Richard Serra
Begehbare Kunst, elastische Sprache, lesbares Strandgut, tanzende Kraken, verlandende Menschen, sowie Ostern und die Zeit bleibt stehen. Es geht um Verschiebungen, wenn nicht Verwandlungen, die in den Notaten Eldad Stobezkis wirksam sind. Sie wirken auf jeden von uns. Nur, wer merkt es?
Kult-News: Der US-amerikanische Bildhauer Richard Serra (1938-2024) starb am 26. März 2024 im Alter von 85 Jahren in New York. Inspiriert waren Serras Arbeiten vom „Abstrakten Expressionismus“ und bestehen meist aus Stahl mit unbehandelter Oberfläche. Die monumentalen, teilweise begehbaren Werke stehen oftmals im öffentlichen Raum und sind damit voll der Korrosion ausgesetzt. Auf Grund der Kompromisslosigkeit der Skulpturen („Ich glaube nicht, dass Kunst die Aufgabe hat zu gefallen“), fanden sie nicht nur ungeteilten Beifall. Serra zählte zu den wichtigsten Bildhauern der Gegenwart. 2005 schuf er für das Guggenheim Museum in Bilbao eine begehbare Installation aus sieben monumentalen Stahlskulpturen. Wir flogen hin, um die Installation zu begehen, sich in ihr zu verirren, und dann den Weg nach außen zu finden. Es war eine Wallfahrt.
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Als Quereinsteiger finde ich die deutsche Sprache sehr effizient, genau, sogar elastisch mit den vielen Möglichkeiten, Komposita zu formen, und manchmal derb und bäuerlich. Mit fällt auf, dass man mit dem Stammwort „stoßen“ sehr viel anfangen kann: Stoßen, anstoßen, anstößig, zerstoßen, verstoßen, abstoßen, aufstoßen, runterstoßen.
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Im offenen Bücherschrank am Merianplatz entdeckte ich am Ostermontag ein Buch auf Hebräisch: „Auf beiden Seiten des Suez“ von Avraham Adan-Bren aus dem Jahre 1979. Adan-Bren (1926-2012) war ein israelischer Generalmajor und Autor. In diesem Buch beschreibt er den Jom-Kippur-Krieg von 1973. Wer hat das Buch in den Schrank gestellt? War das ein Israeli, der wie ich 1973 im Militär diente? Hat er, so wie ich, Israel verlassen und lebt er in Frankfurt, ganz in meiner Nähe? Der Bücherschrank ist wie eine Küste, und die Bücher sind Strandgut. Was da „angeschwemmt“ wird, ist nicht zufällig. Fünfzig Jahre später wurde Israel am 7. Oktober 2023, fast am gleichen Tag, wieder überrascht.
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Am 1. April 2024 ist der israelische, aus dem Irak stammende, Schriftsteller Sami Michael im Alter von 97 Jahren in Haifa gestorben. Er bezeichnete sich als arabischer Jude, und seine Romane waren authentischer als die Romane der aschkenasischen Schriftsteller, wie Amos Oz und Jehoshua Kenaz, die zum Kanon gehören und die ihn von oben herab betrachteten. Michael bekam den „Israel-Preis“ nicht, weil seine politische Ausrichtung den Regierungen nicht passte, auch nicht den „linken“ Regierungen. Der Preis ist schon lange umstritten, und es ist wahrscheinlich gut, dass Sami Michael diese Peinlichkeit erspart geblieben ist. Vor etwa 20 Jahren besuchte ich ihn und seine Frau Rachel in Haifa – wir bemühten uns, einen seiner Romane ins Deutsche übersetzen zu lassen. Fünf Romane von ihm gibt es auf Deutsch. Danach haben ihn auch die deutschen Verleger ignoriert. Das grenzt an Rassismus. Er war ständig unterwegs, um zwischen Juden und Arabern eine Verständigung auf die Beine zu stellen. Da er eine Fangemeinde hatte, wurde er überall in Israel zu Lesungen eingeladen. Damals erzählte er mir, dass er, egal wo er im Lande ist, es immer vorzieht, noch in der Nacht nach Hause zu fahren. Er wollte in seinem Bett schlafen und morgens neben seiner Frau Rachel wach werden. Heute verstehe ich den Wunsch, im eigenen Bett zu schlafen, sehr gut.
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Eine Freundin schickt mir oft kurze Videos von Kraken. Geschmeidig und elegant bewegen sie ihre Tentakel, streicheln die Felsen, passen sich den Spalten an und schwimmen weiter. Die perfekteste Choreografie, die man sich vorstellen kann. Wahrscheinlich gehen wir so gerne zum Ballett, weil uns die perfekte, vollendete Bewegung der Tänzer tröstet und uns für einen kurzen Augenblick unsere eigene Ungeschicklichkeit vergessen lässt.
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Im israelischen Fernsehen läuft gerade eine 6-teilige Serie: Ein israelisches Paar zieht nach Berlin und versucht, sich mit den Einheimischen zu assimilieren, aber sehr schnell entdeckt es, dass man den Israeli aus Israel herausholen kann, aber nicht Israel aus dem Israeli. Darüber könnte ich ein Buch schreiben.
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Wie Bienen nach einem verregneten Tag auf ein Rapsfeld, so stürzten sich am Dienstag nach Ostern die Kunden auf die halb geplünderten Kühlregale beim Discounter.
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Die Uhr blieb stehen. Ich wollte die Zeit stoppen. Dann kaufte ich doch eine neue Batterie.
Erscheint am 7. Oktober 2024 bei der Edition W:
Eldad Stobezki
Rutschfeste Badematten und koschere Mangos
Gebunden, ca. 150 Seiten
ISBN: 978-3-949671-15-9
Letzte Änderung: 13.04.2024 | Erstellt am: 13.04.2024
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