»Alles wird gut« - Teil 2

»Alles wird gut« - Teil 2

Kitsch: Die wahre Lüge

Der unerträglichen Wahrheit des Lebens begegnet der Kitsch mit der schönen Lüge. Sein Blick in die Welt ist märchenhaft. Wenn man schon lebt, will man es wenigstens im Leben gut haben, wenn es schon nicht gut ist. Philosoph und Autor Andreas Steffens beleuchtet, wie der Kitsch auf diese Tragik des Trivialen als Ersatz der Rebellion gegen die Zumutungen und Unerträglichkeiten des Lebens reagiert. So süß wie der Zucker, wird der Kitsch zum Süßstoff gegen die Herbheiten des Lebens.

Als Travestie der Theodizee bedroht er eine metaphysische Haltung zum Leben damit, in ihn umzuschlagen. Das widerfuhr Ernst Jünger, als er beschrieb, wie er einmal beinahe ertrunken wäre, und sich gegen alle Erwartung gerade noch hatte retten können, als waltete eine Macht über eine verborgene Unentbehrlichkeit seiner Person, als wäre er nicht ertrunken nicht, weil er am Leben bleiben wollte, und die Kraft dazu gegen die verhängnisvolle Meeresströmung gerade noch rechtzeitig aufbrachte, sondern weil er es nicht sollte (Blumenberg, »Jahrhundertgestalt«, 56). Ebenso kennt der Kitsch nirgends Tragik noch Unglück, nur glückliche Fügung überall.

Der Kitsch nimmt die griechische Idee der Kalokagathie, der Einheit von ›gut‹ und ›schön‹, so verwegen wörtlich, wie nur Gedankenlosigkeit es vermag. Nicht alles Gute ist schön schon in seiner Erscheinung; aber nichts Schlechtes kann schön sein; also muss alles, was nicht schlecht sein soll, obwohl es das ist, angesehen werden, als wäre es schön.

Seine das alttestamentliche Bilderverbot verhöhnende Bilderflut entbehrten Glücks in der schlechten Welt zeigt nicht, was sein sollte, so, wie es trotz allem sein könnte, überwände man sich nur, das dazu Erforderte zu tun, sondern das Bestehende, als wäre es, wie es zu sein hätte, damit das Elementarbedürfnis nach Erträglichkeit des Lebens sich erfülle. Seine Ablehnung alles ›Negativen‹ verzichtet auf die Negation, die es tatsächlich behöbe.

Der Kitsch produziert eine Art von Schönheit, die die Existenz ihres Gegenteils nicht nur überdeckt, sondern übersieht. Er will nicht wahrhaben, dass es wirkliche Schönheit von Menschen, Dingen und Verhältnissen nur durch ein Moment des Hässlichen an ihnen geben kann. Den künstlichen Schönheitsfleck auf der Wange, der zum erotischen Raffinement der Damen des Rokokos gehörte, verkennt er als Entstellung, und merkt nicht, wie das Störmoment die sich darbietende Schönheit unterstreicht, und den Blick von deren tatsächlichen Mängeln ablenkt. Sein Allheilmittel ist eine glatte Schönheit ohne Beteiligung der Erkenntnis, die das Hässliche nicht übersehen könnte.

Der Kitsch weiß nicht, dass der Adressat von Kunst denken kann, es vielleicht sogar will. Er verspricht ihm, es nicht zu müssen, und dennoch Zufriedenheit mit sich selbst zu finden. Er bietet gedankenlose Schönheit für den Genuss ›kleiner Freuden‹ inmitten großer Unzumutbarkeiten.

Indem es ihm ausschließlich um den Selbstgenuss seines Konsumenten geht, setzt der Kitsch alles auf Wirkung und Effekt, auf Gefühlserregtheit, ›poetische Stimmung‹ (Killy, Deutscher Kitsch, 11). Das macht ihn der Pornografie gleich. Wie diese kennt er keine Vorlust, sondern kommt sofort zur Sache, die dennoch unbestimmt bleibt. Dabei lässt er keine Unklarheiten zu, außer im Stil (Deschner, Kitsch und Konvention). Alles ist ihm klar und jeder Verlauf, jede Situation bekannt und absehbar: nichts kommt anders, als man es in der Hoffnung auf eine allumfassende Güte erwartet, die sich am Ende in allgemeiner Versöhnung durchsetzen wird. Das Schlechte, das er nicht auslässt, sondern noch stärker ausmalt, als es in Wirklichkeit in den Banalitäten des Lebens, die er ausbreitet, je auftritt, um es umso triumphaler in Wohlgefallen aufzulösen, weil das Schlechte nur ein Missverständnis war, ist ihm nur Vorwand für die Demonstration der Allgewalt des Guten, die umso gewisser wird, je größer die Schwierigkeiten sind, die er seine Figuren der Phantasielosigkeit durchleben lässt, bis sie das ihnen bestimmte Glück erreichen, das mit dem ersten Satz des Romans, der ersten Szene des Films schon feststand.

