Medizin in Not (II)

Medizin in Not (II)

Das Sterben in Zeitlupe
Pflege eines Mönches | © wikimedia commons

Der demographische Wandel, bei dem immer weniger Junge für immer mehr Alte aufkommen müssen, bringt, verstärkt durch die jüngste Pandemie, Siechtum und Sterben ins Bewusstsein zurück. Die Personelle Unterversorgung in fast allen Bereichen, die sich darauf beziehen, macht das Ableben zum Skandal. Wie verhält sich die moderne Medizin zum Pflegenotstand und wie die Kirchen zum selbstbestimmten Sterben? Der österreichische Urologe und Universitätsprofessor Gero Hohlbrugger hat sich mit vielen Aspekten des Notstands befasst und in einem dreiteiligen Essay zusammengefaßt. Hier ist der zweite Teil.

5) Todesangst und Spiritualität

Spiritualität als ein höheres Bewusstsein deutet sich nur in einzelnen genialen oder mystisch begabten Individuen an, die sich unter ihren Mitmenschen und gegenüber ihren eigenen, von der Umwelt geprägten gesellschaftskonformen Vorstellungen oft ebenso verloren und heimatlos vorkommen und von dorther ebenso missbilligt werden (CF v Weizsäcker, G Krishna). Mittels spezieller, jahrelang und täglich geübter Meditationstechniken soll als höchstes Ziel die Erleuchtung bzw. nach Sri Aurobindo das Erreichen eines supramentalen Bewusstseins gelingen. Aber bereits der Weg dorthin lässt die Seele von unnötig bedrückendem Ballast befreien, das Leben ordnen, Sinn finden, und Anpassung an neue Begebenheiten vornehmen. In der „aufgeklärten“ Naturwissenschaft stehen derlei Belange nicht zur Debatte. Diesbezügliche Fragen werden in der Regel nicht gestellt und wenn, von dort lieber nicht beantwortet. Das Christentum stellt solchen Fragen die zehn Gebote entgegen. Festgehalten auf zwei Tontafeln, die Moses am Berg Sinai direkt von Gott daselbst durch einen brennenden Dornbusch ausgehändigt wurden. Später wurden die Gebote um die sogenannten Todsünden erweitert. Es handelt sich beim Christentum also vornehmlich um Verhaltensregeln für den Einzelnen und für die Gesellschaft, deren Einhaltung kleinere wie größere Gemeinwesen wie Kitt zusammenhalten half. Sieht man von vereinzelten Ordensgemeinschaften ab, wurden Mystik und Spiritualität lieber außen vor gelassen. Erst in neuerer Zeit wird während sogenannter Einkehrtage das Erlernen von Meditationstechniken angeboten. Bestimmt nicht das strenggenommen Eigentliche aber einen richtungweisenden Hauch von Spiritualität können Gebete, Stillschweigen (beides allein oder in einer Gruppe von Gleichgesinnten), gregorianischer Choral oder Kirchenmusik von J. S. Bach bis A. Bruckner vermitteln.
 
Bei der Sterbebegleitung findet sich die ganze Bandbreite von aspirituell bis zur Nähe der Erleuchtung. Beim Gros unserer Zeitgenossen kann man mit Fug und Recht behaupten, von Spiritualität keine Ahnung zu haben und sich darauf auch niemals einlassen zu wollen. Ein weiterer Teil findet spirituelle Erfüllung beim Einswerden mit der Natur, als Gott im Du aber manchmal sogar als Gott im Ich. Wiederum andere berufen sich auf spirituelle Restbestände aus ihrer Zeit im lebendigen christlichen Glauben. Die aktiv Meditierenden vereint die Suche nach dem Licht der „Erleuchtung“. Es drängt, in diesem Licht eine Verwandtschaft mit dem helllichtenen Horizont der Nahtoderfahrenen (Elisabeth Kübler Ross) zu vermuten. Da wie dort blinken Signale der absoluten Selbstaufgabe bzw. des Loslassens von allem organischen Menschgewordenseins. Ob man nun in der Tat jeweils haarscharf am Übergang ins Jenseits vorbeischrammte, bleibt Glaubenssache. Selbst neueste Einsichten in die Neurobiologie des Sterbens tragen nichts zur aufhellenden Klärung dieses Mysteriums bei. Momente vor dem Tod und prinzipiell reversibel (Voraussetzung über Nahtoderfahrungen zu berichten) äußert sich der Kollaps des ionalen Spannungsgefälles zwischen dem Neuronen-Inneren (Nervenzellen) und deren Umgebung als „Tsunami“ im Gehirn. Wenn wir unter Seele eine Form der Energie verstehen, ist speziell anhand des physikalischen Gesetzes vom „Erhalt der Energie“ nahezu unmöglich, dass sich die Seele im Zuge des Sterbeprozesses ins Nichts verliert. Und wenn Körper und Seele doch eine unzertrennliche Einheit waren?
Bei der Meditation handelt es sich um unterschiedlich intensive Erfahrungen von ureigenem Charakter. Mancherorts wird sogar behauptet, erfüllte Sexualität sei die unterste Stufe der Erleuchtung. Ob und inwieweit sich Sterbebegleitung adäquat auf Spiritualität einstellen und das als Hebel zur Beseitigung der Todesangst nützen kann, bleibt angesichts der Bandbreite von aspirituell bis zur Nähe der Erleuchtung eher unbeantwortbar. Vielleicht findet sich ein Yogameister, der einem spirituell unbedarft Sterbenden das Meditieren beibringt. Mich jedenfalls hat das neuerliche Schmökern in CF v Weizsäcksers und G Krishnas Buch als Vorbereitung zu diesem Text veranlasst, demnächst den Wiedereinstieg in die transzendentale Meditation in Angriff nehmen zu wollen.
 
