Mehr Demokratie wagen

Mehr Demokratie wagen

Ein Kommentar

Nach der Wahl des neuen Bundestags sprechen auch die miteinander, die eigentlich alles schon voneinander wussten. Aber der Wille der Bevölkerung lässt auch eine neue Farbenlehre ins politische Geschehen leuchten, von der man noch nicht weiß, was aus ihr folgt. Peter Kern kommentiert.

Die Verzwergung der CDU hat sich in den wenigen Wochen des Bundestagswahlkampfs mit rasender Geschwindigkeit vollzogen. Die langen Jahre der Großen Koalition waren nicht schuld am dem rapiden Schrumpfen. Was für die SPD nicht galt, gilt für die CDU ebenso wenig: Regierungspartei sein, schadet nicht. Aber nicht auf der Höhe der Zeit zu sein, schadet.

Modernität galt der CDU immer als identisch mit einem auf den Weltmärkten erfolgreichen Made in Germany: technologisch avanciert und mit einem ideologischen Minimum abgefedert. In der beschworenen Sozialen Marktwirtschaft sah sie das, was die Werbeleute einen Claim nennen, einen flotten Spruch, passend zum Logo. In dem von der Gesellschaft gegenwärtig zu bewältigenden Umbruch hat das ideologische Minimum der CDU jedoch massiv an Glaubwürdigkeit verloren. Dass der Markt alles schon richten werde, der Staat bloß die sozialen Härten abzufedern habe, diese schlichte Botschaft lässt sich niemanden mehr so einfach verkaufen.

Zu groß die von der Transformation der Industrie gestellte Herausforderung, zu massiv der ökologische Folgeschaden der Altindustrien; unumgänglich das staatliche Management der durch die Pandemie schwer geschwächten nationalen und europäischen Ökonomie.

Die Wählerinnen, die Wähler haben der CDU die Behauptung nicht abgenommen, sie habe für den Epochenumbruch das passende Personal. Laschets Zukunftsteam, ein müder Einfall von Werbefritzen, die auf die Einfalt des Publikums setzten. Für jeden war etwas dabei: Für die Frauen eine Frau, für die Jungen ein Junger, für das Thema Diversity ein Dunkelhäutiger und für die radikalisierten Handwerksmeister Herr Merz.

Der Kandidat der Konservativen, Herr Laschet, konnte in seiner Kampagne den Eindruck seiner Hilflosigkeit nie dementieren. Nicht der Lacher am falschen Ort war sein Problem, nicht der groß gewachsene Franke war sein Problem, das Missverhältnis war’s. Hier eine Industriegesellschaft, die ihre energetische Basis und ihr erfolgreichstes Produkt, das Automobil, völlig überarbeiten muss und dort eine Partei, die dieser Herausforderung mit der Überzeugungskraft der Gebetsmühle begegnet.

Mit Phraseologie ist der Epochenumbruch nicht zu bewältigen. Technologieoffenheit, Bürokratieabbau, schnelles Internet sind solche Phrasen. Wie viele Jahre hatte die von Frau Merkel geführte Regierung Zeit, sich den Themen zu widmen?

Die mit der Aura der nüchternen Physikerin regierende Chefin ließ sich von ihren Leuten ein Zahlenwerk präsentieren, das hinten und vorne verkehrt war. Beim Ausbau der Sonnen- und Windenergie peilte der Wirtschaftsminister eine Größe an Gigawatt an, gerade ausreichend, um die chemische Industrie umzustellen.

Eine Fehlkalkulation mit großer Symbolik: Die konservative Partei ist unfähig, das Ausmaß an Strukturwandel zu erfassen. Worauf sie sich regelmäßig verlassen konnte, war nicht mehr gegeben. Das Schweigen der CEO’s war unüberhör-, die fehlende Rückendeckung durch die Vorstandsvorsitzenden der Konzerne, unübersehbar. Der BASF-Boss schüttelte in einem Interview nur noch mit dem Kopf.

