Tradition des Terrorismus

Tradition des Terrorismus

Nationale Befreiung, Dekolonisierung, Marxismus
 | © wikimedia commons

Viele Stellungnahmen, die sich auf den mörderischen Konflikt im Nahen Osten beziehen, machen einen linken Antisemitismus für eine propalästinensische Haltung verantwortlich. Die Linke, sofern es sie noch geben sollte, muss sich zu der Zuweisung verhalten. Detlef zum Winkel hat in einem Kurzvortrag vor Studenten eine linke Position entworfen, die weder in das göttliche Lichtreich, noch in das Reich der Finsternis passt.

Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag auf einer Veranstaltung in Frankfurt a.M. am 30.11.2023 zum Thema „Nation und Linke“. Der Beitrag versucht, das Thema anhand des Krieges zwischen Israel und der Hamas zu behandeln, der uns in diesen Tagen am meisten bewegt.

Hier stellen sich zwei fundamentale Fragen, denen man nicht ausweichen kann:

1. Ist das Vorgehen der Hamas Terrorismus und somit die Hamas eine terroristische Organisation oder ist sie Teil eines Befreiungskampfes des unterdrückten palästinensischen Volkes?
2. Ist das Vorgehen des israelischen Militärs im Gaza-Streifen Mittel und Ausdruck einer kolonialistischen Eroberung oder einer Verteidigung des eigenen Staats und der eigenen Bevölkerung gegen die Bedrohung seiner Existenz?

Zur ersten Frage.

Zum Überfall der Hamas am 7. Oktober haben uns zahlreiche Informationen erreicht. Sie alle beschreiben extreme Grausamkeiten, die von den Angreifern verübt wurden. Dazu schrieb eine Twitter-Nutzerin noch am Tag des Geschehens: „Was habt ihr denn gedacht, was Dekolonisierung bedeutet?“

Nun ist es manchmal so, dass sich ein oder zwei Bilder unabhängig von der Absicht, in der sie gezeigt wurden, in das Gedächtnis der Menschheit einprägen. Beim Vietnamkrieg gab es beispielsweise solche Fotos. Sie besiegelten das vernichtende Urteil der internationalen Öffentlichkeit über den Kriegseinsatz der USA in Vietnam.

Ein Bild von noch unübersehbarer Bedeutung gibt es auch vom 7. Oktober. Es zeigt den fast nackten Körper einer sterbenden oder schon toten Frau auf der Ladefläche eines Pickups, umringt von triumphierenden Männern mit den Abzeichen der Hamas, die sie verhöhnen und bespucken. Wahrscheinlich handelt es sich um Shani Louk, die mit hunderten anderen Teilnehmern ein Festival in der Nähe von Re’im im Gaza-Umland besucht hatte und dort ermordet wurde. Ein Musikfestival, ein Ereignis von Kultur, Lebensfreude, Frieden.

Wie anders sollen wir das bezeichnen, wenn nicht als Terrorismus, verübt von terroristischen Organisationen? Noch so viele Definitionskünste und offene Briefe von Definitionskünstlern ändern nichts daran, dass sich dieses Bild, stellvertretend für hunderte von Untaten an jenem Tag, als Dokument des Terrorismus der Hamas weltweit einprägen wird.

Um auf den oben zitierten Tweet zurückzukommen: Nein, so haben wir uns eine Dekolonisierung nicht vorgestellt. So etwas haben sich auch der Vietcong oder die algerische Befreiungsbewegung FLN nicht vorgestellt, auch nicht die kubanischen Revolutionäre oder die von Mozambik. In Kambodscha allerdings wurden solche Verbrechen massenhaft verübt. Sie richteten sich, was nicht überrascht, gegen das eigene Volk. Damit katapultierten sich die Roten Khmer und ihre Unterstützer unweigerlich aus allen linken Zusammenhängen, auch wenn manche lange brauchten, um das einzusehen.

