitarismen gewesen sind.

Am Abend jenes 1. September 1948 suchte Carlo Schmid Konrad Adenauer auf, den der Parlamentarische Rat gerade zu seinem Präsidenten gewählt hatte. Schmid lag daran, Adenauer, dessen bedenkenlos taktischer Umgang mit seinen eigenen Aussagen seit seinen Tagen als Kölner Oberbürgermeister und Preußischer Staatsrat zur Zeit der Weimarer Republik berüchtigt war, auf gegenseitige Verbindlichkeit zu verpflichten.

„Man hat mich vor Ihnen gewarnt“ erinnerte er sich dreißig Jahre später in seinem politischen Lebensrückblick. „Sie kennen Ihren Ruf; vielleicht denken Sie, daß ich Ihnen diesem Ruf entsprechend begegnen werde. Sie irren sich; ich werde Ihnen jedes Wort glauben, das Sie mir sagen. Sie werden sich von mir gefallen lassen müssen, daß ich Sie immer wieder bei Ihrem Wort nehmen werde.“ Solche Offenheit entwaffnete die rheinische Verschlagenheit, und Adenauer legte den Panzer taktiererischer Verstellung für einen bedeutenden Moment lang ab. Daran schloß sich ein langes Gespräch, das Konrad Adenauer mit den Worten beendete: „Was uns beide unterscheidet, ist nicht nur das Alter, es ist noch etwas anderes: Sie glauben an den Menschen, ich glaube nicht an den Menschen und habe nie an den Menschen geglaubt.“ Ich habe dieses Gespräch nie vergessen; Konrad Adenauer offenbar auch nicht. Noch nach Jahren zog er mich bei Empfängen gelegentlich in eine Ecke, zeigte in die Runde und sprach lächelnd: „Glauben Sie immer noch an den Menschen?“ (Schmid, Erinnerungen 358 f.).

Anekdoten werden als Erkenntnisquellen unterschätzt. An einer wie dieser wird bemerkbar, warum das ein Nachteil sein kann. Denn Adenauers Geste nüchterner Überlegenheit am Rande des Zynismus birgt die Wahrheit, die ins Zentrum des Problems führt, als das die Menschenrechte sich erweisen, denkt man nur lange genug über sie nach. Es ist ein anthropologisches, kein politisches Problem. Recht und Gesetz, staatliche Ordnung und Politik lösen es nicht. Sie sind Mittel einer Lösung, die anders gefunden werden muß.

Adenauers Verachtung legt den Kern möglicher Geltung der Menschenrechte offen: sie beruhen auf Glaube. Auf Glaube in jeder möglichen Bedeutung des Wortes. In der engsten religiösen ebenso wie in der weitesten persönlicher Überzeugungen.

Man muß an ihn ‚glauben‘, damit es ‚den‘ Menschen geben kann. Denn die Menschen sind anders. Die Idee, schließlich die Gesetzlichkeit der ‚Menschenrechte‘ stammt aus der Erfahrung, daß Menschen vor sich selbst und ihresgleichen geschützt werden müssen, um leben zu können. Die Tötung des Artgenossen ist eines der Wesensmerkmale, die den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheiden.

Oh, Jungens, ich will doch gar kein Mensch sein.“ Dieser Satz, den Bertolt Brecht in seiner Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagony“ die Figur des Paul sagen läßt (Brecht, Mahagony, 520), verdichtet die wichtigste aller anthropologischen Erkenntnisse. Ein Mensch ist ein Lebewesen, das sich weigern kann, zu sein, was es ist. Die Option der Selbstverleugnung gehört so sehr zu seinen Möglichkeiten des Selbstbezuges, daß die Folgen der Handlungen, die aus ihr entstehen, seine Geschichte bestimmen, seit es Zeugnisse von ihr gibt. Daß diese Fähigkeit der Selbstverleugnung jedoch das menschliche Selbstgefühl im Kern versehrt, ist der Ursprung der Idee der Menschenrechte.

