»Alles wird gut« - Teil 1

»Alles wird gut« - Teil 1

Kitsch: Die wahre Lüge

Der unerträglichen Wahrheit des Lebens begegnet der Kitsch mit der schönen Lüge. Sein Blick in die Welt ist märchenhaft. Wenn man schon lebt, will man es wenigstens im Leben gut haben, wenn es schon nicht gut ist. Philosoph und Autor Andreas Steffens beleuchtet, wie der Kitsch auf diese Tragik des Trivialen als Ersatz der Rebellion gegen die Zumutungen und Unerträglichkeiten des Lebens reagiert. So süß wie der Zucker, wird der Kitsch zum Süßstoff gegen die Herbheiten des Lebens.

Die Welt ist schlecht, und das Leben hart. Wer wüsste das nicht.

Aber es hilft nichts. So lebt man hin, wie es kommt, und achtet darauf, dass alles auch seine gute Seite habe. Und wünscht es sich insgeheim anders.

Das Leben ist nicht gut, und kann durch nichts dazu werden. Das aber heißt nicht, nicht empfinden zu können – oder gar, es nicht zu dürfen –, dass es gut sei, zu leben. Wenn man schon lebt, will man es wenigstens im Leben gut haben, wenn es schon nicht gut ist.

Auf diese Tragik des Trivialen reagiert der Kitsch als Ersatz der Rebellion gegen die Zumutungen und Unerträglichkeiten des Lebens. Statt ihnen entgegenzutreten, beschwört er, wie gut es doch eigentlich sei. Gegen alles Negative bietet er einen totalen Willen zum ›Positiven‹ auf, der allem eine ›schöne‹ Gestalt verleihen will.

Schließlich ist das Leben ein prall mit Lügen gefüllter Wahn, und je ferner man sich ist, umso mehr Lügen kann man reinstopfen und umso zufriedener ist man, das ist nur natürlich und auch ganz in Ordnung so. Die Wahrheit ist nicht genießbar (Céline, Reise ans Ende der Nacht, 478 f.). Der unerträglichen Wahrheit des Lebens begegnet der Kitsch mit der schönen Lüge.

Sein Blick in die Welt ist märchenhaft. Vom Märchen lässt er sich die Zuversicht seines eisernen Willens zum Glück, den nichts beirrt, beglaubigen, alles sei möglich. Die Kraft der Verwandlung, die im Märchen die Güte der Unschuld stiftet, ohne die der Zauberspruch nicht wirken könnte, verfälscht er zur Verklärung dessen, was sie notwendig macht. Während das Märchen die Schrecken der Wirklichkeit in unbeschönigter Drastik kennt, verdeckt er sie mit seinen Tagtraumbildern einer Welt, die so heil schon ist, wozu nur ein Zauber sie bereiten könnte.

Dazu bedient er sich der Verklärung durch Beschönigung, der Verharmlosung durch Verkleinerung. Alles schrumpft ihm zur Niedlichkeit. »Nur ein Viertelstündchen« gewährt das gestickte Deckchen auf dem Sofa des Mittagsschlafs, das Arbeitsethos des Tüchtigen augenzwinkernd unterbrechend. Alles verfällt dem Diminutiv. Mag die Windel auch stinken, ›Frauchens‹ Baby ist immer ›süß‹. So süß wie der Zucker, wird der Kitsch zum Süßstoff gegen die Herbheiten des Lebens, in das er klebrig sickert wie Langnese-Honig, der am Frühstücksbrötchen die Finger verschmiert.

Wie der Zucker metaphorisch sein Verwandlungsstoff, sein alchimistischer Stein der Unweisheit seiner Wirklichkeitsverfälschung ist, so ist der reale Zucker der Kitsch der Nahrungsindustrie, die ihn ihren Produkten in immer höherer Dosis zusetzt. Jeden echten Geschmack verderbend, wie der Kitsch den an der Kunst, bei der er sich für seine Vortäuschungen geschickt bedient. Auf der Zunge zergehend, verwandelt das Glücksverlangen sich in der Wirkung seiner Surrogate in reale schleichende Vergiftung.