VERGEISTIGUNG UND ZURÜCK (Ge. Ho. 1985)
 
Die Himmelstür stand offen, ich sah was sonst entrückt,
bohrend Fragen schwiegen, Erleuchtung schien geglückt.
Memento homo, bist Erdenbürger nach wie vor.
Nimm meine Hand Vertrauen, ich folge Deiner Spur.
 

6) Todesangst und Aufklärung

Mit René Descartes’ Leitsatz „cogito ergo sum“ (ich denke also bin ich) startete die „Aufklärung“ mit Forscherneugier, Wissen und Verstand die Eroberung des Abendlandes aus den dogmatischen Fängen christlichen Glaubens. Es galt nur mehr das messbare und experimentell überprüfbare Faktum. Anhand des Paradigmas (Leitidee) von „Intersubjektivität (für alle gleiches Wahrnehmen und Verstehen) und Reproduzierbarkeit“ eines jeden Experiments, gediehen dem naturwissenschaftlich-technischen Fortschreiten nicht nur ungeahnte Erkenntnisgewinne, sondern genauso Konsum- und Gebrauchsgüter zum Wohle der Allgemeinheit. Der Erfolgsjubel verführte zu Hybris und Machbarkeitswahn. Als Kehrseite der Erfolgsstory haben sich schon geraume Zeit sozialer Friede und Friede mit der Natur fatal ineinander verkeilt (Klaus Michael Meyer-Abich, 1984-1987 Wissenschaftssenator in Hamburg). Wirtschaftswachstum mitsamt Wegwerfkultur ohne jedes Innehalten bürgt für sozialen Frieden via Luxus, Brot und Spielen. Mit dem Erhalt unserer Lebensgrundlagen auf diesem Planeten dürfte dieses politische Konzept à la long unvereinbar sein.
 
Mit Todesangst, Sterben und Tod hatten die Aufklärer nur wenig am Hut und überließen das sich sämtlichen Messparametern entziehende Terrain weiterhin den Christen oder gar deren Mystikern. Als hätte er den neuzeitlichen Denktrend des Ausklammerns des Lebensendes vorausgeahnt, hat Michel de Montaigne (1533-92) dagegen angeschrieben. In seinen Essais behandelt er das Thema Tod jetztzeitig, plausibel, umfassend gegen irgendmögliche Kontrapunkte austariert, frei von spekulativen Dogmatismen. Auf den Punkt gebracht, plädiert er dafür, den Tod ständig im Sinn zu führen, um sich an ihn zu gewöhnen, und dergestalt seinen Schrecken fern zu halten. Damit verfolgte er die Spur, die der Stoiker Epiktet aus dem antiken Griechenland hinterlassen hat. Heute wird dieses Erbe – wie von Heinz Nussbaumer eindrucksvoll geschildert – von den Mönchen am Berg Athos hochgehalten. Nicht nur sie, auch ihre Gäste können versichern, dass die Todesangst schrittweise mit jeder einzelnen Simulation des eigenen Todes abnimmt. Auch wenn der Einstieg in solche Übungen einige Überwindung kostet: Er lohnt ganz bestimmt. Im Kirchenjahr wird wenigstens zu Beginn der Fastenzeit Asche auf die Stirn der Gläubigen gestrichen und dazu stimmig ins Gewissen geflüstert: „Bedenke, der Mensch besteht aus Asche, und kehrt dorthin zurück!“.
 
Wann immer ich jemanden en passant frage, wie sie/er es mit dem Tod halte, bekomme ich fast immer ein und dieselbe Antwort, auch von denjenigen, deren baldiges Absterben das welkende Gesicht verrät: Für derlei trübe Gedanken sei es noch viel zu früh! Es hat sich leider noch immer nicht herumgesprochen, dass Montaignes Methode durchaus imstande wäre, das Lebensglück im Diesseits auf standfest solidere Beine zu stellen. Das bewundernswerteste an seinem Opus bleibt der Umstand, dass er ca. 200(!) Jahre vor I. Kant daran ging, anstelle bzw. ergänzend zum Christentum ein ethisches Koordinatensystem für die Einzelnen sowie für die Gesellschaft zu entwerfen. Um die aktuelle Tabuisierung der Themen „Sterben, Tod und Todesangst “ zu entkrampfen, gehörte seine „ars moriendi“ (die Kunst zu sterben) oder ein Pendant als wesentlicher Aspekt der Schule des Lebens ohne Zweifel in jeden Lehrplan des Ethikunterrichts für über 10-jährige Schüler. Damit alleine dürfte jeglicher Panik im Eintrittsfall Einhalt geboten sein. Gegen Trauer wäre ja nichts einzuwenden. Das Thematisieren des eigenen, familiären oder fremden Sterbens können Massenerschiessungen in virtuellen Shooter Games aus Spielkonsolen oder Web bestimmt nicht ersetzen. Die neuerdings als didaktisch „abwegig“ bewertete Brutalität der Grimm’schen Märchen kann die der Shooter Games schwerlich übertroffen haben.
 