Es gab Gewalttaten von Befreiungsbewegungen, die nach heutigem Sprachgebrauch als terroristisch bezeichnet werden würden, weil aus dem Hinterhalt geschossen oder versteckte Sprengsätze gezündet wurden. Diese Gewalt zielte gegen bedeutende Repräsentanten oder militärische und polizeiliche Einrichtungen, von denen die Unterdrückung ausging. Die wahllose Hinrichtung möglichst vieler Zivilisten, darunter Frauen, Kinder, Alte, gehörte weder zum Programm noch zur Praxis jener Bewegungen. Das war ein wesentlicher Faktor, der Marxistinnen und Marxisten dazu animierte, mit ihnen zu sympathisieren; sie schienen sich in den Klassenkampf der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter zu integrieren.

Bereits die Anschläge von 9/11 lassen sich nicht mehr in dieses Schema einordnen. Sie töteten 3000 Sachbearbeiter*innen, mittlere Angestellte, Dienstleister – Menschen in alltäglichen Jobs.

An 9/11 war keine palästinensische Organisation beteiligt, es wurde aber von vielen gefeiert, mit der Verteilung von Süßigkeiten, Tee und Straßenpartys. Doch was war mit den Flugzeugentführungen der siebziger und achtziger Jahre? Was mit dem Attentat auf die israelische Olympia-Mannschaft 1972 in München? Dem Bombenanschlag 1994 auf ein jüdisches Kulturzentrum in Buenos Aires? Das waren keine unkontrollierten oder unvermeidlichen Gewaltausbrüche. Vielmehr hat der Terrorismus eine lange Tradition in Teilen der palästinensischen Politik und jetzt greift er nach der Führungsrolle.

Zusammenfassend: Der Vietcong alias FNL hat nicht daran gedacht, ein Woodstock Festival anzugreifen, nicht einmal in den wüstesten Phantasien seiner Kämpfer.

Kommen wir zu der zweiten anfangs gestellten Frage. Israel verweigert den Palästinensern einen eigenen Staat, zwingt sie unter unwürdigen Bedingungen zu leben, weitet sein Territorium durch immer neue Siedlungen aus und schlägt mit überlegenem Militär zurück, wenn es angegriffen wird. Dies scheint evident zu sein, ist aber in einem entscheidenden Punkt falsch.

Geht man 30 Jahre zurück und betrachtet die Schlüsselereignisse rund um die Abkommen von Oslo, ist das Bild ein anderes. Damals war Yitzhak Rabin Premierminister und Schimon Peres sein Außenminister. Sie verfolgten die Vision einer israelisch-palästinensischen Versöhnung und betrachteten Yassir Arafat als Partner, mit dem man diese Reise unternehmen könne. Gegen das Friedensprojekt organisierte Netanyahu Hassmärsche, bei denen insbesondere Rabin als Landesverräter gebrandmarkt wurde.

Dann wurde Rabin von einem extremistischen Fanatiker erschossen. Israel war schockiert und entsetzt. Die Rechten waren in der Defensive.

Schimon Peres hätte, ganz gleich wie umstritten er war, die nächste Wahl gewonnen, weil viele Wähler*innen dachten, ihre Stimme nochmal Rabin zu geben, auch solche, die vorher an ihm gezweifelt hatten.

Hier hätte die palästinensisch-arabische Seite einfach die Hände in die Hosentaschen stecken und abwarten können: in sechs Monaten hätte Peres die Wahl gewonnen und der Oslo-Prozess wäre ohne Rabin fortgesetzt worden. Aber die Extremisten unter ihnen wollten das nicht. Deshalb haben sie solange Selbstmordattentäter in israelische Autobusse geschickt, bis Netanyahu (knapp!) als Sieger feststand. Sie haben sich in die Wahl eingemischt, Panik verbreitet und Mehrheitsverhältnisse herbeigeführt, die bis heute anhalten.

Deswegen halte ich eine Kontextualisierung für falsch, wonach die jahrzehntelange Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung Widerstand und Terror hervorbringt und eben auch barbarische Aktionen. Daran stimmt etwas nicht, weil sich der Terror ausgerechnet gegen diejenigen richtete, die in der Lage gewesen wären, eine Wende zum Besseren herbeizuführen.

Und nun also dieses Massaker. Den Drahtziehern der Hamas muss von Anfang an klar gewesen sein, dass eine solche Aktion schwere Nachteile für sie selbst und schreckliche Folgen für die Bewohner des Gazastreifens zeitigen würde. Das haben sie in Kauf genommen, aber nicht um etwas für die Bevölkerung zu erreichen, die sie angeblich vertreten. Sondern um die Abraham-Abkommen zu zerreißen, die Israel mit einigen arabischen Ländern abgeschlossen hat. Sie handeln als Agenten des Irans und erbringen ihre Gegenleistung für die Finanzierung durch Teheran.