Durch Übertreibung wird die Beschönigung zur Verfälschung, die sich zur Selbstbedrohung steigert, je weiter sie sich von den Wirklichkeiten entfernt, wenn heutzutage die dem Gebot der ›Selbstoptimierung‹ gehorchenden Bildrepräsentationen, die man in den Sozialen Medien von sich verbreitet, nur noch zeigen, wie man gerne wäre und sich vorstellt, wie die anderen einen gerne sähen, und den wirklichen Kontakt zum Fiasko der Enttäuschung geraten lassen, die aus der tatsächlichen Gemeinschaft ausschließt, deren Anerkennung und Bestätigung man damit doch zu erlangen sucht. Die Enttäuschungen der Wirklichkeit selbst werden von den Bildern, die über sie hinwegtäuschen sollen, noch überboten. In der Verharmlosung der durchschauten Wirklichkeit in den Bildern, die sie zur Annehmlichkeit verzerren, die sie entbehrt, verflüchtigt sich die richtige Einsicht in ihre Erbärmlichkeit, die nach Überwindung verlangt.

Kitsch ist wie Zahnbehandlung, unangenehm, aber unentbehrlich. Eine schmerzhafte Wohltat. Er hilft gegen das, was die, die ihn mögen, den ›Ernst des Lebens‹ nennen, den sie ebenso sehr verachten, wie sie ihn gleichgültig hinnehmen. Ernst ist nur erträglich gemeinsam mit Kitsch (Céline, a.a.O., 463). Er täuscht über ihn hinweg. Und lässt ihn unbehelligt walten. Während der Pessimist in allem Guten auch das Schlechte, und der Optimist auch im Schlechten noch Gutes findet, sieht der Kitsch als hemmungsloser Optimismus in allem nur das Gute, wie harmlose Lebensratgeber und gefährliche Pseudotherapien noch im Unglück eine ›Chance‹ sehen wollen.

Die neueste Begrüßungsformel der Alltagssprache »Alles gut?!«, die die alte »Wie geht’s« ersetzte, steht für die Lebenshaltung hinter ihm, indem ihre Bestätigungserwartung ein ehrliches »Nein« als Antwort nicht mehr zulässt. Das Einbekenntnis, es gehe einem schlecht, ist der Skandal, nicht die Gründe dafür, die benannt zu erhalten an die eigenen verdrängten Miseren erinnern würde. Während der Optimismus wenigstens weiß, wie brüchig alles Gute und wie schutzbedürftig es ist, unterdrückt seine Kitschversion seinen Sinn, das Schlechte nicht für übermächtig, und das Gute für möglich zu halten. Es mag schlecht sein, aber so muss es nicht bleiben. Darauf antwortet der Kitsch mit einem Fatalismus der Unveränderbarkeit, und folgert, dass das Schlechte schon gut sei. Man müsse es nur entdecken. Sein ›So ist das Leben eben‹ heißt immer: in seiner Falschheit unbehebbar. Die ontologisch nüchterne Resignation konterkarieren die Vorstellungen des falschen als eines trotz allem schönen Lebens. Das verleiht dem Kitsch eine prekäre Berechtigung im Anschein der Unentbehrlichkeit für ein schwer erträgliches Leben.

Wer ästhetisch auf sich hält, macht um ihn den größten Bogen. Als gäbe es ihn nicht. Womit die Haltung einer künstlerischen Ethik genau die Geste spiegelt, die ihn selbst unzumutbar macht: die Leugnung des Verwerflichen.

Es gibt bei den Gebildeten leicht ein gewisses Versagen und Generalisieren vor dem Naturgewächs ›Kitsch‹. Mit dem bloßen Absprechen und Belächeln ist es nicht getan. Im Lebensganzen will er ernstgenommen und nach seinem Woher gefragt werden. Das wirkliche Problem fängt erst da an, wo die kategoriale Abfertigung aufhört (Worringer, »Zum Umgang mit Kitsch«, 179).

Etwa die, in ihm einen Verschnitt aus den Elementen der ›Hochkultur‹ zu sehen, die in die ›Massenkultur‹ absinken. Aus ihr entleiht er sich Mittel, Tricks, Strategien, Daumenregeln, Themen, wandelt sie um zu einem System und verwirft den Rest. Er saugt sozusagen sein Lebensblut aus diesem Reservoir von angesammelter Erfahrung. Das ist es, was man wirklich meint, wenn man sagt, die populäre Kunst und Literatur von heute sei einst die kühne, esoterische Kunst und Literatur von gestern gewesen. Natürlich ist nichts dergleichen wahr. Gemeint ist, daß das Neue, sobald genügend Zeit verstrichen ist, ausgeplündert wird auf der Suche nach neuen ›Drehs‹, welche dann verwässert und als Kitsch aufserviert werden. […]. Es gibt ihn auf vielen verschiedenen Niveaus, manche davon hoch genug, um den naiven Sucher nach der wahren Erleuchtung in Gefahr zu bringen (Greenberg, »Avantgarde und Kitsch«, 40 f.).