Ägyptische Pharaonen pflegten neben einer Festtafel einbalsamierte Mumien oder Leichen frisch Verstorbener aufzustellen. Die Maßnahme sollte die Gäste von eventuell tödlich endender Völlerei abhalten oder daran erinnern, dass die Mahlzeit selbst vergiftet oder verdorben sein konnte. Darüber hinaus galt es, das Bewusstsein über die Verletzlichkeit menschlichen Lebens wach zu halten. Es wurde sozusagen dem Effekt von Naturkatastrophen (Heuschreckenplagen), Kriegen, Seuchen und sonstigen Unbilden wie Säuglingssterblichkeit nachgeholfen. Der wiederholte Kampf des einzelnen und der Gesellschaft ums Überleben half gedeihliches Miteinander, Wertschätzung des Daseins, implizit des Lebensendes und der Lebensfreude, zu fördern. Der Erfolg des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts hat diesen Kampf sehr wesentlich erleichtert, das Bedürfnis nach Sicherheit bzw. Todesverhinderung hat inzwischen oberste Priorität, und wie als Ersatz für frühere Unbilden haben sich Konkurrenzdruck der Ich-AGs und die Spaltung der Gesellschaft in den Vordergrund geschoben. Zukunftsängste und Albträume wollen kein Ende nehmen. Das Sterben wurde hinter die Mauern von Pflegeheimen, Kliniken, und Hospizen verbannt. Erstaunlich viele Zeitgenossen hatten noch nie Gelegenheit, einem „realen“ Leichnam zu begegnen. Man hat oft Angst, sterbende Angehörige oder Freundinnen und Freunde zu besuchen. Wie oder was soll man mit denen schon besprechen? Somit ist die wesentliche Konfrontation mit Vergeblichkeit bzw. Endlichkeit als Schlüssel für ein humaneres Miteinander verloren gegangen. Kürzlich plädierte Tobias Haberl im Süddeutsche Zeitung Magazin für eine obligatorische, mindestens einen Monat dauernde Auszeit von Ausbildung oder Beruf, um als Praktikant den Tod aus nächster Nähe in Pflegeheimen, Hospizen oder über Mitarbeit bei einem Bestatter zu erfahren. In der Auseinandersetzung mit dem (eigenen) Sterben sieht er nicht nur Linderung der eigenen Todesangst, sondern auch Investition in eine solidarisch krisenfestere Gesellschaft.

 | © Foto: Bernd Leukert

7) Moderne Medizin: Helfer gegen und/oder Ursache von Todesangst?

Sämtliche im Zuge der Aufklärung getätigten technischen Entwicklungsschritte wurden, so sie Erfolg versprachen, auch den Heilkundigen zugespielt und von denen mit meist großer Begeisterung aufgenommen. Auf diese Weise entstand im Lauf der Zeit der sog. „medizinisch-ökonomisch-industrielle Komplex“ als Born nicht enden wollender Benefizien für Patienten und für zu höheren Sprossen der Karriereleiter emporstrebende Akteure. Er umfasste Diagnostik, Chirurgie, Pharmazie, Apparateassistenz, Intensivmedizin, Marktforschung und Versicherungen. Insbesondere die Abkehr vom ganzheitlichen Konzept (gesunder Geist in gesundem Körper), hin zur Spezialisierung auf diverse überschaubarere Fachgebiete zog einen Expertise geleiteten Siegeszug der modernen Medizin nicht nur hinsichtlich Heilung einzelner körperlicher Defekte, sondern auch eine signifikante Verlängerung des Lebens nach sich. Seuchen wurden ausgerottet, Infektionen kontrollierbar, somatische Defekte chirurgisch bzw. medikamentös behoben. Parallel zur Vermehrung des allgemeinen Wohlstands hat sich der Schwerpunkt der Diagnosen zu Langzeitfolgen von falscher Ernährung und von Bewegungsmangel verlagert. Die früher als wertvolle Basis des Generationenvertrages gepriesene demographische Alterspyramide ist unwiderruflich Geschichte: Sie ist in den westlichen Industriestaaten dabei, kopfständig zu werden. Dadurch verteilt sich das Tragen der Obsorge für die Altvorderen auf immer weniger Schultern der Jüngeren. Der vom Konzept des Absterbens als Versagen angetriebene Machbarkeitswahn der modernen Medizin verdrängt, wie früher die „Wunderheilung“, die Todesangst wenigstens vorübergehend durch Verlängerung der Lebensfrist, erfordert aber stetig wachsenden Bedarf an ambulanter sowie stationärer Betreuung und Pflegedienst.
 
In Anbetracht des Kopfstandes der Alterspyramide ist nicht ausgeschlossen sondern eher wahrscheinlich, dass die Jüngeren infolge der stetigen Zunahme der von den Älteren aufgebürdeten Last den Generationenvertrag kündigen. Der Tagessatz der NeuroReha (Zihlschlacht, Schweiz) beträgt aktuell SFR 1.160.- für die Grundversicherten und SFR 1.560.- für Privatpatienten. In Österreich und Deutschland sind die Tagessätze nur unmerklich preiswerter. Obwohl finanzielles Gegenwägen, weil verpönt, noch immer zu den No-Goes gehört, spricht absolut nichts dagegen, sich diese Beträge ganz andächtig auf der Zunge zergehen zu lassen. Schon längst wären verantwortlich vorausschauende Politiker in der Pflicht, den im Gesundheitswesen (und nicht nur da!) stetig steigenden Anspruch auf knapper werdende Ressourcen ernst zu nehmen, dem Volke eventuell notwendig werdende Anpassungen vorzuschlagen, und einen konkreten Maßnahmenkatalog, in für alle verständlicher Form, zu erstellen. Das gilt insbesondere für den Fall, das jetzige System ist nicht mehr für alle und jeden finanzierbar; die Kranken- und Altenpflege läuft personell aus dem Ruder; und für den Fall von Bedrohungsszenarios für die Allgemeinheit durch Naturkatastrophen, Krieg etc.
 
