Sand

Sand

Notate vom 17. November 2023
 | © wikimedia commons

Die sinnlich-konkrete und die metaphorische Bedeutung des Sandkorns in der Wüste, die Eldad Stobezki aus aktuellem Anlass erwähnt, führt ihn zur Frage nach dem Überleben des israelischen Volkes und zur Problematik vaterlos gezeugter Kinder. Im Gegensatz zur moralischen verantwortet die ethische Position jeder und jede Einzelne. Das macht die Sache nicht einfacher.

Die Stiftung Kunst und Natur zeigt im Museum Sinclair-Haus in Bad Homburg eine Ausstellung unter dem Thema Sand. Sand als Ressource, Leben und Sehnsucht.
Am Sonntag dachte ich, dass diese Ausstellung mich etwas von Krieg und Klimawandel ablenken könnte. Weit gefehlt.

Gleich im ersten Raum zeigt der französische Künstler Laurent Mareschal (Jahrgang 1975), ein Video „The Castle“ von 2010. Kinder einer 5. Klasse der jüdisch-arabischen Schule Galil spielen am Strand mit Förmchen, Eimern, Schaufeln und bloßen Händen im Sand. Im Verlauf des Videos wird deutlich, wie sie trotz interkultureller und zweisprachiger Ausrichtung der Schule spielerisch Muster reproduzieren, die für die israelische Gesellschaft charakteristisch sind. Sie sprechen meistens Hebräisch, kämpfen um ihre Sandburgen, ihre Mauern. Allerdings spielen Mädchen und Jungen getrennt voneinander. In „Beiti“ (Mein Haus auf Hebräisch, eine Arbeit, die in „Sand“ nicht gezeigt wird) hat Mareschal auf 45 qm den Abriss einer Wohnung mit Kacheln reproduziert, die mit gemahlenen Gewürzen gefärbt sind (Sumach, Zaatar, weißer Pfeffer, Gelbwurz und Ingwer). Die Idee dahinter ist, dass zwei Völker sich das gleiche Haus teilen. Der Geruch der Gewürze versetzt den Betrachter in die geographische Lage dieses Hauses. Spielerisch hinterfragt Mareschal die Positionen von Identität und Territorium. Bemalte Bodenkacheln mit geometrischen Mustern waren im 19. Jahrhundert populär und sind es in Israel heute wieder.

Der Klimawandel wird mit Videos von Stefanie Zoche (Jahrgang 1965) über skandalöse Bauvorhaben in Spanien und illegalem Sandabbau in Afrika präsentiert. Jeder Mensch verbraucht täglich 18 Kilogramm Sand. Das ist ein Politikum. Der Welt geht der Sand aus.

Den Gipfel dieser Ausstellung erreicht eine kleine Installation von Micha Ullman, einem der bedeutendsten israelischen Bildhauer unserer Zeit. Seine Familie floh 1933 aus einem Dorf in Thüringen nach Palästina (sein Vater wollte Bauer in Israel werden), wo er 1939 in Tel Aviv geboren wurde. Seit den 1970er-Jahren ist Ullman in Deutschland mit seinen Arbeiten im öffentlichen Raum präsent. Am bekanntesten ist sein Denkmal zur Erinnerung an die Bücherverbrennung auf dem Berliner Bebelplatz. Seit 1997 ist er Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Bildende Kunst. Für seine Arbeit „Bis zum letzten Sandkorn“ suchte Ullman ein paar Sandkörner zusammen, aus denen er ein einziges auswählte. Die Vergrößerung mit der Lupe erhebt das Korn aus seiner eigentlichen Dimension und macht das kleine, unscheinbare Körnchen zum Hauptakteur. Die Welt, ein Sandkorn. Die bernsteinähnliche Leuchtkraft des Körnchens verblüfft die Zuschauer, die sich über die Lupe beugen. Sie richten sich auf und lächeln. Ich wage zu behaupten, dass nicht nur ich von dieser Schönheit belehrt und beglückt war. Es lohnt sich, nach Bad Homburg zu fahren, um ein Sandkörnchen aus Israel unter einer Lupe zu sehen. Jedes Körnchen ist einzigartig. Die Natur bietet eine unendliche Vielfalt und darin liegt eine Hoffnung für die Zukunft. Die Kraft der Schönheit wird siegen.

In einem Raum gibt es 1680 Sandproben aus der ganzen Welt zu bewundern. Sand ist nicht nur beige, grau oder weiß. Die Farbpalette erstreckt sich von Rot bis Schwarz. Vor den Glasröhrchen könnte ich stundenlang stehen und staunen.

Ohne biblische Assoziationen geht es bei mir nicht. Ich zitiere aus dem 1. Buch Mose:

„Und der Engel des HERRN rief Abraham abermals vom Himmel und sprach: Ich habe bei mir selbst geschworen, spricht der HERR, weil du solches getan hast und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont, dass ich deinen Samen segnen und mehren will wie die Sterne am Himmel und wie den Sand am Ufer des Meeres; und dein Same soll besitzen die Tore seiner Feinde; und durch deinen Samen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden, darum dass du meiner Stimme gehorcht hast.“

Dieser Text wirft viele Fragen auf, die ich jetzt nicht aufrollen möchte. Ich weiß nicht, ob Micha Ullman an das Versprechen des Herrn gedacht hat, als er das Sandkörnchen auswählte. Ich frage mich, ob man im Krieg Kunst braucht. Ist es Luxus oder Lebensnotwendigkeit?
Die Idee, dass sich die Kinder Israels wie Sand am Meer mehren werden, erinnert mich an ein Gespräch mit einem israelischen Gynäkologen, Sohn von Holocaust-Überlebenden, der auf künstliche Befruchtung spezialisiert ist. Als ich ihn fragte, ob es nicht übertrieben ist, Frauen bis zum 45. Lebensjahr dieser Behandlungen zu unterziehen, schaute er mich schief an und sagte: „Wir haben in der Schoah 6 Millionen Menschen verloren.“
Im jetzigen Gaza-Krieg hat man auf Wunsch der Eltern Sperma von gefallenen Soldaten entnommen und eingefroren. Es wird alles getan, um dafür zu sorgen, dass diese Männer, die meistens nicht verheiratet waren und noch keinen Kinderwunsch äußerten, doch noch Nachkommen zeugen. Welche Frauen werden bereit sein, diese Kinder auszutragen? Werden diese Kinder bei den Großeltern aufwachsen? Wie wird die Psyche eines solchen Kindes sich entwickeln? Viele unbeantwortete Fragen. Die Urangst vor dem Verschwinden ist bei einem Volk, das in der Geschichte immer wieder Opfer von Pogromen und Vernichtung war, berechtigt. Trotzdem müssen hier die ethischen Fragen gestellt werden.

Letzte Änderung: 24.11.2023  |  Erstellt am: 24.11.2023

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