Das ist nicht falsch, erfasst aber nicht das Wesentliche. So sehr der Kitsch als Diktat des Profits über die Kultur (Adorno, Philosophie der neuen Musik, 19) zu den ökonomisch motivierten Manipulationen der ›Kulturindustrie‹ gehört, so wenig ist er damit erklärt. Er ist Missbrauch des Ästhetischen. Aber dieser Missbrauch reagiert auf ein authentisches Bedürfnis, das er auf betrügerische Weise nur scheinbar befriedigt. Er ist der ästhetische Scharlatan, der die Sehnsucht nach Heilung des ›beschädigten Lebens‹ quacksalbernd ausnutzt. Ohne Wirkstoff lindert er als Placebo das Unbehagen am wirklichen Leben.

Der Kitsch ist keine mindere Kunst, sondern die Anwendung ihres Handwerks ohne ihre Wahrheit. Ihre Techniken nutzend, ist er die Ästhetik der Verlogenheit. Er gestaltet keine Wahrnehmungen seiner Objekte, sondern deren Zurichtung zu Wunschbildern. Er sieht nicht; er zeigt, wie man etwas gerne zu sehen bekäme: unbedingt schön. Er macht sich die Handgriffe der Ästhetisierung von Welt und Leben zunutze ohne die Wahrhaftigkeit der Kunst, zu wissen, dass sie zwar aus dem Leben stammt, ihm aber entgegensteht. Echte Kunst ist das Gegenteil von Leben. Als eine Gestalt der Unkunst sieht der Kitsch das Leben, als wäre es die Verwirklichung von Kunst. Statt es zu kommentieren, stattet er das schlechte Leben mit schönen Dingen aus. Der ›Nippes‹ in der Schrankwand ersetzt, wofür er steht. So teilt er den Impuls, der die Avantgarden der Moderne von John Ruskins Arts and Crafts Movement über den Jugendstil bis zum Bauhaus antrieb.

Die Schönheit ist der Schein des Guten, aber nicht, wie der Platonismus lehrte, dessen Erscheinung. Das macht der Kitsch sich zunutze, indem er das Schlechte, dessen Leugnung sein Ursprung ist, erscheinen lässt, als wäre es gut. Für ihn ist alles zu gut, um wahr zu sein. Sein übermäßiger Wille zur Schönheit verkehrt den schönen Schein der Kunst in Hässlichkeit. Was schön sein soll, wird hässlicher, als es von sich aus ist.

Das Schöne kann nicht verstanden werden. Es wird geliebt (Stadler, Mein Leben mit Mark, 21). Während die Schönheit echter Kunst unverstanden bleiben, und dennoch eine Wahrheit des Wirklichen zeigen kann, beruht die Schönheit der Unkunst des Kitsches darauf, auf Verständnis überhaupt zu verzichten. Sein schöner Schein will verbergen, nicht offenbaren. Er will nur ›lieben‹. Die Schönheit der Kunst erkennt ein Sein; die des Kitsches macht es unsichtbar. Er überzieht den Schimmel mit Zuckerguss.

An wahrhaftiger Kunst nimmt der Kitschliebhaber nur ihre Schönheit wahr, nicht deren Funktion, eine Wahrheit zu veranschaulichen. An Raphaels »Sixtinischer Madonna« im Dresdener Zwinger begeistern ihn die Engelchen, die er als Poster mit nach Hause nimmt, und übersieht, dass sie im Bild auf eine Szene blicken, deren atemraubende Wahrheit der Widerruf des Christentums ist, das es zu feiern scheint, indem das zum Opfertod bestimmte Kind sich im Arm der Mutter, die es gebar, um getötet zu werden, mit Entsetzen gegen sein Schicksal sträubt (Steffens, »Offenbarungsirrtum«).