Deren Wirklichkeit jenseits ihrer Idee hängt davon ab, daß an ihre Geltung geglaubt wird. Ein Recht ist nur dermaßen in Geltung, wie diejenigen, für die es verpflichtendes Gesetz ist, von seiner Gültigkeit überzeugt sind.

Um Adenauers Bemerkung für unser Thema aufschlußreich zu finden, muß man in ihr mithören, daß der gläubige Katholik nicht leichtfertig Gebrauch macht von dem Wort ‚glauben‘. Einem gegenüber, dem Glaube nicht dasselbe bedeutet wie einem Gläubigen, zu bekennen, nicht an den Menschen zu glauben, erweitert die Schlitzohrigkeit zur spitzfindigen Dialektik, die den Gesprächspartner vor unvermeidlicher Enttäuschung warnen will: der Ungläubige, der statt an den Schöpfer des Menschen und dessen Weltordnung an den Menschen selbst glaubt, kann von den wirklichen Verkörperungen seines ungläubigen Glaubens nur enttäuscht werden. Nur in wenigen Menschen wird er ‚den‘ Menschen verwirklicht finden. Wenn überhaupt. Der Rechtgläubige im religiösen Sinn dagegen weiß, daß es mit den Menschen nichts ist, und nimmt sie gelassen, wie sie sind. Und schließt sich selbst davon nicht aus. So kann er, erster Kanzler des neuen Staates geworden, das Volk, das er für dumm hält, für sich so sehr einnehmen, daß es ihn, mit absoluter Mehrheit bestätigt, regieren läßt, wie es ihm gefällt.

Die beiden Politiker, die sich da einen Moment des Tiefsinns am Abend der ersten Beratungen bereiteten, an deren Ende die Menschenrechte Grundlage allen in der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland geltenden Rechtes sein werden, waren zwei unmittelbare Zeugen der Politik der Unmenschlichkeit gewesen, die Europa und einen Großteil der Welt in der Epoche eines zweiten Dreißigjährigen Krieges von 1914 bis 1945 beherrschte, und annähernd hundert Millionen Menschen das Leben kostete. Beide waren sie in eigener Person von dem universalen Mittel dieser Politik, der Zufügung des Todes, bedroht gewesen. Sie wußten, was es heißt, daß es kein ‚Recht auf Leben‘ gibt, weil der Staat, dessen Gewaltmonopol allein es garantieren kann, es selbst nicht anerkennt.

Als gebildete Europäer kannten sie auch seinen Ursprung. Dem Recht auf Leben geht das Verbot, zu töten, voran. So sehr es unserer säkularen Mentalität auch widerstreben mag, ohne das archaische Gebot, wie das 5. Buch Mose es als göttliches Gesetz verkündet, wäre die neuzeitliche Idee der Menschenrechte nicht denkbar geworden. Als Privatpersonen mögen wir gemäß den Dogmen der Kirchenlehren noch so ungläubig sein; als Bürger, die die Menschenrechte selbstverständlich in Anspruch nehmen, und bereit sind, sie dort zu verteidigen, wo sie gefährdet sind und verletzt werden, sind wir kulturell Christen geblieben. Und als Christen Angehörige einer jüdischen Sekte.

Die Verdrängung dieser unbezweifelbaren Genealogie gehört zu den tiefsten Wirkungen des Antisemitismus, der zu eben der Zeit gesellschaftsfähig wird, in der die gesellschaftliche Erosion des Christentums sich im Zuge seiner beginnenden Historisierung beschleunigt. Aus der geglaubten Religion wird eine historische Erzählung mit dem Anspruch auf moralische Verbindlichkeit. Die Explosion des politischen Antisemitismus in der Shoah hat diesen Hintergrund mit einem Tabu belegt, das sich umso mehr verfestigte, als der Nationalsozialismus als Ersatzreligion für die säkularisierte Gesellschaft durchschaubar wurde.