Obwohl die Mehrheit der Betroffenen und deren Angehörige noch immer den Lockungen des Angebots vorübergehender Lebensverlängerung durch ärztliche Intervention erliegen, entwickelt sich scheinbar unaufhaltsam deren Paradox im Sinne einer heillosen Angst vor einer dadurch induzierten Verlängerung eines qualvollen Dahinsiechens bis zu dessen erlösendem Ende. Ob und inwieweit sogenannte „overtreatments“ das als Ausgangspunkt jeden ärztlichen Handelns postulierte „primum non nocere“ (zu allererst nicht schaden!) in Frage stellen, wird immer häufiger diskutiert. Leider eröffnen dabei von Loslassängsten geleitete Angehörige mit juristisch proklamierten Einwänden und mit Drohung auf Schadenersatz Nebenfronten, die oft weitab vom ureigenen Erwartungshorizont (bloß kein endlos dahinsiechendes Martyrium!) der Patienten liegen. Der Umstand hängt wie ein Damoklesschwert über medizinischen Entscheidungen. Sieht man von der vorübergehenden Atmungsunterstützung für Corona-Erkrankte einmal ab, befinden sich allein in Deutschland 16.000(!) Beatmungsmaschinen im Dauerbetrieb. Dabei lässt sich meist schwerlich abstreiten, dass der Indikation zu solcher „Behandlung“ nicht Angst vor dem Lebensende und nicht Freude am Leben sondern eher Geschäftsinteresse zugrunde lag. Dieser ans Absurde grenzenden Usance ließe sich bestimmt eine Reihe weiterer hinzufügen. Dazu zählten die hiesigen 1000 Patienten im Wachkoma. Die verdanken ihre fragwürdige erst seit ca. 50 Jahren ermöglichte  Existenz einem ehrgeizigen „Pionier“ der Neurologie. Mit einer hinterfraglosen und geradezu frappierenden Selbstverständlichkeit wurde mir dereinst ein über 80(!)-jähriger Wachkomapatient vorgestellt, der zudem nahezu täglich über das Bauchfell zu dialysieren (= künstliche Niere!) war. Bereits jetzt bleibt der Zugang zum gesamten Pouvoir der modernen Medizin in den USA und Großbritannien nur der wohlhabenderen Bevölkerung vorbehalten. Für die Armen der dritten und vierten Welt gelten noch viel restriktivere finanzielle Zugangsbarrieren. Somit erübrigt sich zumindest für die das bei uns oft trostlose Ringen der Betroffenen samt Angehörigen um das Pro versus das Kontra eines Therapieantritts oder -abbruchs. Die internationale Ärzte-Initiative „Choosing Wisely“ geht lt. Google Recherche davon aus, dass bis zu 30 Prozent der medizinischen Leistungen in westlichen Industrieländern unnötig sind. Sie belasten zudem die Patienten oder gefährden sie sogar – und sie verschwenden Geld und Ressourcen wie die Zeit von ÄrztInnen und Pflegekräften. All das fehlt dann oft für wirklich notwendige Behandlungen. Nach gründlichem Abwägen wurden Indikationsbeschränkungen für sämtliche medizinischen Fachbereiche vorgeschlagen. In dieselbe Kerbe schlägt Jochen Kußmann, einst Chef der Hamburger Klinik Schön. Er befindet sich in Rente, hat den OP-Kittel an den Nagel gehängt, will aber weiterhin Patienten helfen, klug über Ihre Behandlung zu entscheiden. Von einem Kollegen habe ich in Erfahrung gebracht, dass in seinem Krankenhaus als Entscheidungshilfe und zum Schutz vor eventuellen juridischen Folgen eines Therapieabbruchs oder einer OP-Ablehnung eine Ethikkommission gegründet wurde. Der medizinische Machbarkeitswahn ist offensichtlich an Grenzen gestoßen.

8) Sterbebegleitung

Seit geraumer Zeit wird das Sterben sukzessive von häuslicher Pflege in den gewohnten und liebgewonnenen eigenen vier Wänden an Krankenanstalten und dort vorzugsweise an dafür apparativ und personell bestens gerüstete Palliativstationen bzw. Hospize weiter gereicht. Bis dato handelt es sich bei diesen Institutionen um die aktuell vollkommenste Art, Todesängste zu überwinden. Nebst an Perfektion grenzender Pflege wird, wenn es darauf ankommt, Schmerzfreiheit schlussendlich durch palliative Sedierung (Erläuterung unter Rubrik Nr. 9) garantiert. Leider sind Kapazitäten dieser Stationen begrenzt, und für Betroffene bleibt oft nur die Hoffnung, wenigstens auf einer Warteliste gereiht zu werden. Es entbehrt nicht einer gewissen Brisanz, dass erst die augenscheinliche Unfähigkeit der modernen Medizin mit dem Sterben umzugehen, Idee und Gründung von Hospizen nach sich zog.
 