Der Kitscherzählung fehlt die Begründung für den Zusammenhang ihres Ganzen, dessen Teile verwechselbar sind (Killy, a.a.O., 18). In ihr ist alles folgerichtig, und nichts notwendig. Er kennt kein Schicksal, weil er den Triumph des Guten als Schicksal feiert.

Dabei ist der Kitsch weder dumm noch naiv. Seine Perfidie liegt darin, dass er genau kennt und in den grellsten Farben ausstellt, was er leugnet. Wie die Lüge die Wahrheit voraussetzt, die sie verbirgt, kennt der Kitsch die wahre Verfassung der Welt und des Daseins in ihr durchaus. Von den Bedingungen der Wahrscheinlichkeit befreit, macht er menschliche Grundbedingungen deutlich. Der Bosheit der Welt wird die Kraft eines edlen Gemüts entgegengestellt (Killy, a.a.O., 25 f.). Als die Pseudolebensweisheit, glücklich sein zu können, indem man sich dumm stellt, ist er die ästhetische Gestalt der ›selbstverschuldeten Unmündigkeit‹, sich seines eigenen Verstandes nicht zu bedienen.

Als Denker der realen Möglichkeiten der Utopie hat Ernst Bloch neben dem Betrug das echte Bedürfnis darin gesehen, und das ›happy end‹ als dessen Statthalter unter den ebenso realen Bedingungen ihrer Unmöglichkeit verteidigt. Viel steht dafür, den Schein am Ende schlechthin zu verurteilen. Im Anblick des Unheils, das er angerichtet hat, heute, in steigender Weise, anrichtet. Wo die Arbeit gar keine Freude mehr macht, muß die Kunst dazu herhalten, Spaß zu sein, fröhlicher Schwindel, aufgesetztes happy end. […]. Und trotzdem ist das nur die eine Seite des Scheins, die selber falsche. Ein unüberhörbarer Trieb arbeitet in der Richtung des guten Endes, er ist nicht nur auf Leichtgläubigkeit beschränkt. Daß Betrüger sich diesen Trieb zunutze machen, widerlegt ihn au fond fast so wenig, wie der ›Sozialist‹ Hitler den Sozialismus widerlegte. Die Betrügbarkeit des happy-end-Triebs besagt nur etwas gegen den Stand seiner Vernunft; dieser aber ist so belehrbar wie verbesserbar. Der Betrug stellt das gute Ende dar, als sei es in einem unveränderten Heute der Gesellschaft erreichbar oder gar schon das Heute selbst. Doch indem die Erkenntnis den faulen Optimismus zuschanden macht, macht sie nicht auch die dringende Hoffnung aufs gute Ende zuschanden. Denn diese Hoffnung ist zu schwer zerstörbar im menschlichen Glückstrieb begründet, und zu deutlich war sie allemal ein Motor der Geschichte. […]. Solange kein absolutes Umsonst (Triumph des Bösen) erschienen ist, ist darum das happy-end des rechten Sinns und Wegs nicht nur unser Vergnügen, sondern unsere Pflicht (Bloch, Prinzip Hoffnung, 513; 514 f.; 518).

Sie anzunehmen aber, ist prekär. Der Kitsch des guten Ausgangs täuscht die realisierte Utopie ohne Bewusstsein ihrer Notwendigkeit vor. Er übergeht die Wahrnehmung der Wirklichkeit zugunsten ihrer Fiktion, die sie zeigt, wie sie sein sollte, ohne sich der Mühe zu unterziehen, einzusehen, warum sie anders sein müsste. Dagegen kommt keine Belehrung, keine Aufklärung an, weil seine Wirklichkeitsverleugnung den Kitsch zu einer Gestalt der Ignoranz macht, die keine mangelnde Einsicht, sondern der Wille zum Nichtwissen ist.