Der 7. Oktober zeigt, dass sich das nationale Anliegen – palästinensische Nation auf dem
heiligen Boden „from the river to the sea“ – vollständig von dem sozialen Anliegen – menschenwürdiges Leben für die Palästinenserinnen und Palästinenser – abgetrennt hat. Der orthodoxe Marxismus ist jedoch keine Theorie der nationalen Revolution, sondern eine Theorie der sozialen Revolution. Er sieht den Nationalstaat als Voraussetzung für die Entwicklung des Kapitalismus an und als lästiges Hindernis auf dem Weg in eine sozialistische und kommunistische Zukunft. Dann nährte insbesondere die chinesische Revolution Vorstellungen, ein nationaler Befreiungskampf unter linker Führung werde in eine sozialistische Revolution übergehen. Diese Vorstellungen haben sich nicht erfüllt. Auch ein neuer Begriff – Dekolonisierung – ändert daran nichts.

Marxistische Linke werden weiterhin koloniale Praktiken und imperialistische Herrschaft bekämpfen einschließlich der russischen, chinesischen und iranischen Varianten. Bestrebungen nach Eigenstaatlichkeit sowie wirtschaftlicher, politischer und kultureller Autonomie verdienen Unterstützung, allerdings nicht vorbehaltlos. Wenn eine Mehrheit in den Vereinten Nationen eine Distanzierung von Hamas ablehnt, dann ignorieren diese Regierungen den weltweit verbreiteten Antisemitismus oder sie glauben sogar, ihn für ihren Machterhalt zu nutzen. Die spezifische Aufgabe deutscher Linker ist es, vor einer solchen Haltung zu warnen und auf den Nationalsozialismus als verheerendes Beispiel hinzuweisen.

Ebenso müssen demokratische Bewegungen wie der arabische Frühling oder die iranische Frauenbewegung unterstützt werden, auch wenn aus ihren Reihen häufig der Ruf nach einem westlichen Einschreiten zu vernehmen ist. Diesen Spagat kann man nur aushalten, wenn man die häufig missbrauchte und abgedroschene Parole der internationalen Solidarität durch ein Bekenntnis gegen die Nation ergänzt, wenn man sich also als antinational versteht und zu erkennen gibt.

Letzte Änderung: 13.12.2023  |  Erstellt am: 13.12.2023

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Kommentare

Carl Wilhelm Macke schreibt
Die Zeitschriften 'Konkret' und 'Jungle World', für die der Autor Detlef zum Winkel laut Porträt in 'Faust-Kultur' häufig schreibt, gehlren nicht zu meinen bevorzugten 'linken Medien'. Aber ein Argument gegen den Kommentar über 'Linke und Antisemitismus und Terrorismus ist dieses Bekenntnis nicht. Im Gegenteil, ich glaube, daß es an der Zeit ist, als 'Linker' ( ohne Anführungszeichen kann man diese Selbstdefinition wohl nicht mehr verwenden...) alte Vorbehalte und mentale Abgrenzungen zu überwinden.Dieser Aufsatz von Detlef zum Winkel könnte da eine gute Grundlage sein, sich selber und sein Verhältnis zu einigen 'linken' Zuordnungen neu zu justieren.Aktuell wird 'die Linke' von vielen medialen Kommentatoren und Repräsentanten des aufgeklärt liberalen Mainstreams in der Politik aufgefordert, sich vom Terrorismus und Antisemitismus zu distanzieren. Detlef zum Winkel belässt es nicht bei einem Bekenntnis zum Anti-Antisemitismus und zum Anti-Terrorismus, sondern versucht - für mich - überzeugend auszuloten, was in der aktuellen Konfrontation von Post-Koloniallisten und 'antifaschistischen Traditionalisten' eine vertretbare 'linke Identität' sein könnte. Jetzt bin ich gespannt auf weitere Beiträge des Autors in dieser aufgeheizten Selbstfindungsdebatte unter 'Linken'. Die Verunsicherung ist groß - auch bei dem Schreiber dieses Leserbriefes.

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