Die Konzerne wollen ihre Geschäftspolitik mit der Industriepolitik des Staates flankiert sehen. Sie realisieren nüchtern, was unübersehbar ist. Die für das Elektroauto, die regenerativen Stromquellen und die carbonfreien Produktionsprozesse notwendige Infrastruktur ist von keinem Konzern, und hieße er VW, alleine auf die Beine zu stellen. Staatliche Moderation und keine marktkonformen Sprüche („Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt“) führen weiter.

Frau Merkel hatte dies seit der mit dem Namen Lehman Brothers verbundenen Wirtschaftskrise begriffen. Nun sind zwei Krisenherde unter Kontrolle zu halten, die ökonomische und die ökologische. Merkels Wirtschaftsminister Altmaier sollte fortführen, was Sigmar Gabriel begonnen hatte.

Industriepolitik, moderierter Strukturwandel, ist ein genuin sozialdemokratisches Geschäft; die alten Stahlreviere wissen davon. Diese Art Politik hat die CDU immer nur abgekupfert, aber die Wähler wollen nun das Original an der Regierungsspitze sehen. Gleichwohl ein Original, das mit den Grünen kooperiert und nicht aneckt; sie wollen eine CO2-freie Industriepolitik am Werk sehen, wenn das hässliche Wort ein-mal erlaubt ist.

Das von Gerhard Schröder favorisierte Koch-Kellner-Modell im Umgang von rot – grün wird nicht noch einmal funktionieren. Die Nonchalance des selbst ernannten Autokanzlers wird im spröden Scholz wohl keine Fortsetzung finden. Auf Brandts „mehr Demokratie wagen“ folgte drei Jahrzehnte später Schröders „mehr Volkswagen“, und mit Hilfe von BILD und BamS ließ sich die bundesdeutsche Gesellschaft damals noch einseifen. Die Seifenblasen sind längst geplatzt und die Schaumparty ist vorbei.

Die heutige SPD hat mit der Schröder-SPD nicht mehr viel gemein. Ihr letzter Wandel ist einer, der glücklicherweise unterbliebenen ist. Dafür stehen die Namen Scholz und Heil. Sie gaben die Richtung vor, nicht die ehemaligen Lautsprecher der Partei um Frau Esken und Herr Kühnert, die den Kurswechsel raus aus der Regierung propagierten.

Die Wahlkommentare der vergangenen Jahre fingen alle mit dem gleichen Einleitungssatz an: Krachende Niederlage. Die von den beiden initiierte Non-Groko-Kampagne sollte aus der Misere führen. Den Flötentönen nicht gefolgt zu sein, hat aber aus der Misere geführt. Und nun will der Ex-Jusochef auch mal einem Bundestagsausschuss vorstehen und später einmal ein Ministerium führen, und sein Geschwätz von vor zwei Jahren geht ihn nichts mehr an. Es verhielt sich, wie es sich in großen Organisationen immer verhält. Die sich lautstark bemerkbar machen, sind selten in der Mehrheit.

Scholz und Heil repräsentieren die Mehrheitsfraktion, und ihr Politikangebot ist auf eine ordentliche Nachfrage getroffen. Hätte sich die Politikverweigerung der Berufsjugendlichen durchgesetzt, stünde die SPD jetzt in der Nähe des Abgrunds, in den die Linkspartei gestürzt ist.

Was die SPD im Unterschied zur CDU fertig bringt: Das Multikulti der deutschen Gesellschaft mit ihrem Personal abzubilden. Wer aus einer Emigrantenfamilie kommt, (und sei der Urgroßvater als „Gastarbeiter“ nach Stuttgart-Zuffenhausen gekommen), der weiß noch wie Diskriminierung geht. Der hat sie im Zweifelsfall noch in eigener Sache erlebt und nicht bloß im soziale Ungleichheit behandelnden Politikwissenschaft-Seminar. Den türkischstämmigen Bewerber, die spätausgesiedelte Bewerberin der zweiten Generation auf den Wahlplakaten zu präsentieren, hat in den Großstädten sehr zum Erfolg beigetragen.