Aber auch er hat seine Berechtigung. Der Entschluss, Einsicht zu verweigern, sich seines Verstandes zur Verbergung dessen zu bedienen, was man eigentlich doch weiß, ist auch eine elementare Antwort der Vitalität auf die Wahrheit des Lebens. Sie zu kennen, und dennoch zu leben, erfordert eine Kraft, die aufzubringen nur zu leicht überfordert. Auch der gedankenlose Lebenswille, dessen Ästhetik der Kitsch ist, ist Selbstbehauptung.

Als falscher Triumphator des erhofften guten Endes wirkt der Kitsch an der Bosheit mit, die es verhindert. Seine betrügerische Verwandlung der Welt zur Erträglichkeit, sein Versprechen, sieh nur genau hin, und du wirst entdecken, was du nie erfuhrst, du bist unglücklich, aber sieh nur, wie schön der Sonnenuntergang ist, kann er auf Dauer nur durch jene Grundhaltung leisten, deren Wirkung im wirklichen Leben er aus dessen Wahrnehmung ausschließt, die kennzeichnet, das Böse zu tun, als wäre es das Gute. So wird der Kitsch zum Instrument des Bösen, des Demiurgen, der den Menschen die Welt als Hölle bereitet, während er ihnen vorgaukelt, sie wäre das Paradies. In der Kunst steht er stärker für das Böse als für das Gute in falscher Weise (Broch, »Das Böse im Wertsystem der Kunst«).

Die Haltung, die ihn seit dem 19. Jahrhundert zum Lebenselixier des ›Spießbürgers‹ machte (Glaser, Spiesser-Ideologie), beginnt bei der Guillotine, dem Instrument der Revolution, die das Leben vernünftig und glücklich machen wollte, bei deren Schreckensarbeit die Zuschauer Süßigkeiten und Backwerk knabberten, Wein und Limonaden tranken, die von den fliegenden Händlern wohlfeil und in Massen angeboten wurden. Man könnte sagen, der Place de Grève, die heutige Place de la Concorde, auf dem die Guillotine ihr Schreckenswerk verrichtete, war der erste schauerliche Rummelplatz bürgerlicher Volksunterhaltung (Berend, Die gute alte Zeit, 17 f.).

Idylle und Gemütlichkeit sind Kinder des Schreckens. Das Leben soll schön sein, weil es schrecklich ist. Inmitten seiner Schrecken richtet man sich behaglich ein. Der Kitsch-Mensch (Broch, »Einige Bemerkungen«, 295) ist lustig, aber nicht heiter, und seine gehässige Lachlust, die er für Humor hält, weiß sich noch am Unglück anderer zu ergötzen.

Von den Scheußlichkeiten seines eisern pflichtbewusst ausgeübten Mordhandwerks ermüdet und deprimiert, genießt der Kommandant von Auschwitz sein Familienleben in der Villa am Rand des Lagers. Dessen idyllische Überhöhung bietet ihm Erholung von dem Schrecklichen, das er verrichtet. Doch sie ist brüchig. Da Häftlinge Teil des heiteren Familienlebens sind, als wäre das Vernichtungslager eine freundlich geführte Gutsherrschaft, gelingt die Verdrängung nur vorübergehend.

Ja, meine Familie hatte es in Auschwitz gut. Keder Wunsch, den meine Frau, meine Kinder hatten, wurde erfüllt. Die Kinder konnten frei und ungezwungen leben. Meine Frau hatte ihr Blumenparadies. Die Häftlinge taten alles, um meiner Frau, um den Kindern etwas Liebes zu tun, um ihnen eine Aufmerksamkeit zu erweisen. Es wird wohl auch kein ehemaliger Häftling sagen können, daß er je in unserem Haus schlecht behandelt worden sei. Meine Frau hätte am liebsten jedem Häftling, der irgend etwas bei uns zu tun hatte, etwas geschenkt. Die Kinder bettelten dauernd bei mir um Zigaretten für die Häftlinge. An den Gärtnern hingen die Kinder besonders. […]. Ihre größte Freude war jedoch, wenn Vati mitbadete (Höß, Kommandant in Auschwitz, 134).

Doch der Teufel weiß, dass die Idylle inmitten der Hölle Selbsttäuschung ist. Auch er ist nicht dumm.

