Schuld und Schulden

Schuld und Schulden

Erinnerung
Josef Bürckel, etwa 1937/1939

Es ist erstaunlich, was das Gefühl der Macht an Deformationen der Persönlichkeit nach sich zieht. Rätselhafter noch, warum es das tut, so voraussehbar primitiv, egozentrisch und bar jeder Vernunft; und unbegreiflich, warum eine Mehrheit sich einer solchen Dummheit unterwirft. Peter Kern berichtet von der Karriere eines Schullehrers aus der Pfalz.

Josef Bürckel, eine zwiespältige Figur

Der Verstrickung der Dorf- mit der Nazigeschichte forschte der Mann nun alleine nach. Sein Bruder fehlte ihm. Wer nahm nun noch Anteil an ihrer Geschichte? Werner, der Ältere, kannte mehr Namen und mehr Zusammenhang. Hätte er mehr über Josef Bürckel gewusst, den leutseligen Schullehrer aus ihrem Dorf, der seinen Dackel Gassi führte, im Gasthaus Zum Ochsen Skat spielte und dem Liederkranz als Chorleiter vorstand? Der Eintritt verlangte, nachdem er das Zugpferd der NSDAP geworden war und alle ihn reden hören wollten? Der erst Gauleiter in Wien, dann in der sogenannten Westmark, seiner alten Heimat, wurde? Der nach seiner Rückkehr in die Pfalz 6.504 badische und pfälzische Juden ermorden ließ? Der Gauleiter trug den gleichen Namen wie der Jugendfreund des Mannes, sein alter Kumpel Dieter.

In Wien und als Vorgesetzter von Adolf Eichmann hatte Josef Bürckel den ersten Massentransport von Juden, gleichsam die Blaupause einer Deportation, organisiert. Von der Bürckel-Methode, spricht Raul Hilberg in dem Standardwerk Die Vernichtung der europäischen Juden. Der Führer war von dem tüchtigen Mann damals sehr angetan. Sein Lob, festgehalten in den Tischgesprächen im Führerhauptquartier: „Ein brutaler wie Bürckel … der selbst auf die Gefahr, sich unbeliebt zu machen, mit radikaler Konsequenz und nicht mit dem Wiener Gemurksel ans Werk gegangen sei“.

Goebbels, vielleicht neidisch auf einen Konkurrenten, schrieb in sein Tagebuch: „Bürckel macht hier in Wien schwere Fehler. Ein kleiner pfälzischer Schulmeister als Nachfolger der Habsburger. Das ist ein bißchen wenig.“

Bürckel hatte für den Reichskanzler erfolgreich den Anschluss erst des Saargebiets, dann Österreichs organisiert. Er durfte sich Reichsstatthalter nennen. Seine Schüler im Dorf hatten ihn schon immer bewundert. Sie wuchsen zu Erwachsenen heran, und die Bewunderung wuchs mit. Der Boldekarl, Vaters Gastgeber beim sonntäglichen Frühschoppen, gehörte zur treuen Anhängerschaft. Kam Bürckel wieder einmal an seine alte Wirkungsstätte, freute man sich über den hohen Besuch. Der Schullehrer von einst war einer der ihren geblieben. Ihr Leid, ihr kennt misch doch, mit mer kann mer doch redde, sei eine seiner Redewendungen gewesen, erinnerte sich die Mutter des Mannes. Bürckel sorgte für den judenfreien Gau Saarpfalz und verhalf dann wohl der Tante zum spottbilligen Haus in bester Lage des Unterdorfs.

Eine zwiespältige Figur sei er gewesen, erinnerte sich Herr M., ein dem Mann bekannter Dorfbewohner, den die Nazis als Halbjuden taxiert hatten und der anonym bleiben will, da er den Antisemitismus in seiner Heimatgemeinde nicht für abgetan ansieht. Die Ambivalenz des späteren Gauleiters hatten er und seine Familie am eigenen Leib erlebt. Die Mutter des Herrn M. war eine Tochter des letzten noch amtierenden Lehrers der Judengemeinde gewesen, und bei ihm, dem Amtsbruder, hatte Bürckel einmal als Untermieter gewohnt, Blick auf die benachbarte Synagoge inklusive. Als die Nürnberger Gesetze erlassen worden waren, und damit den als Halbjuden bezeichneten Kindern der Besuch einer christlichen Konfessionsschule verboten war, hatte der Vater des M. seinen ganzen Mut zusammengenommen, um zum Josef Bürckel zu fahren und ihn, den ehemaligen Untermieter seines Schwiegervaters, um eine Ausnahme vom Verbot für seine drei Kinder zu bitten.