In seinem letzten Roman >Der Büßer< hat Isaac Bashevis Singer diese Verschlingung mit der Offenheit benannt, vor der der Diskurs bis heute zurückschreckt. Dessen Protagonist entschließt sich als Folge seiner persönlichen ‚Bewältigung‘ der Shoah und ihrer Folgen zur Rückbindung seiner Lebensführung an den verdrängten Ursprung.

„Wenn es keinen Gott gibt oder wenn Gott amoralisch ist, dann möchte ich jenem Idol dienen, in dem sich moralisches Denken verkörpern soll, Wahrheitsliebe und Mitleid mit Mensch und Tier. Anständige Juden haben seit viertausend Jahren diesem Idol gedient. Um dieses Idols willen sind sie auf den Scheiterhaufen gestiegen.“
„Lohnt es sich, wegen eines Idols auf den Scheiterhaufen zu steigen?“
„Ja, Priscilla. Wenn Millionen Deutsche sich für das Idol Hitler und wenn viele Millionen Russen sich für das Idol Stalin geopfert haben, dann bin i c h bereit, mich für das Idol zu opfern – oder wenigstens dafür zu leiden –, in dessen Namen uns die Zehn Gebote und die Tora gegeben wurden.“ (…). Das ‚Idol‘, dem i c h dienen möchte, ist ein Idol des Lebens und der Treue. Es fordert keine Opfer. Es ist kein Moloch. Es verlangt nur, daß wir unser Glück nicht auf das Unglück anderer gründen.“
„Das ist nicht Religion sondern Moral.“
„Es gibt keine Moral ohne Religion. Wer dem einen Idol nicht dient, dient einem anderen. Von allen Lügen dieser Welt ist das Gerede von der Humanität die größte. Der Humanismus dient nicht nur einem sondern allen Idolen. Alle waren sie Humanisten -Mussolini, Hitler, Stalin. Und was sind denn die Patrioten sämtlicher Länder? Hunderttausende von Engländern mußten ihr Leben lassen, damit Victoria sich ‚Kaiserin‘ nennen konnte. Napoleon hat Millionen in den Tod geschickt, damit er sich eine Krone aufsetzen konnte. Der fromme Jude, der ‚Talmud‘-Jude, hat niemals einem König oder Fürsten gedient“ (Singer, Büßer, 141-143).

Sich der religiösen Herkunft der europäischen kulturellen Verbindlichkeiten erinnernd, die die Epoche des Weltkrieges außer Kraft gesetzt hatte, traten einige Abgeordnete des Parlamentarischen Rates dafür ein, den neu zu gründenden Staat in einer Präambel seiner Verfassung als einen „christlichen“ Staat zu bestimmen. Carlo Schmid hielt dagegen. Es gelang mir auch, meine Kollegen zu überzeugen, daß im Bewußtsein unseres Volkes ein Sittengesetz lebt, das wir für verbindlich halten, weil die Deutschen im Laufe ihrer Geschichte erkannten, daß Freiheit, Selbstverantwortung und Gerechtigkeit die Würde des Menschen ausmachen und daß diese Würde gebietet, daß jeder die Freiheit und die Selbstachtung eines jeden anderen achtet und sein Leben nicht auf Kosten der Lebensmöglichkeit des anderen führt. In diesem Moralverständnis können Christen und Nichtchristen sich im Freiheitsraum des Staates vereinigen (Schmid, a.a.O., 372).

Diesem „Sittengesetz“ liegt aber die Anthropologie der Schöpfung zugrunde. Die Unantastbarkeit des Menschen durch den Menschen ist göttliches Gebot. Als „Herr“ verfügt der Schöpfer allein über sein Geschöpf wie über ein Eigentum. Als Geschöpf ist der Mensch Gottes Besitz. Mit ihm kann er, und nur er, nach Belieben verfahren. Es lieben, strafen, ihm Gnade erweisen oder versagen, es schützen oder schädigen, Wohl und Wehe auferlegen, sich selbst überlassen oder es tragen. Und sein Dasein zurücknehmen. Der Herr gibt, der Herr nimmt. Seine Verfügung ist ausschließlich und total: und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis auf das Vieh und bis auf das Gewürm und bis auf die Vögel unter dem Himmel; denn es reut mich, daß ich sie gemacht habe (Moses 1, 6.7).