Die Zumutung des Kitsches ist weniger seine mindere ästhetische Qualität als das metaphysische Angebot, das er enthält, und die Schamlosigkeit, mit der er es unterbreitet. Zugegeben, daß die strotzende Existenzsicherheit, mit der das Auftreten jeder Form von Kitsch verbunden ist, wohlwollende Duldung sehr erschwert (Worringer, a.a.O., 177). Aber er ist kein Bildungs-, er ist ein Daseinsproblem, indem er auf das größte Problem des Daseins auf betrügerische Art treffend reagiert. Was die gesamte Metaphysik zweier Jahrhunderte zu Beginn der Neuzeit von Leibniz über Voltaire und Diderot bis zu Kant und Hegel nicht vermochte, gelingt ihm ohne die geringste Anstrengung, die tatsächliche Schlechtigkeit der Welt auf sich beruhen und sie als die beste aller möglichen erscheinen zu lassen. Der Kitsch ist nicht einfach nur Lüge. Er ist die wahre Lüge über das Leben. Die Lüge des Kitsches ist die Wahrheit des Lebens für diejenigen, die sie kennen, aber nicht wahrhaben wollen.

Weil er vor der nackten Wahrheit Angst hat, da er die Nacktheit ohne Wahrheit, aber nur im Dunklen will, liebt der zum Weltdurchschnittsbürger aufgestiegene Kleinbürger die Lüge, die ihm nicht schön genug sein kann. Der Kitsch ist seine Pornografie. Das Begehren durch die ›Liebe‹ ersetzend, die im System der Wirklichkeitsumkehrung, die er betreibt, alles rechtfertigt, eröffnet der Kitsch Möglichkeiten, das Verbotene zu genießen, ohne es zu tun. Er gewährt dessen Genuss, ohne das Verbot aufzuheben. Die Flitterbildchen der mit verdrehten Augen zum Himmel starrenden Jungfrau Maria des katholischen Devotionalienkitsches sind Projektionen einer pornografischen Fantasie, die sich den eigentlich gewünschten Akt mit der wirklichen Jungfrau aus der Nachbarschaft nicht einzugestehen wagt. Er stimuliert statt der Fantasie von einer Nacht mit dem girl next door dessen eigene vom prince charming, der es in sein Glück entführt, der nicht nebenan, sondern in exotisch glanzvoller Ferne auf sein Stichwort wartet, es zu erlösen. Das Kitschgemüt, das die menschliche Natur in ihrer banalen Drastik leugnet, weil es sie genau empfindet, entspricht mit seiner lustfixierten Verdrängungslust der spitzenbehandschuhten Unberührbarkeit einer Queen Victoria, die ihre vor der Hochzeit stehende Tochter auf das Unvermeidliche mit dem schmallippigen Rat vorbereitet, Close your eyes and Think of England.

Die Lust des Kitsches ist nicht ungehemmt und unverkrampft, sondern schamlos verschämt. Sie nimmt sich ihre Freiheit nicht, sondern verhöhnt das Verbot, das er unterläuft, ohne es in Frage zu stellen. Auch sie soll weichgezeichnet nichts als schön sein, als gäbe es die Rohheiten der Körper nicht. Sie verschwindet in der gefühllosen Gefühlsseligkeit eines Romantizismus, der den kritischen Impuls der Romantik nicht kennt. Nicht die zufällige erotische Assoziation einer Kitschpostkarte – die so zufällig gar nicht ist – macht den Kitsch so wesentlich schamlos, sondern eine fundamentale Schamlosigkeit, die unzüchtig die heikle Freiheitsdialektik des Menschenwesens negiert (Giesz, Phänomenologie des Kitsches, 85). Die Lebenshaltung (Broch, »Einige Bemerkungen«, 295), die sich in ihm äußert, will nicht frei sein, sondern versorgt. Sie träumt vom Schlaraffenland, der Kitschversion der Utopie, leben zu können, ohne sein Leben in jeder Hinsicht erwerben zu müssen. Sie meidet von allen Anstrengungen am angestrengtesten die der Freiheit, und hält sich daran, wie ›man‹ zu leben hat. Sorgt die Obrigkeit fürs ›Fressen‹, hält sie sich aus Bequemlichkeit an die ›Moral‹.

