Stell’ dir vor, es ist Krieg, und keiner sieht hin
Zur Erinnerung: Im Jahr 2014 annektierte Russland völkerrechtswidrig die zwischen dem nördlichen Schwarzen Meer und dem Asowschen Meer gelegene, ukrainische Halbinsel Krim und baute in den ukrainischen Verwaltungsbezirken Donezk und Luhansk prorussische bewaffnete Milizen auf. Damals berichtete Volker Breidecker über die 42. Frankfurter Römerberggespräche, in denen das Thema „Doch wieder Krieg?“ verhandelt wurde.
In gewohnt deutscher Selbstbespiegelung
Die Frage, „Doch wieder Krieg?“, die sich die Frankfurter Römerberggespräche vorlegten, sollte sich schon im Blick auf die Zahl gegenwärtiger Konfliktzonen von selbst beantwortet haben. Genauso wie die scheinheilige Frage des Aufrufs „Wieder Krieg in Europa?“, mit dem einschlägige „Realpolitiker“ und solche, die es werden wollen, so tun, als sei Europa noch bis vor kurzem auf dem Weg zum Ewigen Frieden gewesen. Dass dem auch vor zwei Jahrzehnten schon nicht so war, lässt sich in diesen Tagen zum Beispiel auf der Homepage der ARD durch einen Klick der „Tagesschau vor zwanzig Jahren“ entnehmen: Aus Europas Mitte sind dort Bilder wie aus dem Zweiten Weltkrieg zu sehen: von Menschen die um ihr Leben rennen; von serbischer Artillerie, die mit Kanonen sowjetischer Bauart pausenlos die umzingelte bosnische Enklave Bihac beschießt; von Blauhelmsoldaten, die dem Morden tatenlos zusehen; von Verhandlungen eines tapsigen deutschen Außenministers mit seinem grinsenden russischen Amtsbruder, während die Massaker weitergehen. Srebrenica war da noch fern, aber längst konnte man wissen, wozu es dort kommen werde.
Dèja vu: Es gleichen sich die Bilder und auch die Maximen, wonach – siehe Syrien – der Genozid eines Regimes an seiner eigenen Bevölkerung von Europa ebenso in Kauf genommen wird wie das massenhafte Ertrinken von Bootsflüchtlingen im Mittelmeer. So weit auszuholen ist hier auch deshalb, weil jedes Mal, wenn an diesem Sonnabend in Frankfurt der Name der Krim fiel, dieser stets mit dem Namen des Kosovo beantwortet wurde, was von Teilen des Publikums flugs mit frenetischem Beifall bedacht wurde. Am aufdringlichsten argumentierte nach diesem Muster der Hamburger Politologe und „Marmara“-Krieger Norman Paech, der obendrein – Putins „Tempelberg“ zum Gruße – zwischen der Krim und Gaza, zwischen Russlands vermeintlichen Defensivbedürfnissen und den betontermaßen „vollkommen vernünftigen Positionen der Hamas“ hin und herpendelnd, eine Weltverschwörung ausmachte: Sie soll von der völkerrechtswidrigen Gründung des Staates Israel über den westlichen „Überfall auf Ex-Jugoslawien“ bis zum folternden CIA reichen, dessen Verbrechen wiederum die Besatzungspolitik Israels in nichts nachstünde. Starker Beifall im Saal.