Das Christentum, das die strafende Herrschaft des Vaters durch die liebende seines Sohnes ersetzte, hat am alleinigen göttlichen Verfügungsrecht über den Menschen als Geschöpf festgehalten. Gott bleibt sein alleiniger Herr. Aus dem Bild des ‚Herrn‘ aber haben alle Herren der Welt ihre Ansprüche abgeleitet.

Daraus folgt für die Ansprüche der Menschenrechte die Legitimation des wichtigsten, des Rechtes auf Leben. Es war keine bloße seelsorgerische an die Gläubigen, sondern eine unmittelbar politische Ermahnung an die Machthaber, als der damalige Primas der katholischen Kirche Polens, Stefan Kardinal Wyszynski, in einer Rede am 7. April 1965 vor Studenten der Universität Warschau über „Die Würde des Menschen“ erklärte, niemandem stünde es an, zu urteilen – denn wer ist schon imstande, ein vollauf gerechtes Urteil zu bemessen? Das kann nur Gott allein tun! Notwendig ist jedoch ein heilendes Gericht, um die Menschen von der Besessenheit des Tötens und Mordens zu kurieren. Es kommen Zeiten, in denen wir ein solches Niveau menschlicher Kultur erreichen müssen, daß nur Gott selber das Recht, Todesurteile zu fällen, zugestanden wird (Wyszynski, Menschenwürde, 131).

Zwei Wochen später bekräftigt er in einer Predigt vor ehemaligen Häftlingen des KZ Dachau am 20. Jahrestag ihrer Befreiung, am 28. April 1965, die Unantastbarkeit des Menschen durch den Menschen als unabdingbare Verpflichtung seiner Geschöpflichkeit. Daß man ihn nicht in Krematoriumsöfen in Staub verwandeln darf, denn er ist ein Geschöpf Gottes (Wyszynski, a.aO., 145).

Allein darauf läßt sich gründen, was es nach der Glaubensspaltung des Christentums in der Reformation an ‚Ökumene‘ geben kann. Menschenverachtung ist Selbstverachtung als Geschöpf. Die Ablösung der alttestamentarischen Strenge des Herrn durch die Liebe des Sohnes im Evangelium der zweiten Offenbarung ersetzt den Gehorsam des Geschöpfes durch dessen Selbstverpflichtung, zu werden, was es sein soll. In seiner nachgelassenen „Ethik“ hat Dietrich Bonhoeffer entwickelt, wie das Recht, ein Mensch zu sein und in seiner Würde geachtet zu werden, auf der angenommenen Pflicht beruht, ein Mensch auch sein zu wollen. Gott liebt den Menschen. (…). Gott wird Mensch, wirklicher Mensch. Während wir uns bemühen, über unser Menschsein hinauszuwachsen, den Menschen hinter uns zu lassen, wird Gott Mensch und wir müssen erkennen, daß Gott will, daß auch wir Menschen wirkliche Menschen seien. Während wir unterscheiden zwischen Frommen und Gottlosen, Guten und Bösen, Edlen und Gemeinen, liebt Gott unterschiedslos den wirklichen Menschen. Er duldet es nicht, daß wir die Welt und die Menschen einteilen nach unseren Maßstäben und uns zu Richtern über sie aufwerfen (Bonhoeffer, Ethik, 16 f.). Was wir ‚von Natur‘ sind, können wir nur dann sein, wenn wir selbst es sein wollen, weil wir nichts anderes sein wollen, als wir durch den göttlichen Willen, daß wir sein sollen, sind. Wo das Recht im natürlichen Gegebenen gesucht wird, dort wird der Wille und die Gabe des Schöpfers geehrt, auch in der im Widerstreit liegenden Welt (a.a.O., 100). Daß es ein natürliches Recht des Einzelnen gibt, folgt aus dem Willen Gottes, den Einzelnen zu schaffen und ihm das ewige Leben zu schenken (a.a.O., 101).