Es kam oft vor, daß ich zuhause plötzlich mit meinen Gedanken bei irgendwelchen Vorgängen, bei der Vernichtung war. Ich mußte dann raus. Ich konnte es nicht mehr im trauten Kreis meiner Familie aushalten. Oft kamen mir so, wenn ich unsere Kinder glücklich spielen sah, meine Frau mit der Kleinsten überglücklich war, Gedanken: Wie lange wird euer Glück noch dauern? (a.a.O., 133). Der Unmensch leidet an dem, was er tut. Statt es einzustellen – was jedem Funktionär der Vernichtung jederzeit ohne nachteilige Folgen möglich war –, greift er zur doppelten Verklärung: des Verbrechens zur moralischen Pflicht, und seines Privatlebens zur Enklave der Normalität inmitten des Ungeheuerlichen.

Die Verklärung der äußersten Unmenschlichkeit ist die extremste Wirkung des Kitsch-Impulses, das Schlechte als gut erscheinen zu lassen. Dass er noch dort wirkt, wo Menschsein sich selbst außer Kraft setzt, offenbart die tiefe Affinität des Kitsches zum Bösen. Er ist an das gebunden, was nicht sein sollte. Mit seiner Verleugnung bezeugt er es. Indem er das Schlechte als gut erscheinen lässt, überdeckt er die Verweigerung seiner möglichen Vermeidung. Der Kitsch ist die Selbstbeglaubigung der Gleichgültigkeit. ›Alles halb so schlimm‹, ist seine Parole, mit der er rechtfertigt, zu unterlassen, das Richtige zu tun. Man weiß es besser; aber das muss nichts heißen, da ihr schönes Bild die schlechte Wirklichkeit verbirgt. Im schönen Bild verschwindet, was es zu zeigen vorgibt. So ›wird alles gut‹.

Die Kitschseele will das Leben, wie es ist und nicht anders sein könnte, in Wirklichkeit gar nicht. Deshalb stellt sie alles im ausgewogenen Zustand uneingeschränkter Zustimmungsfähigkeit dar, den es nicht geben kann. Die Erstarrung in der Mitte, die einzuhalten die goldene Regel des Kitsches ist – die Vase steht immer genau in der Mitte des Tisches, das Bild hängt immer genau in der Mitte über dem Sofa –, macht den Kleinbürger zum geborenen Aristoteliker. Er liebt, worin der Philosoph des Maßes und der Mäßigung den Kern der Lebensweisheit sah, die Mitte als Ausgleich schädlicher Extreme. Dafür, dass die Wahrheit in der Tat zwischen zwei Extremen, aber nicht in der Mitte liegt (Heimann, »Was ist das: ein Gedanke?«), hat er kein Gespür, weil ihm der Sinn für Nuancen fehlt.

Als Ort der ausgeglichenen Spannungen ist die Mitte der Zentralpunkt der Unlebendigkeit. An ihm bewegt sich nichts mehr. Dem entspricht das Spießer-Ideal des ruhigen Lebens, und seine Vorstellung anstrengungslosen Glücks. Statt sich sein Leben anders vorzustellen, hegt er Tagträume vom Schlaraffenland, in dem die Arbeit von anderen erledigt wird, während er im Garten Unkraut jätet, in dem die Gartenzwerge den beneideten Nachbarn entgegengrinsen, denen er alles verübelt, was sie von ihm unterscheidet. Rentier möchte er sein. In den Jahren des ersten deutschen Wirtschaftswunders zwischen 1872 und 1910 erfüllte der Wunsch sich für eine bis dahin arme Mittelschicht, als es Metzgern, Bäckern, Kaufleuten und Handwerkern möglich wurde, mit Krediten, die aus den viele Milliarden Goldmark schweren Reparationszahlungen finanziert wurden, die Frankreich nach seiner Niederlage 1871 an das neue Deutsche Reich zu zahlen hatte, Mietskasernen und Gebäude zu errichten, deren ›gutbürgerliche‹ Wohnungen und ›großbürgerliche‹ Salons mit Plüsch und Nippes überladen waren, die das Gepräge der deutschen Großstädte bestimmten, bis sie in den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs zu Steinwüsten wurden.

Wer immer an allem sofort zum mittleren Zustand greift, muss irgendwann jedes Maß verlieren. Das ist der Moment der Verführung zur Unmenschlichkeit, die nichts anderes ist als die Maßlosigkeit des Menschen im Umgang mit sich selbst und seinesgleichen.