Ist die Pornografie die Wahrheit des Kitsches, so muss er sich in der Epoche totalitärer Freizügigkeit schließlich deren Gestalt geben, wie Jeff Koons es in genialer Weise tat, als er die italienische Pornodarstellerin Ilona Staller, alias Cicciolina, heiratete und sich mit ihr mit den Mitteln ihres Metiers und den Formen des seinen inszenierte (Koons, »Made in Heaven«). In der Close-Up-Perspektive der Pornografie zeigt die Wirklichkeit selbst sich so, wie sie nicht ist, indem zwar die gezeigten Akte echt sind, nicht aber die Umstände ihres Vollzuges. Während Kunst das Dasein zeigt, wie es auch anders sein könnte, führt der Kitsch den Scheinbeweis, dass es besser ist, als man meint.

In der zynischen Naivität des amerikanischen Sonnyboys hat Koons gezeigt, wie der Kitsch die elementare Aufgabe der Kultur erfüllt, von der Schuld des Daseins zu entlasten, wenn schon nicht zu befreien. Jeff Koons is a victim, sagt er von sich selbst, and I hope that everyone is a victim. One must be victimized in order to absorb one’s culture and to participate. If people can accept that position they will be able to listen closely to life. Life will be a close-up (Koons, a.a.O., 31).

Selten ist seine Wahrheit so schamlos ehrlich ausgesprochen worden. Der Kitsch willigt in die Allgemeinheit des Opferseins ein, und stattet es mit grellbuntem Flitterwerk aus wie einst die heidnischen Opfertiere reich geschmückt ihren Tod starben, der ›schön‹ durch seine Funktion war, die Götter gnädig zu stimmen. Nach einem ›schönen Tod‹ zu verlangen, ist der letzte Wunsch eines hässlichen Lebens. So breitet der Kitsch sich in der Sepulkralkultur aus, seit die Begräbnisregeln im Niedergang des Christentums ihre rituelle Strenge verloren.

Die Wahrheit der Wahrheit ist die Schuld des Daseins. Wer lebt, kann nicht anders, als sich von anderem Leben zu nähren, buchstäblich und in den Abhängigkeitsverhältnissen der Gesellschaft, die ihn erhält. Der Kitsch macht das Angebot ihrer Verleugnung. Er lässt alles, wie es ist, indem er alles so gut zeigt, wie es nicht ist und nie sein kann, solange die Schuldverhältnisse menschlichen Daseins unbereinigt sind. Die Fernsehverfilmungen von Trivialromanen der Pilcher und Lindström sind Weihestunden medialer Schuldabsorption. Nichts ist so schlecht, nicht wieder gut sein zu können. An die Stelle Absolution verbürgender Vater-Unsers und Ave-Marias tritt die TV-Andacht rührselig lächelnder Vergebung zur prime time, in der sich zum Guten wendet, was schlecht gewesen zu sein nur schien. Die Verwicklungen, die das Glück so böse zu vereiteln drohten, sie beruhten auf Missverständnissen. Endlich aufgeklärt, setzt ein allgemeiner Wille zum Guten sich durch.

Der bedeutendste Philosoph unter den zeitgenössischen Romanciers hat den Kern der Verleugnung, die den Kitsch zum Asyl der durch ihre Weltverstörung Unbelehrbaren macht, verblüffend nüchtern freigelegt.

Hinter allen europäischen Glaubensrichtungen, den religiösen wie den politischen, steht das erste Kapitel der Genesis, aus dem hervorgeht, daß die Welt so erschaffen wurde, wie sie sein sollte, daß das Sein gut und es daher richtig sei, daß der Mensch sich mehre. Nennen wir diesen grundlegenden Glauben das kategorische Einverständnis mit dem Sein. Da es für dieses nichts Schlechtes geben darf, muss es übersehen werden, wo immer es auftritt.

Der Moment der Defäkation ist der tägliche Beweis für die Unannehmbarkeit der Schöpfung. Entweder oder: entweder ist die Scheiße annehmbar (dann schließen Sie sich also nicht auf der Toilette ein!), oder aber wir sind als unannehmbare Wesen geschaffen worden.

Daraus geht hervor, daß das ästhetische Ideal des kategorischen Einverständnisses mit dem Sein eine Welt ist, in der die Scheiße verneint wird und alle so tun, als existierte sie nicht. Dieses ästhetische Ideal heißt Kitsch. Er versteckt die Rolle Klopapier auf der Hutablage des für die Ferienfahrt gerüsteten Autos unter einem Häkelstrumpf.