Aus dem ehemaligen Volksschullehrer sei mittlerweile das ganz hohe Tier geworden, und das hätte nicht mehr in einer kleinen Bude, sondern in einer an den Hängen der vorderpfälzischen Haardt gelegenen, im Stil der italienischen Renaissance erbauten Gründerzeitvilla gehaust. Sein Vater, erzählte Herr M. dem Mann weiter, hätte sich vom Gauleiter erst einmal ordentlich anschreien lassen müssen. Bürckels Wutausbruch sei aber bloßes Imponiergehabe vor den anwesenden Untergebenen gewesen; denn dem Gesuch hätte er stattgegeben. Mit der schriftlichen Erlaubnis des Gauleiters hätten er und seine beiden Geschwister die katholische Schule des Ortes weiter besuchen dürfen. Der Bürckel sei vom Typus des nach oben buckelnden, nach unten tretenden Radfahrers gewesen; sein Vater hätte ihn so charakterisiert, erzählte Herr M.

Ja, man fühlte sich geehrt und freute sich, wenn der Josef Bürckel wieder einmal die Heimat besuchte. Die Hasentalstraße hieß nun Josef-Bürckel-Straße; man strengte sich an, dem Schöpfer des von Hitler so gelobten Mustergaus ein Musterdorf zu präsentieren, das ihm sein liebstes sein sollte. Einmal kam er zur Kirchweihe, der Kerwe, und im Peterhof wurde traditionell zum Tanz aufgespielt. Seinen ersten Tanz schenkte Hitlers Statthalter der schönen Frau Pfundstein, damals schon verheiratet mit dem Vater des Mannes. Wie der Vater diese Ehre wohl aufgenommen hatte, fragte sich der Mann, als er die Anekdote zum ersten Mal hörte. Die neunzigjährige Cousine erzählte sie ihm und leitete mit den Worten ein: „Mir gedenkt noch…“ Diese Formulierung hatte der Mann lange nicht mehr gehört. Die Passivkonstruktion gefiel ihm, aber der Satz selbst war nicht stimmig. Der Mann rechnete nach. Die Cousine, wie sein Bruder in 1930 geboren, konnte dem _Kerwe_-Tänzchen nicht beigewohnt haben. Vermutlich gehörte die Geschichte zum ewigen Bestand der Taubenhof-Anekdoten.

Einer freute sich nicht, wenn der Reichsstatthalter in seine alte Gemeinde kam, denn er musste vor ihm zittern. Mit Josef Bürckel verband Heinrich Karch eine lange, gemeinsame Geschichte. Lehrer Karch, der den Bruder des Mannes später einmal grün und blau prügelte, hatte die Rache des Obernazis zu fürchten. Der jähzornige Karch hatte sich einmal von Bürckel beleidigt gefühlt und ihn geohrfeigt. Damals gehörten die beiden demselben Lehrerkollegium an, waren aber politische Konkurrenten; Karch der Mann der Zentrums-Partei, Bürckel der Anhänger der NSDAP. Die Reibereien der beiden dürften das Kollegium amüsiert haben. Der eine warf dem anderen seine Vergangenheit vor: Karch sei einmal beim Soldatenrat, Bürckel sei Sozialist und verkappter Separatist gewesen. Die vorgesetzte Behörde war über die Streithähne nicht amüsiert, denn die beiden erwiesen sich als Prozesshansel. Nachdem der aufstrebende Nazi sich in einer Parteizeitung mit dem martialischen Titel Der Eisenhammer damit brüstete, jeder Fraternisierung mit den Franzosen stets entgegengetreten zu sein – im Unterschied zu den für den Vaterlandsverrat anfälligen Zentrums-Leuten – strengten die Geschmähten einen Prozess an, in welchem Karch bezeugen wollte, der Bürckel sei einmal Mitglied der Separatistengruppe Freie Pfalz gewesen.
Dann kam das Jahr 1933, und der Prozess fiel ins Wasser. Bürckel war längst eine große Nummer, und dem kleinen Volksschullehrer ließ er eine deutliche Warnung zukommen. Die Ortsgruppe der NSDAP verhaftete Karch, steckte ihn in ein Lager und entließ ihn mit der Auflage, jede politische Betätigung künftig zu unterlassen. Über den Ortsgruppenleiter ließ der Gauleiter dem Kollegen noch mitteilen: „Nur den Umständen, dass Ihre Frau sterbenskrank im Krankenhause lag, Sie 5 kleine Kinder haben und Sie sein ehemaliger Studiengenosse gewesen seien, verdanken Sie es, dass Sie nicht nach Dachau gekommen sind.“

Streng genommen verstieß Heinrich Karch gegen die von ihm unterschriebene Auflage; denn seine politische Betätigung stellte er keineswegs ein. Der Lehrer hatte seine Lektion gelernt, und die gab er an die Schüler weiter. Seine Klasse ließ er im Pausenhof öfter mal eine Stunde lang strammstehen und den Führergruß üben. Wer ihm auf dem Schulweg begegnete und das korrekte Grüßen vergaß, lief Gefahr, von ihm verprügelt zu werden.