Beginnt der Kitsch politisch zu werden, droht die Verschuldung, die er als Verfassung des Daseins leugnet. Sein politischer Einsatz, die politische Nutzung seiner Wirkung der Affektpotenzierung durch Affektfixierung, bereitet Verbrechen großen Stils vor. Staatsverbrechen.

Wo aber eine einzige politische Partei alle Macht hat, befinden wir uns im Reich des totalitären Kitsches.

Sage ich totalitär, so bedeutet dies, daß alles, was den Kitsch beeinträchtigen könnte, aus dem Leben verbannt wird: jede Äußerung von Individualismus (jede Abweichung ist Spucke ins Gesicht der lächelnden Brüderlichkeit), jeder Skeptizismus (wer an Kleinigkeiten zu zweifeln beginnt, wird damit enden, das Leben an sich anzuzweifeln), jede Ironie (im Reiche des Kitsches ist alles unbedingt ernst zu nehmen), aber auch die Mutter, die ihre Familie verlassen hat oder der Mann, der die Männer den Frauen vorzieht und so die hochheilige Parole ›Liebet und mehret euch‹ in Frage stellt (Kundera, a.a.O., 241).

Der Kitsch dient als Kitt zwischen den Diktatoren und ihren Untertanen, denen er jenseits der Unterdrückung Einverständnis ermöglicht. Wenn zu Zeiten des Totalitarismus in Deutschland, Italien und Rußland Kitsch die offizielle Richtung der Kultur war, dann nicht, weil die Regierungen dieser Länder mit Kunstbanausen besetzt sind, sondern weil Kitsch in diesen Ländern, wie überall anders auch, die Kultur der Massen ist. Die Förderung des Kitsch ist bloß eine der billigen Methoden, mit denen totalitäre Regime sich bei ihren Untertanen einzuschmeicheln versuchen. Da diese Regime – selbst wenn sie es wollten – das kulturelle Niveau der Massen nicht anheben können, […], umwerben sie die Massen, indem sie die gesamte Kultur auf deren Niveau absenken (Greenberg, a.a.O., 52). Ein Mann, der Schäferhunde liebt und die Maler, die sie so zu malen wissen, dass man meint, sie auf ihren Bildern streicheln zu können, ist ein Mann des Volkes, wie sehr er es auch verachten und unterdrücken mag: so einer ›wie wir‹ kann doch nicht wirklich schlecht sein. Dass er als Wiener Männerheiminsasse hübsche Postkarten malte, die schön erscheinen, weil sie schön sein sollen, was ihr miserables Handwerk übersehen lässt, gibt den Diktator Hitler seinen Anhängern nicht als gescheiterten Künstler zu erkennen, sondern macht ihn vertrauenswürdig.

Die Perversion erreicht ihren Gipfel, indem der Tod, dessen permanente Androhung die Gewaltregime begründet und der das universale Mittel ihrer Politik ist, propagandistisch als metaphysische Pflicht zum heroischen Selbstopfer verklärt wird, das den Mord rechtfertigt: bereit, zu sterben, darf getötet werden (Friedländer, Kitsch und Tod). Die Kitschseele Himmler, unumschränkter Herr über Leben und Tod von Millionen Menschen, sah das größte Ruhmesblatt seiner Schergen darin, dass sie bei der Verrichtung ihres Mordhandwerks ›sauber‹ geblieben seien. Im Sauberkeitszwang findet die vom Versprechen des Kitsches verführte Seele Beruhigung von den Strapazen, die es bereitet, mit kuchenweicher harter Hand den Putzlappen des Todes durch die verdreckte Welt zu zerren. Die Kitschseele braucht es auch bei der Arbeit im Lager gemütlich, und so aufgeräumt, wie sie sich beim Kameradschaftsabend aufführt.

Die Sentimentalität des Kitsches, die im unweigerlichen Sieg des Guten träumerisch zu sich kommt, erzeugt eine Entschuldungsvortäuschung, indem sie ihrem Genießer das Empfinden einer Trauer bereitet, die ihn sich selbst als Opfer der Schlechtigkeit der Welt erleben lässt, die ihn in seinem alltagsrealen Leben zu allen kleinen und großen Gemeinheiten berechtigt, mit denen er gegen sie aufzubegehren überzeugt ist, während sie sie tatsächlich nur vergrößern und verewigen. Wer im Lesesessel, im Kinosaal, vor Fernseh- und Computerschirmen um den Helden, der zum Opfer zu werden droht, bangt, und um die umgekommene Heldin weint, meint immer sich selbst. Die Kitschseele ist ohne Empathie.