Es ist ein deutsches Wort, das mitten im sentimentalen neunzehnten Jahrhundert entstanden und in alle Sprachen eingegangen ist. Durch die häufige Verwendung ist die ursprüngliche metaphysische Bedeutung verwischt worden: Kitsch ist die absolute Verneinung der Scheiße; im wörtlichen wie im übertragenen Sinne: Kitsch schließt alles aus seinem Blickwinkel aus, was an der menschlichen Existenz im wesentlichen unannehmbar ist (Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, 237 f.).

Es macht seinen metaphysischen Rang aus, dass der Kitsch damit eine Modifikation an der Erfahrung des Seins vornimmt, die das Gegenteil dessen als einzig wahr erklärt, was diese Erfahrung prägt. Er verleiht der Welt, was ihr Schöpfer ihr zu geben versäumte, ihre Anerkennbarkeit. Er macht sich dessen voreilige Zufriedenheit nach getanem Werk zu eigen: und siehe da, es war sehr gut (Genesis, 1.31) – mag es so schlecht sein, wie es wolle. Der Kitsch sieht die Welt im Licht jener Güte, die ihr Schöpfer ihr einzuprägen unwillig oder unfähig war, der sie stattdessen unter das Gesetz des Todes stellte, und das Menschenleben unter das der Mühseligkeit. Seine ästhetischen Verklärungen der Trivialitäten des Lebens rechtfertigen den Ursprung des ›Jammertals‹.

Literatur

Adorno, Theodor W., Philosophie der neuen Musik, Gesammelte Schriften, Band 12, Frankfurt a.M. 1976
Berend, Alice, Die gute alte Zeit. Bürger und Spießbürger im 19. Jahrhundert (1938), Hamburg 1962
Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung (1959), Frankfurt a.M. 1976, Band 1
Blumenberg, Hans, »Jahrhundertgestalt«, in: ders., Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger, Frankfurt a.M. 2007
Broch, Hermann, »Das Böse im Wertsystem der Kunst« (1933), in: ders., Gesammelte Werke, Essays Bd. I, hg. v. Hannah Arendt, Zürich 1955, 311–348
Broch, Hermann, »Einige Bemerkungen zum Problem des Kitsches«, in: ders., Gesammelte Werke, Essays Bd. I, hg. v. Hannah Arendt, Zürich 1955, 295–309
Céline, Louis-Ferdinand, Reise ans Ende der Nacht (1932; 1961), Reinbek 2003
Deschner, Karlheinz, Kitsch und Konvention. Eine literarische Streitschrift (1957), ergänzte und überarbeitete Neuausgabe, Frankfurt a.M-Berlin-Wien 1980
Friedländer, Saul, Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, 1982, München 1984
Giesz, Ludwig, Phänomenologie des Kitsches. Ein Beitrag zur anthropologischen Ästhetik, Heidelberg 1960
Glaser, Hermann, Spiesser-Ideologie. Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert und dem Aufstieg des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M.-Berlin-Wien 1978
Greenberg, Clement, »Avantgarde und Kitsch« (1939), in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, hg. von Karlheinz Lüdeking, Dresden 1997, 29–55
Heimann, Moritz, »Was ist das: ein Gedanke?«, in: Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte. Essays, Frankfurt a.M. 1966, 278–280
Höß, Rudolf, Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen, hg. von Martin Broszat (1963), München 1978
Killy, Walter, Deutscher Kitsch, Göttingen 1961
Koons, Jeff, »Made in Heaven«, in: The Jeff Koons Handbook, London 1992
Kundera, Milan, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Roman, München 1984
Stadler, Arnold, Mein Leben mit Mark. Unterwegs in der Welt des Malers Mark Tobey, München 2022
Steffens, Andreas, »Offenbarungsirrtum. Wie Schopenhauer angesichts der Sixtinischen Madonna die Moderne beendete, bevor sie richtig begonnen hatte, und dieses Ende nicht aufhören will, zu beginnen«, in: neue deutsche literatur, 546. Heft, 50. Jahrgang, 144–149
Vargas Llosa, Mario, Die Wahrheit der Lügen. Essays zur Literatur, Frankfurt a.M. 1994
Worringer, Wilhelm, »Zum Umgang mit Kitsch« (1951), in: ders., Fragen und Gegenfragen. Schriften zum Kunstproblem, München 1956

(geschrieben 2005; überarbeitet und erweitert 2023)

Letzte Änderung: 03.09.2024  |  Erstellt am: 03.09.2024

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