Von allen größeren Hospizabteilungen in Österreich werden zudem Kurse in Sterbebegleitung für interessierte Sterbebegleiter*innen angeboten. Die erstrecken sich über mehrere Monate und finden vornehmlich an Wochenenden statt. Es geht vor allen Dingen darum, mögliche, von absolut unnotwendiger Kommunikationsinkompetenz geleitete Missverständnisse sowie Krisen am Lebensende erst gar nicht entstehen zu lassen. In diesem Sinne werden Probleme, Bedenken und Wünsche nicht nur der Sterbenden sondern auch der nächsten Angehörigen und Freunde erörtert. In Österreich wurde inzwischen der Nachweis eines Kursbesuchs für jede*n angehende*n Sterbebegleiter*in zur Pflicht. Nach meiner persönlich durchaus positiven Erfahrung wünschte ich, dass auch sämtliche Aspirant*innen für Pflege- oder Arztberuf vor Studiumbeginn, spätestens vor Dienstantritt, einen solchen Kurs verpflichtend belegen sollten. Das müsste eine spürbare Entspannung für Kranke und Krankenhäuser hinsichtlich Linderung von Todesängsten zur Folge haben. In das Medizinstudium ist meines Wissens eine solche Lehrveranstaltung noch immer nicht integriert. Keineswegs hinter vorgehaltener Hand, sondern laut und offen bekenne ich, ein solcher Kurs am Beginn meines ärztlichen Berufsweges hätte einige Kalamitäten nicht nur mir, sondern genauso meinen sich mir anvertrauenden Patienten erspart. Dem ärztlichen Aufklärungsgespräch über fatale Diagnosen (nicht nur Krebs, sondern auch neuromuskuläre Leiden oder Demenz z.B.) bleibt trotz bestmöglich empathischen Bemühens und des Wegweisens zu Selbsthilfegruppen, Beratungsadressen, Infobroschüren oder zu psychotherapeutischem Beistand letztendlich fast immer ein Makel des Unvollkommenen und Bruchstückhaften hängen. Das hat im Wesentlichen damit zu tun, dass bis dahin jeder Auseinandersetzung mit dem Lebensende tunlichst aus dem Weg gegangen wurde. Somit trifft die fatale Diagnose jählings und völlig unvorbereitet. Unbestreitbare Therapieerfolge hin zu weniger aggressiven Krankheitsverläufen und daraus hergeleitete Hoffnungen haben die Stimmung solcher Gespräche in letzter Zeit merklich entspannt. Damit ist das grundlegende Problem der prinzipiellen Akzeptanz des Lebensendes leider nur aufgeschoben, aber nicht aufgehoben. Aber oft legt allein die gewonnene Zeit Balsam auf die Seele der durch eine Leben-limitierenden Diagnose Erschütterten. Aber irgendwann wird trotz alledem das Ende der Fahnenstange erreicht sein. Zu meiner Ausbildungszeit wurde das Thema „Lebensende“ auch von ärztlicher Seite bis zum letzten Atemzug wie ein Verkehrsinfarkt großräumig umfahren. Erst angesichts der Einwilligungspflicht in Nebenwirkungs-intensive Behandlungsoptionen und chirurgische Interventionen wurde die vorherige Information über Chancen und Risiken zur alternativlosen Basis für jedes weitere therapeutische Vorgehen. Anlässlich eines mehrtägigen Praktikums an der anthroposophischen Universitätsklinik Witten/Herdeke durfte ich erfahren, dass dort üblicherweise ein Arzt den jeweiligen Patient*innen nach der Vermittlung einer fatalen Diagnose drei Tage lang begleitend zur Seite steht. Ein derartiger Aufwand, ob wünschenswert, berechtigt oder angemessen, kann in einer zeitgenormten Kassen- oder Wahlarztpraxis bzw. auf einer konventionellen Krankenstation leider nicht geboten werden.
 
Sterbebegleitung erfordert ganz offensichtlich nicht nur guten Willen, Empathie und kommunikative Kompetenz, sondern auch ein gehöriges Maß an Professionalität. Ist an deren Stelle nur routinierte Generalstabsplanung für Angehörige, Ärzte und Pflegepersonal gegeben, entbehrt allein der Rahmen von Kliniken in der Regel jetzt ganz besonders herbeigesehnte, wohltuend tröstende Herzenswärme. Diesem Manko stemmen sich zwar immer zahlreicher werdende auffallend stille Heldinnen und Helden mit selbstaufopfernder Hingabe und Handreiche entgegen. In dem Zusammenhang bleibt aber zu betonen, dass nicht nur die Sterbenden, sondern auch deren begleitende Angehörige in ihrer Betroffenheit ebenso dringend stützende Haltgebung nötig hätten. Bekanntlich propagieren sich in einem Raum wie einem Krankenzimmer Furcht und Trauer beinahe sich gegenseitig verstärkend, von einem Individuum zum nächsten. Es soll nicht selten vorkommen, dass sich in der Folge sogar Sterbende bemüßigt fühlen, das fatale Geschehen zu stoppen, indem sie von den Angehörigen die Führungsrolle im tröstenden Beistand übernehmen.
 
Inhaltliche Schwerpunkte des Einführungskurses in die Lebens-, Sterbe- und Trauerbegleitung der Caritas Wien: leben können bis zuletzt; persönliche Auseinandersetzung mit Leben, Sterben, Krankheit und Tod; Begleitung schwerkranker Menschen: Psychische, physische, soziale und spirituelle Bedürfnisse von Sterbenden und Begleiterinnen und Begleiter; Ängste und Gefühle, Möglichkeiten und Grenzen in der Begleitung Schwerkranker; Schmerzlinderung, Symptomkontrolle; Sprach- und Ausdrucksformen mit Sterbenden; Wahrhaftigkeit am Krankenbett; Begleitung in der Zeit der Trauer; Pflegen als sozialer Prozess: Maßnahmen und Hilfsmittel; ethische und rechtliche Fragen im Kontext mit Sterben und Tod; Aktive und passive Sterbehilfe, Euthanasie und Patientenverfügung; ehrenamtliche Mitarbeit in Hospizdiensten: Möglichkeit und Bedingungen, vorbereitendes Praktikum.
 