Was den katholischen Kardinal und den protestantischen Theologen dogmatisch trennt, neutralisiert beider Konvergenz im Widerstand gegen die politische Anmaßung der Verfügung über das ‚Menschenbild‘, des einen gegen die des sowjetischen ‚Neuen Menschen‘, des anderen gegen die des ‚deutschen Herrenmenschen‘.

So total ist Gottes Verfügung über sein letztes Geschöpf, daß diesem nicht gestattet ist, über sein Leben selbst zu bestimmen. Die Sprache, derer wir uns bedienen, ist klüger als das, was wir sagen. Noch immer bezeichnen wir den, der den ultimativen Akt der freien Verfügung über sich selbst vollzog und sein Leben selbst beendete, als „Selbstmörder“. Und willigen damit ein in die archaische Verwerfung der Freiheit, über sich selbst zum äußersten verfügen zu können. Bis weit in die Neuzeit hinein wurde der Suizid als ein strafwürdiges Verbrechen behandelt. Selbstmörder wurden symbolisch noch einmal getötet, und aus der Kulturgemeinschaft eines rituellen Begräbnisses ausgeschlossen. Diese Barbarei ist überwunden. Aber die ‚Beihilfe zum Suizid‘ ist unverändert strafbewehrt.

Das Bündnis der Kirche mit dem Staat, das die Tausend Jahre unseres Mittelalters bestimmte, sollte hervorkehren, wie sehr der Mythos der totalen Verfügung Gottes über sein Geschöpf mit der Macht verbunden ist. Das archaische Verbot, zu töten – in dem die drei abrahamitisch-monotheistischen Religionen sich einig sind –, gilt weniger dem Schutz des Lebens als der Sicherung der Macht, die auf der Monopolisierung der Todesverfügung beruht. Die Mißachtung des Verbots wird mit einer weiteren Mißachtung bestraft, indem der Staat den Mörder tötet. Die Macht selbst beruht auf der Verfügung über den Tod: auf der Möglichkeit, ihn zuzufügen, oder es bleiben zu lassen. Daran hat der Epochenbruch des Übergangs vom ‚Mittelalter‘ in die ‚Neuzeit‘ nichts geändert. Aus dem Kronrecht wurde Souveränität.

Michel Foucault hat in seinem Kolleg „In Verteidigung der Gesellschaft“ von 1975/76 dafür die prägnante Formel gefunden, „Souveränität“ sei das Recht, sterben zu machen, oder leben zu lassen (Foucault, Verteidigung, 278. – Vorlesung am 17. März 1976).

Übersetzt man den biblischen Mythos der Schöpfungsanthropologie in die Abstraktion des modernen Bewußtseins, so zeigt sich, wie sehr in ihm die Elementarbedingung des Daseins erfaßt ist, von deren Verständnis das Verständnis des Menschenlebens abhängt. Was immer macht, daß wir leben, es sind nicht wir. Wir setzen weder unseren Beginn, noch unser Ende. Unser Dasein ist die Wirkung von etwas anderem als uns selbst.

Die Geschichte des modernen Bewußtseins vollzieht sich als Ersetzung „Gottes“ als Inbegriff dieses ‚etwas‘, das macht, was wir sind, durch „Natur“. In der Idee der Menschenrechte als gesetzlicher Anerkennung dessen, was wir von Natur aus sind, macht der Mensch selbst sich zur Rechtsquelle, und übernimmt als und aus Freiheit, anzuerkennen und zu schützen, was er ist. Aus dem Willen Gottes wird die Selbstverpflichtung des Menschen. Aus dem Objekt des göttlichen Willens wird das Subjekt freier Selbstbestimmung. Im 19. Jahrhundert übernahm der Staat gleichsam die Vormundschaft für den Menschen als hinterbliebene Waise des für gestorben erklärten Schöpfer-Gottes.

Teil 2 des Essasys erscheint nächsten Montag, den 15.07.2024

Letzte Änderung: 10.07.2024  |  Erstellt am: 10.07.2024

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