Der Kitsch ist die ehrlichste Art, auf die Zumutung des Daseins zu reagieren; und die verlogenste, indem er deren Eingeständnis und Leugnung zugleich ist. Die Kitschseele weiß, dass die Welt aus Unzumutbarkeiten besteht; und leugnet es, weil sie weiß, es mit ihnen nicht aufnehmen zu können. Ihre Resignation aus Bequemlichkeit lässt sie die Blindheit wählen, und die Tüchtigkeit als Anpassung an die Verhältnisse, wie schlecht sie auch seien.

Die Brüchigkeit des Lebens wird vom Kitsch geleugnet, indem er die Welt verklärt, die auf deren Gleichgültigkeit um die menschlichen Ansprüche an sie beruht. Er ist empörend, weil er zum Gegner überläuft. Aus Schwäche verrät er die Wahrheit der Melancholie, deren Zwillingsbruder Leichtfuß er ist. Wir genießen ihn, weil wir wissen, dass er Lüge ist, nicht obwohl. Er gehört zu den unvermeidlichen Lebenslügen, die das Bedürfnis nach Entlastung im unabweisbaren Empfinden der Unabänderlichkeit des schlechten Lebens, das er nicht wahrhaben will, erfüllen.

Literatur

Adorno, Theodor W., Philosophie der neuen Musik, Gesammelte Schriften, Band 12, Frankfurt a.M. 1976
Berend, Alice, Die gute alte Zeit. Bürger und Spießbürger im 19. Jahrhundert (1938), Hamburg 1962
Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung (1959), Frankfurt a.M. 1976, Band 1
Blumenberg, Hans, »Jahrhundertgestalt«, in: ders., Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger, Frankfurt a.M. 2007
Broch, Hermann, »Das Böse im Wertsystem der Kunst« (1933), in: ders., Gesammelte Werke, Essays Bd. I, hg. v. Hannah Arendt, Zürich 1955, 311–348
Broch, Hermann, »Einige Bemerkungen zum Problem des Kitsches«, in: ders., Gesammelte Werke, Essays Bd. I, hg. v. Hannah Arendt, Zürich 1955, 295–309
Céline, Louis-Ferdinand, Reise ans Ende der Nacht (1932; 1961), Reinbek 2003
Deschner, Karlheinz, Kitsch und Konvention. Eine literarische Streitschrift (1957), ergänzte und überarbeitete Neuausgabe, Frankfurt a.M-Berlin-Wien 1980
Friedländer, Saul, Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, 1982, München 1984
Giesz, Ludwig, Phänomenologie des Kitsches. Ein Beitrag zur anthropologischen Ästhetik, Heidelberg 1960
Glaser, Hermann, Spiesser-Ideologie. Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert und dem Aufstieg des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M.-Berlin-Wien 1978
Greenberg, Clement, »Avantgarde und Kitsch« (1939), in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, hg. von Karlheinz Lüdeking, Dresden 1997, 29–55
Heimann, Moritz, »Was ist das: ein Gedanke?«, in: Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte. Essays, Frankfurt a.M. 1966, 278–280
Höß, Rudolf, Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen, hg. von Martin Broszat (1963), München 1978
Killy, Walter, Deutscher Kitsch, Göttingen 1961
Koons, Jeff, »Made in Heaven«, in: The Jeff Koons Handbook, London 1992
Kundera, Milan, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Roman, München 1984
Stadler, Arnold, Mein Leben mit Mark. Unterwegs in der Welt des Malers Mark Tobey, München 2022
Steffens, Andreas, »Offenbarungsirrtum. Wie Schopenhauer angesichts der Sixtinischen Madonna die Moderne beendete, bevor sie richtig begonnen hatte, und dieses Ende nicht aufhören will, zu beginnen«, in: neue deutsche literatur, 546. Heft, 50. Jahrgang, 144–149
Vargas Llosa, Mario, Die Wahrheit der Lügen. Essays zur Literatur, Frankfurt a.M. 1994
Worringer, Wilhelm, »Zum Umgang mit Kitsch« (1951), in: ders., Fragen und Gegenfragen. Schriften zum Kunstproblem, München 1956

(geschrieben 2005; überarbeitet und erweitert 2023)

Letzte Änderung: 09.09.2024  |  Erstellt am: 03.09.2024

divider

Kommentare

Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.

Kommentar eintragen