Inhaltliche Schwerpunkte des Einführungskurses in die Lebens-, Sterbe- und Trauerbegleitung des Buddhistischen Zentrums Wien: Woher ich komme; was mich leitet oder antreibt; was mich im Rahmen hält; im Du erlebe ich mich; im Kreislauf des Lebens; Aspekte zum Lebensende und dessen Begleitung aus buddhistischem, christlichen, jüdischen und muslimischen Verständnis; Ethik und juridische Aspekte am Lebensende; Schmerzmedizin und Palliative Care; wenn Kinder/Jugendliche schwer krank sind und sterben; Demenzerkrankungen; Angehörige im Fokus der Hospizarbeit; alles um das Thema Bestattung; Buddhismus am Lebensende; pflegerische Handreichungen am Sterbebett.

 | © Foto: Bernd Leukert

9) Assistierter Suizid vs. palliative Sedierung

„Du sollst nicht töten“ stand bereits auf den Tontafeln, die Moses am Berg Sinai vom Gott des alten Testaments durch einen brennenden Dornbusch übergeben wurden. Bei Mord handelt es sich um vorsätzliches Töten eines Mitmenschen, das gesellschaftlich geächtet und mit der Ausnahme von z.B. Angriff oder Verteidigung im „erklärten“ Krieg strafrechtlich geahndet wird. Ein(e) Selbstmörder*in kann nur postum und in Abwesenheit verurteilt werden, jegliche Strafe für die Missetat könnte bestenfalls eine Stellvertreterin oder ein Stellvertreter auf sich nehmen. Nichtsdestotrotz hat das Christentum Selbsttötung (Suizid) früher insofern sanktioniert, indem den Unglücklichen ihre letzte Ruhestätte meist anonym und nur außerhalb der Friedhofsmauern zugewiesen wurde. Dass dies die ganze familiäre Umgebung nicht nur anlässlich des Grabbesuches peinsam mitbetraf, wurde billigend in Kauf genommen. Nicht nur daraus können wir weiterspinnen, dass es sich auch bei Suizid um Gewalt handelt, die tragische Konsequenzen an die am Leben gebliebenen Freunde und Angehörige weiterleitet. Das reiht sich nahtlos an die seelenmarternde Hinterlassenschaft, die Nachkommen von Tätern(!) des Naziterrors gar nicht selten zu verdauen haben. Dieser Umstand darf keinesfalls gegen die seelenmarternde Hinterlassenschaft für die Opfer gegengerechnet werden. Prinzipiell scheinen mit dem Aspekt der Hinterlassenschaft Hinterbliebene von Tätern und Opfern vielleicht nicht im selben Boot, aber entlang desselben Fließgewässers zu treiben. Bemerkenswert bleibt, dass nach all dem Gegräuel auffallend viele Täter wie auch überlebende Opfer ein stattliches Alter erreicht haben. Die Letzteren hatten sich wahrscheinlich Stein und Bein geschworen, sich dem Terror unter gar keinen Umständen zu beugen. Diese Einstellung dürfte sie auch nach der Befreiung durch Ihr Leben bis ins hohe Alter über sämtliche Hürden des Lebens getragen haben. Wenn ich irgendwo eine Erklärung für das Langleben vieler Täter gefunden hätte, ich würde mich weigern, hier darauf aufmerksam zu machen.