Seltsame Rituale. Zugleich Verdrängungsrituale – durch ein Ausweichen in akademische Erörterungen – gegenüber allem, was derzeit wirklich brennt, und gegenüber allen Orten, an denen es tatsächlich brennt, wo Menschen täglich eines gewaltsamen Todes sterben oder zu Hunderttausenden auf der Flucht sind. All dem ging man tunlichst aus dem Wege, um sich in gewohnter Selbstbespiegelung deutscher Befindlichkeiten zu ergötzen. Dem ukrainischen Intellektuellen und Psychoanalytiker Jurko Prochasko, der als einziger Vertreter eines sich im Kriegszustand befindlichen Landes geladen war – kein Flüchtling aus Syrien oder dem Irak war zugegen –, ihm sollte an diesem Tag nichts erspart bleiben. Der moralischen Konfession „Nie wieder Krieg!“, auf die sich der Saal geeinigt hatte, entgegnete er: „Es gibt längst Krieg, und es ist skandalös, dies nicht einmal wahrzunehmen.“
Erschreckend an den Diskussionen war, in welchem Maße die neurussische Propaganda Früchte getragen und sich in hiesigen Köpfen festgesetzt hat: Gab es noch vor wenigen Jahren Konsens darüber, dass im „gemeinsamen europäischen Haus“ kein Platz mehr für Geopolitik sein sollte – Prochasko erinnerte daran, dass Russland selbst vor nicht allzu langer Zeit mit der Idee eines Nato-Beitritts flirtete –, schossen geostrategische Deutungsmuster im Saal geradezu über, so dass man Chagalls großes Wandgemälde auch durch eine Karte Eurasiens mit beweglichen Grenzen hätte ersetzen können: Selbst Kerstin Holm, die langjährige Moskauer Korrespondentin der FAZ, kam ins Schwadronieren und befand, dass Putin als Herr über ein Land im Niedergang nichts anderes übrig geblieben sei, als sich die Krim mit dem strategisch wichtigen Kriegshafen Sewastopol einzuverleiben. (Als könne man für den Meereszugang von einem Nachbarland aus, dessen territoriale Integrität zu wahren man sich vertraglich verpflichtet hat und mit dem man normale Beziehungen unterhält, nicht einfach auch mit Rubel oder mit Gas bezahlen.)
An die Adresse der Ukraine erging aus dem Publikum die Forderung, sich den „Realitäten“ zu beugen und „Rationalität“ zu beweisen. Dass hier ein Land militärisch angegriffen wurde, und was dies für die Menschen dort und was es auch für die übrigen Staaten der Region vom Schwarzen bis hinauf zum Baltischen Meer bedeutet – dafür war wenig Sinn zu spüren. Statt dessen wurde das von Putin und seinen hiesigen Apologeten verbreitete Märchen von der „Einkreisung“ und „Einkesselung“ Russlands für bare Münze genommen, während das Land tatsächlich, wie der Historiker Gerd Koenen einwandte, „von lauter abgerüsteten Staaten umgeben“ ist. Über die fatalen Wirkungen eines Denkens in den Kategorien der „Einkreisung“ referierte da geradezu lehrstückhaft der Freiburger Historiker Jörn Leonhard am Beispiel der großen Erregungen vom Juli 1914 – hinsichtlich der Gegenwart war dieser historische Rückblick allerdings ausdrücklich gegen die „Logik von Rückblicken“ gerichtet.
Vergangenen Logiken, Denkmustern und vermeintlichen Zwängen in den internationalen Beziehungen muss man im übrigen weder folgen noch sie reproduzieren. Zu diesem Schluss kam Rupert Neudeck, der die Maxime „Nie wieder Krieg!“ um den kategorischen Imperativ „Nie wieder Völkermord!“ erweiterte. Dazu rekapitulierte er das Versagen der Weltgemeinschaft gegenüber jenem gigantischen Völkermord, der sich ebenfalls vor zwanzig Jahren in Ruanda zugetragen hat: Ein Grauen, das sich wiederum vor den Augen der untätigen UNO-Blauhelme ereignete und doch zu verhindern gewesen wäre, wenn man es nur gewollt hätte, statt die Welt weiter zweizuteilen, in wertvolle Menschen – Europäer, die man ausfliegt – und solche, die man krepieren lässt. Das Muster einer desolaten UNO, die weder fähig noch bereit ist, ihre eigene Charta zu exekutieren, fände Wiederholung in der gegenwärtigen Untätigkeit in Sachen Syrien, Irak und Ukraine. Was nottue, sei die Schaffung wirksamer internationaler Polizeitruppen unter dem Kommando des UNO-Generalsekretärs, der im Falle von Obstruktionen durch Mitglieder des Sicherheitsrates sein Mandat bei der Vollversammlung einholen könne.
Gefragt seien aber auch „listige Phantasie und beherztes Handeln“: Die Rettung von 140.000 Flüchtlingen im Mittelmeer durch die italienische Marine sei da von universaler historischer Bedeutung. Warum, fragte Neudeck weiter, wird diese Rettungsaktion nach dem Rückzug der finanziell und wirtschaftlich gebeutelten Italiener nicht als Ablösung einfach durch die deutsche Marine fortgesetzt? Ja, warum eigentlich nicht?!
Letzte Änderung: 11.05.2022 | Erstellt am: 11.05.2022