Dass wir alle Fäuste voll zu tun haben, um unsere Leserinnen und Leser wöchentlich mit neuen Beiträgen zu bereichern, ist der Normalfall. So fehlt uns Zeit und Geld, um auch noch zu „klappern“, also für unsere Arbeit zu werben und uns überall in der deutschsprachigen Welt bekannt zu machen. Wir freuen uns dennoch, wenn uns etwas Zuspruch erreicht. Bevor wir ins neue Jahr 2024 hineinstolpern, erlauben wir uns deshalb, Gedanken über Faust-Kultur zu veröffentlichen, die uns Ryszard Lempart zugesandt hat.
Was „Faust-Kultur” intentional bedeutet, ergibt sich aus dem Selbstverständnis der Gründer und Betreiber dieser Plattform. Die faktische Bedeutung lässt sich dagegen im Hinblick auf ihren Aufbau und die publizierten Themen wissenschaftlich untersuchen. Für mich als Leser, der gelegentlich einen Kommentar zu ausgewählten Artikeln schreibt, bedeutet „Faust-Kultur” dagegen, dass ich mich mit den Inhalten reflektierend auseinandersetze, um mir darüber ein Urteil zu bilden. In diesem Zusammenhang stellte ich mir die Frage, warum ich das eigentlich tue und wozu überhaupt die ganze Plattform dient. Meine Antwort resultierte aus einer sprachanalytischen Untersuchung der beiden Schlüsselbegriffe KULTUR und FAUST.
„Nomen est omen – im Namen liegt schon eine Vorbedeutung.” So lautet mein Leitsatz zur Untersuchung von Phänomenen, die für mich einen lebenspraktischen Wert haben. Das Phänomen der Kultur – so wie ich es auf der Plattform wahrnehme – stellt eine Vielfalt von Beiträgen zu laufenden Ereignissen und Prozessen samt diesbezüglichen Standpunkten dar, stets aus einer mehr oder weniger intellektuellen Perspektive. Bei der Plattform handelt es sich also um einen Kosmos diverser und divergierender Meinungen und vor allem um eine Mannigfaltigkeit kritischer Haltungen. Darin finden auch diejenigen Gehör, die mit ihren Ansichten nicht unbedingt im Mainstream der etablierten Medien und Modethemen schwimmen. Geht man davon aus, dass sich in dieser kritischen Homodiversität doch klare Strukturen, Richtungen und Positionen identifizieren lassen, steht KULTUR wenigstens aus meiner Sicht für „Kosmologie Unterschiedlicher Lebensanschauungen (und) Tatbestände Untersuchender Reflexionen”. In dieses kosmische Geschehen tauchen wir ein, um uns eigene Gedanken – wie man es früher sagte – über Gott und die Welt – oder wie man es heute sagt – über das Leben im real existierenden Spätkapitalismus in den Zeiten globaler Krisen – zu machen:
KULTUR ist geistige Kosmossphäre,
die ich mit großer Achtung ehre,
weil sie den Geist dazu anregt,
dass er sich von allein bewegt.
Nun ist KULTUR auch das Produkt geistiger Tätigkeit. In diesem Sinne steht der Begriff für „Konzeption Unterschiedlicher Lageberichte (und) Themen Unter Realitätsaspekten”. Diese Konzeptionen rufen wiederum Stellungnahmen aus der Leserschaft hervor, so wie ich das bei mir beobachten kann. Diese von vielen praktizierte KULTUR bedeutet: „Kommentierende Untersuchung Lancierter Thesen (und) Unternomener Reflexionen”:
KULTUR ist eine Schaffenskraft,
die laute Resonanz auch schafft
auf heute relevante Themen
samt den begleitenden Phänomenen.
Es gibt in der neuzeitlichen Philosophie eine Lehre namens „Phänomenologie”, die sich mit dem Wesen geistiger Phänomene befasst. Aus meiner Sicht zeigt sich das Wesen in dem jeweiligen Phänomen, während das Phänomen das Wesen zum Vorschein bringt. Der Ausdruck dafür sind standardisierte Begriffe, deren Sinn intuitiv verständlich ist, die aber auch eine klare Bedeutung haben können, welche aus den einzelnen Buchstaben des Begriffs zu dechiffrieren ist. Von diesem methodischen Ansatz ausgehend steht FAUST für … Doch lassen Sie uns gemeinsam auf die Suche gehen:
Wer ist FAUST, wer ist er nur
im Sinne heutiger KULTUR,
heißt meine Frage, die ich stelle
und schlage nach in alter Quelle.
Die „alte Quelle” ist die gleichnamige Tragödie von Johann Wolfgang von Goethe. Sein Titelheld ist ein Gelehrter, der nach der letzten Wahrheit – bzw. epistemologisch formuliert – nach der ultimativen Erkenntnis sucht. Der Mann ist also ein „Suchender”. Seine Suche als Hochschullehrer war jedoch bis dato wenig ergiebig; wir erinnern uns an die Anfangszeilen: „Habe nun, ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin / Und leider auch Theologie / Durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da steh ich nun, ich armer Tor! / Und bin so klug als je zuvor!”. Deshalb verlagert der alte Professor seine Suche auf die Lebenspraxis und strebt nicht mehr nach klugen Worten, sondern nach sinnstiftenden, lebenswerten Taten. Dabei lässt er sich sogar auf einen Pakt mit dem Teufel ein und wird dadurch seines Lebens nicht froh. In der ersten Fassung der Geschichte, die Goethe in drei Abschnitten schreibt (Urfaust – 1775, Fragment – 1790, Teil I – 1806) steht FAUST für „Frust Angetriebenen, Unwissend Strebenden Tor”. Dieser Tor ist kein Kulturschaffender:
Wer mit dem Teufel sich verband,
darin großen Anreiz fand,
ihm sogar ewige Treue schwor,
heißt FAUST und sieht sich als ein Tor.
Erst im Teil II, den Goethe 1831 publizieren lässt, bekommt der Name die Bedeutung, die er bis heute verdient und die dem Selbstverständnis aller Kulturschaffenden entspricht. Dieser FAUST ist ein „Festen, Authentischen Untergrund Suchender Tatenmensch”. Der Held sucht nach – oder besser gesagt – er ringt um praxisrelevante Einsichten. Dieses Ringen ist das Wesensmerkmal aller Menschen, die sich nicht mit „einfachen Wahrheiten” zufriedengeben:
Der FAUST, der sich zum Guten wandelt,
so dass er nun vernünftig handelt,
hat das Lotterleben satt
und ist ein Mensch der guten Tat.
Für den altgriechischen Philosophen Protagoras ist der Mensch das „Maß aller Dinge”. Währenddessen sieht Immanuel Kant den Menschen als „Endzweck”, der sich eigenständig Zwecke setzen kann, um selbstbestimmt zu handeln. „Der Mensch”, schreibt Kant in der „Kritik der Urteilskraft”, ist „das einzige Naturwesen, an dem wir doch das übersinnliche Vermögen (die Freiheit) … von Seiten seiner eigenen Beschaffenheit erkennen können”. FAUST als Tatenmensch agiert auf dem Boden der selbstbestimmten Zweckmäßigkeit, die Kant als „Moralität” bezeichnet. Die Moralität ist für ihn der Träger des kulturellen Lebens. Deshalb schreibt er: „So kann nur die Kultur der letzte Zweck sein, den man der Natur in Ansehung der Menschengattung beizulegen Ursache hat”. Möge uns „Faust-Kultur” im Sinne des zweckmäßigen Wirkens noch lange erhalten bleiben.
Letzte Änderung: 03.01.2024 | Erstellt am: 30.12.2023