Bei aktiver Sterbehilfe handelt es sich um Verabreichung einer sofort zum Tode führenden Wirkdosis. Unter assistiertem Suizid (früher passive Sterbehilfe) versteht man gemäß Deutscher Stiftung Patientenschutz die „Beihilfe zum Suizid“. Der Sterbewillige nimmt dazu selbstständig eine tödliche Substanz ein. Eine andere Person, d.h. ein Angehöriger oder nahestehender Freund, Arzt oder Sterbehelfer hat hierzu einen Beitrag geleistet. Kürzlich wurde dieser Beitrag in Deutschland und Österreich vom Gesetzgeber straffrei gestellt. Wie mit dieser Neuerung letztlich praktisch umgegangen werden soll, und wie sie sicher und bestimmt sie gegen Missbrauch einzuhegen wäre, ist noch nicht definitiv geklärt. Das anhaltend belastende Thema Euthanasie der Nazizeit und Gründe des eventuellen Missbrauchs im Kontext mit assistiertem Suizid sind durchaus ernst zu nehmen. In der Schweiz wurde assistierter Suizid unter streng einzuhaltenden und überprüfbaren Kriterien schon vor vielen Jahren legalisiert. Vor allen Dingen muss sicher gestellt sein, dass Sterbehelfer oder der um Assistenz Bittende auf keinen Fall unter Nötigungsdruck von welcher Seite auch immer stehen, jeder geringste Verdacht der finanziellen Vorteilsnahme ausgeräumt werden kann, die Einhaltung einer mindestens 6 Monate währenden Frist zwischen dem ersten Äußern des Wunsches und dessen Vollzug mit engmaschigen Verlaufskontrollen des psychologischen Status gewährleistet ist, und dass Angehörige bzw. Nahestehende in Kenntnis gesetzt wurden. Dass Sterbehilfeorganisationen wie Dignitas oder Exit, die von selbstloser Unterstützung nichts bis wenig halten, bei der finanziellen Vorteilsnahme nicht schärfer an die Kandare genommen werden, finde ich merkwürdig, skandalös und wider die vereinbarten, nach wie vor geltenden Einschlusskriterien. Zu der in Österreich mit Jänner 2022 in Kraft getretenden Straffreistellung der Suizid-Assistenz forderte kürzlich Ivo Greiter Richter*innen als letzte Entscheidungsinstanz für deren Vollzug. Die sollten helfen, Missbrauch speziell in Erbangelegenheiten zu minimieren. Meiner Meinung nach gehörte dazu auch eine (ev. pensionierte) Ärztin oder ein Arzt, die sich bereits an vorderster Front wie z.B. Intensivstation, Neuro-Reha oder im Notarztdienst bewährt und ihr Urteilsvermögen mit einer Zusatzausbildung in Sterbebegleitung oder in den Basics von Philosophie, Moraltheologie und/oder Ethik nachjustiert haben. Mir ist leider aufgefallen, dass im Zuge der oft heftigen Diskussionen um Pro oder Kontra assistiertem Suizid nur selten von Liebe, Würde, Erbarmen, Mitleid, nicht-mehr-zuschauen- oder nicht-helfen-Können die Rede war und ist. Mit Nachdruck aber völlig unangemessen und ohne Genierer wird nicht selten von Gegenargumentierern sogar die Mordkeule geschwungen. Die dazu unabdingbaren Motive wie Verhinderung eines Nachteils, Erringung eines Vorteils, Neid und Eifersucht (Femicid), von Habgier getriebener Raub, Rache, Terror, Lust etc. werden ganz gezielt und bewusst unterschlagen. Was hat dann Sterbehilfe mit Mord zu tun? Gibt es überhaupt jemanden, der noch nie aus tiefstem Herzensgrund einem schier endlosen Sterbensgang den alsbaldigen und erlösenden Tod „gewünscht“ hat? Den Zugang zu assistiertem Suizid beschränken die Rezeptpflicht der erforderlichen Medikation, die Weigerung zur Assistenz des gerufenen Arztes, nächster Angehöriger oder einer Person des engsten Freundeskreises und fehlende Listen assistenzbereiter Ärztinnen und Ärzte. Ein vorsorglich angelegtes, für alle Fälle bereitstehendes privates Geheimdepot an erforderlicher Medikation sollte die Todesangst des Inhabers lindern. Ob daraus jemals entnommen und ob der letzte Wille erfolgreich in die Tat umgesetzt wird, entscheidet letztendlich die dazu unerlässliche, erhalten gebliebene Fähigkeit der Handhabung. Auch wenn die bereits verloren ging: Ein den gerufenen Arzt zu assistiertem Suizid oder aktiver Sterbehilfe verpflichtendes Gesetz wird hoffentlich nie Realität. Andererseits hat sich erwiesen, dass ein erheblicher Teil von Aspiranten des assistierten Suizids davon Abstand nimmt, wenn Aussicht besteht, dass der spontane Tod in absehbarer Zeit und problemlos eintreten wird.

Hierzulande wird von Vertretern der Kirchen der Straffreistellung des assistierten Suizids und der aktiven Sterbehilfe nach wie vor mut-trotzig entgegen gehalten. Von den aus dieser Ecke gebetsmühlenartig tönenden Dammbrüchen zu massenmörderischem Missbrauch selbst des assistierten Suizids kann zumindest in der Schweiz noch immer keine Rede sein. Sein Anteil am Sterben insgesamt rangiert noch immer im unteren einstelligen Prozentbereich. Liegt nicht ebenso Missbrauch der Vertrauensstellung nach Geheimisgelobens vor, wenn Ärzt*innen den Wunsch nach assistiertem Suizid sofort mit der Diagnose „akute Depression“ beantworten und aus diesem Grund die Einweisung in eine geschlossene Anstalt veranlassen? Der in der Tat bestens gelaunte, souverän auftretende akut oder chronisch Sterbewillige muss wohl erst noch erfunden werden. Meistens bricht ein Sterbewunsch nicht als akuter Affekt urplötzlich vom heiteren Himmel, sondern reift mitunter in jahrelangem Zweifel an, sowie Hader mit sich selbst. Er markiert den Beginn einer absehbar krankheitsbedingten Schmerzkarriere oder eine bestimmte Schwellüberschreitung unerträglicher Altersgebrechen. Ein immer mehr um sich greifender Kulturwandel hat die Frage nach Sterbehilfe zuletzt mächtig befeuert. Der besteht im Wesentlichen darin, dass der vom Konzept des Absterbens als Versagen angetriebene Erfolg der modernen Medizin als Machbarkeitswahn zum selbstverständlichen Erwartungshorizont unserer Gesellschaft gehört. Ist nicht demaskierende Enttäuschung über ebendiesen Machbarkeitswahn oft erst Anlass für den Wunsch nach Lebensbeendigung und damit nichts anderes als des Wahnes Schubumkehr?