Die Laufbahn der beiden bewegte sich gegensätzlich. Die des einen kam trotz bewiesenem Eifer nicht recht voran (erst Mitte der 60er Jahre brachte Karch es endlich zum Schulleiter), die des anderen ging steil nach oben. Als Bürckel aus Wien in die Pfalz zurückkehrte, war aus dem Volksschullehrer von einst einer der Mächtigen in Hitlers Reich geworden. Was er in Wien erfolgreich praktiziert hatte, führte er an seiner neuen Wirkungsstätte, die ja seine alte war, fort.

In Folge der von Bürckel organisierten Deportation kollabierte der pfälzische Weinhandel, lag der doch zu einem guten Teil in den Händen jüdischer Weinhändler. Die Nazis halfen dem Handel wieder auf, indem sie die Deutsche Weinstraße ins Leben riefen, ein Marketingkonzept mit bis heute durchschlagendem Erfolg. Das die Deutsche Weinstraße eröffnende neoklassizistische Deutsche Weintor in Schweigen weihte der Gauleiter persönlich ein. Die Perlenkette, die sich in der Vorderpfalz aufreiht, haben die Nazis zuerst auf Hochglanz poliert. Auf ihre PR geht zurück, wovon Siebeldingen, Edenkoben, Maikammer, Gimmeldingen, Deidesheim, Forst, Burrweiler und Kallstadt bis heute zehren. Lange war man am nördlichen Ende der Weinstraße unglücklich, weil das Pendant zum Monumentaltor in Schweigen fehlte. 60 Jahre nach Bürckels Eröffnungsfeier bekam Bockenheim endlich auch seins, und seitdem ist man zufrieden. Der Mann sah jetzt auch die hübschen Weindörfer mit anderen Augen, nicht nur seine Familienangehörigen.

Der zum Gauleiter der Westmark mutierte Dorfschullehrer starb 1944. Sein schweres Amt habe ihn aufgerieben, lautete die offizielle Darstellung. Gerüchte liefen um, er habe sich selbst umgebracht, und der Selbstmord sei ihm befohlen worden. Beim Führer war er in Ungnade gefallen, weil die von ihm verantwortete sogenannte Siegfried-Linie, auch Westwall genannt, erste Zeichen von Verwundbarkeit aufwies. Die Alliierten rückten vor, und Bürckel ließ Metz räumen, was den Zorn Hitlers heraufbeschwor. In den Dokumenten des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses taucht Bürckel wiederholt auf. Die dort angeklagten Seyss-Inquart und von Schirach versuchten, Schuld von sich weg- und auf den toten Gauleiter abzuschieben. Der Pionier der Shoah, so erfährt man, hatte sich in seiner Wiener Zeit auch als Kleinkrimineller betätigt. Aus den Depots des kaiserlichen Hofs hatte er Möbel und Gobelins entwendet, um damit in seiner pfälzischen Heimat ein Kameradschaftshaus auszustatten.

Den Mann beschäftigte Bürckels Biografie. Dann beschäftigte ihn wieder die Frage, ob sein alter Kumpel Dieter ein Verwandter des Obernazis sei und ihm biografische Details nennen könnte. Er rief den aus den Augen verlorenen an. Der glaubte erst, es wäre alter, unbeglichener Schulden wegen. Über den entfernten Verwandten wisse er gar nichts und was damals war, interessiere ihn nicht. Und ob er ihn in Sippenhaft nehmen wolle, fragte Dieter noch. Das mit der Sippenhaft sei geschenkt, und das mit den Schulden auch, entgegnete ihm der Mann. Dieter war der Enkel des Gauleiters, entnahm er später einer Täterstudie. Dem Autor der Studie hatte der alte Freund Einblick in das Fotoalbum der Familie Bürckel gewährt.

https://austria-forum.org/af/Bilder_und_Videos/Historische_Bilder_IMAGNO/B%C3%BCrckel%2C_Josef/00624067

Auszug aus Manuskript sucht Verlag. Der Text basiert auf den Archivunterlagen des Herrn Peter Conrad

Letzte Änderung: 27.09.2022  |  Erstellt am: 27.09.2022


Die Biografie des Täters hat Dr. Lothar Wettstein geschrieben. „Josef Bürckel: Gauleiter, Reichsstatthalter, Krisenmanager Adolf Hitlers”. Der verstorbene Autor hatte mit Fritz Bauer die Funktion bei einer Staatsanwaltschaft gemeinsam und das Lebenswerk. Die an den pfälzischen Juden, Sinti und Roma begangenen Verbrechen aufzuklären, sah er als seine Aufgabe an.

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