Scholz und Heil haben als Minister des alten Kabinetts eine keynesianische, nachfrageorientierte Politik gemacht, zu der es keine Alternative gibt. Das TINA-Prinzip (there is no alternative) scheint das Vorzeichen gewechselt zu haben. Der Neoliberalismus, der in der Bundesrepublik ja immer mehr Drohkulisse denn Realität gewesen ist, hat abgeschmiert. Herr Merz ist endgültig ein Ritter von der traurigen Sorte geworden. Seine Partei, die glaubte, ihn für den Erfolg zu benötigen, hat an ihren Erfolg im Ernst gar nicht mehr geglaubt.

Auch die Partei Die Grünen wird anders in ein Dreierbündnis gehen als sie in das alte Zweierbündnis mit der SPD gegangen ist. Zu den rot-grünen Zeiten hatte man zu zwei gesellschaftlichen Akteuren gar keinen Kontakt, weder zu den Gewerkschaften noch zu den Unternehmern. Das hat sich geändert, was einen Zuwachs an Realitätssinn zur Folge hat. Den Grünen das Etikett Lehrerpartei anzuheften, gelingt nicht mehr. Dass ein Herr Kaeser, Ex-CEO der Siemens AG sie unterstützt, der Vorsitzende der IG Metall sich hinter ihr Projekt stellt, hat der Öko-Partei sehr geholfen.

Der Green New Deal ist einstweilen nur ein politischer Claim, und ob mehr als heiße Luft draus wird, ist nicht ausgemacht. Wie macht man mit Herrn Lindner Green New Deal? In der Gründungsurkunde seines Ladens ist das Gegenteil von Korporatismus festgeschrieben. Wer auf die Ampel-Koalition setzt, muss hoffen, dass der FDP-Hunger auf regierungsamtliche Jobs größer ist als die Treue zur neo-liberalen Programmatik. Lindner wird wohl nicht noch einmal für einen heroischen Verzicht gefeiert werden wollen.

Herr Lindner hat im Wahlkampf ein Mirakel versprochen. Die mit Milliarden über Wasser gehaltenen Job-Inhaber und Unternehmen sollen unter einer Regierung mit FDP-Beteiligung vom Finanzamt eher bedacht als belastet werden. Es haben wohl viele Jungwähler dem smarten Herrn mit der neuen Bartmode ihre Stimme gegeben. Ihnen muss jetzt schonend beigebracht werden, dass der oberste FDP‘ler weder Startups aus dem Zylinder zaubern noch die Grundrechenarten aufheben kann.

Eine tragische Figur gibt nach der Wahl die Linkspartei ab. Der Parteiflügel um Frau Wissler hat die Realos vor der Wahl nicht zum Zug kommen lassen, mit dem Effekt, dass die Partei nach der Wahl zu einer zu vernachlässigenden Größe geworden ist. Drei Direktmandaten hat sie es zu verdanken, dass sie die parlamentarische Bühne, auf der sie groß aufspielen wollte, nicht ganz verlassen muss. Den Parlamentarismus als Bühne benutzen – die sich mit Hybris Die Linke nennt, ist in einem dogmatischen Leninismus versackt, der seines Erfinders absolut unwürdig ist. Ihre Aufgabe wäre es gewesen, die minder qualifizierten Industriebelegschaften vor der rechten Versuchung zu bewahren, indem sie in einem rot-rot-grünen Kabinett mit dafür Sorge getragen hätte, dass die Arbeiter nicht als archaisches Überbleibsel behandelt werden. In dieser ‚Verlorenen Klasse’ (Hans Günter Thien) ist die Existenzangst mit den Händen zu greifen, und Frau Weidels rechte Sippe verspricht Hilfe in der Not.

Wer braucht die Partei Die Linke, die keine Partei, sondern auf ewig eine NGO, eine Nichtregierungsorganisation sein will? Mutmaßlich kein Mensch.

Letzte Änderung: 14.10.2021  |  Erstellt am: 08.10.2021

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