Opinion Leader der palliativen Sedierung konstatieren, dass durch deren gekonnte Anwendung assistierter Suizid generell obsolet geworden sei. Unter palliativer Sedierung versteht man die Verabreichung von Medikamenten (Morphium), die das Wachsein sterbender Patienten bis zur Bewusstlosigkeit dämpfen, um anders nicht beherrschbare (therapierefraktäre) Symptome wie Schmerzen, Atemnot, Übelkeit, Erbrechen, Angst oder Delirium in der letzten Lebensphase selbst unter Inkaufnahme eines früher einsetzenden Todes auszuschalten. Genau genommen übernehmen Palliativstationen und Hospize schulmedizinisch „austherapiertes“ Sterbenselend. Über das Elend vor der resignativen Zuweisung wird der Mantel des Schweigens gebreitet. Vom Kampf gegen die palliative Sedierung hat sich die katholische Kirche inzwischen zurückgezogen. Die Frage, ob es sich dabei nicht auch um aktive Sterbehilfe handelt, kümmert eigentlich niemanden mehr. Es gilt, den sich oft am Lebensende bis zur Therapieresistenz aggravierenden Schmerzen effizient und professionell Einhalt zu gebieten. Die Zeiten, in denen die Verabreichung von schmerzlindernden Opiaten unter dem Vorwand von dadurch evozierter gesetzwidriger Sucht(!) standfest und rigoros abgelehnt wurde, gehören hoffentlich gänzlich der Vergangenheit an. Die Schmerzkontrolle hat sich inzwischen einen Spitzenplatz in der Linderung von Todesangst erobert. Andererseits, den Zugang zu palliativer Sedierung für die „Allgemeinheit“ beschränkt der Mangel an Kapazitäten und Anzahl der Palliativ- und Hospizstationen. Vor dem Szenario des Pflegenotstands in Krankenhäusern und Altenheimen erscheint der seit Jahren gebetsmühlenartig vorgetragene Ruf nach Ausbau der Palliativbetreuung nur auf den ersten Blick tröstlich. Realistisch betrachtet handelt es sich dabei eher um Sand in den Augen während des Blicks auf den unabwendbar scheinenden zukünftigen Ausweg in die hartherzige Triage, wahrscheinlich von Arm gegen Reich und/oder von Alt gegen Jung. Zweifelsohne mehren sich in der Ärzteschaft und im Hauspflegebereich jetzt schon die stillen „Held*innen“, die zum terminalen „Primum non nocere“ (zuerst nicht schaden) bereit sind. Einverständnis der nächsten Angehörigen vorausgesetzt, sind Therapieabbruch und palliative Sedierung nach ärztlicher Verschreibung der dafür erforderlichen Dosis Morphium mancherorts in besonders aussichtslosen und bemitleidenswerten Fällen bereits klammheimliche Praxis der Hauskrankenpflege. Dafür wird das Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung in Kauf genommen. Also palliative Sedierung ohne bürokratische Umwege und Filter. Gratwandlerische Duldung anstelle von Gericht und erstaunlicherweise ohne Aufschrei einer eventuell miteingeweihten Öffentlichkeit.

Im Film “Amour” hat uns Michael Haneke die Konfliktgemengelage rund um assistierten Suizid oder aktive Sterbehilfe brillant präzise verbildlicht. Ein mit den Jahren gereiftes und beneidenswert glückselig gelassen ineinander gewobenes älteres Ehepaar erfährt eine Zäsur durch einen die Frau unerwartet treffenden Schlaganfall. Der verdammt sie zu pflegefälligem Weiterdasein, das den vom festen Vorsatz „Bis dass der Tod euch scheidet“ beseelten, jetzt fast noch liebevoller kümmernden Gatten maßlos überfordert. Die gemeinsame Tochter bleibt geschäftig-kühl-distanziert, lehnt jede Mithilfe ab und schlägt zum Entsetzen ihrer Mutter vor, die Verantwortung sei wohl besser einem Krankenhaus zu delegieren. Die Mutter wollte das auf gar keinen Fall. Für den jetzt alleingelassenen Vater kollidieren ab sofort Überforderung, Hilfsbereitschaft, Ohnmacht, Mitleid und von Ausweglosigkeit getriebene Zukunftsangst. In seiner Verzweiflung nimmt er ein Kopfkissen, stülpt es über seine ohnehin nur mehr nach Atem ringende Lieblingsfrau, hält darauf, bis ihr mit Sicherheit jede Form von Unruhe abhanden gekommen war. Welche Leser*in maßt sich jetzt an, den bemitleidenswerten, inzwischen noch vereinsamter gewordenen Mann wegen aktiver Sterbehilfe oder sogar wegen Mordes an den Pranger binden zu wollen, um ihn dem abscheulichen Gekläff der scheinheilig Empörten auszuliefern? Es handelte sich hier mehr um die Gesamtheit der kollidierenden Umstände, um deren Geltung im Rechtswesen wohl erst noch gerungen werden muss. Im Film „Das Meer in mir“ von Alejandro Amenabar wird aktive Sterbehilfe einem hoch querschnittsgelähmten Unfallopfer von seinen „es mit ihm nur gut meinenden“ Verwandten und Freunden verwehrt. Auch die Justiz stellt sich hinter deren Einwände und gegen sein mehrmals flehentlich vorgetragenes Ansuchen. Der zutiefst Bedauernswerte konnte keinen einzigen seiner Finger bewegen, ohne nach hinten sichernde Gurte nicht aufrecht sitzen, und wurde wegen einer Schluckstörung über eine Magensonde ernährt. Im Falle der Tötung auf Verlangen war eine klare Trennlinie zwischen assistiertem Suizid und aktiver Sterbehilfe nicht mehr zu ziehen. Vor den Segnungen der modernen Medizin sind Querschnittsverletzte wenige Wochen nach dem Unfall an Nierenversagen durch Harnstau infolge Blasenlähmung verstorben. „Medicus sanat, natura curat“ (der Arzt behandelt, die Natur heilt)!?
 
 

Siehe auch:
Medizin in Not, Teil I

Letzte Änderung: 04.12.2023  |  Erstellt am: 25.11.2023

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