Medizin in Not (I)

Medizin in Not (I)

Das Sterben in Zeitlupe
Pflegenotstand Themenblätter im Unterricht Nr. 132  | © Bundeszentrale für politische Bildung (bpb)

Der demographische Wandel, bei dem immer weniger Junge für immer mehr Alte aufkommen müssen, bringt, verstärkt durch die jüngste Pandemie, Siechtum und Sterben ins Bewusstsein zurück. Die personelle Unterversorgung in fast allen Bereichen, die sich darauf beziehen, macht das Ableben zum Skandal. Wie verhält sich die moderne Medizin zum Pflegenotstand und wie die Kirchen zum selbstbestimmten Sterben? Der österreichische Urologe und Universitätsprofessor Gero Hohlbrugger hat sich mit vielen Aspekten des Notstands befasst und in einem dreiteiligen Essay zusammengefasst. Hier ist der erste Teil.

Aktuelle Literatur zu „Sterben und Tod“ und somit auch zur „Angst vor dem Lebensende“ bzw. zur „Todesangst“ vermittelt vornehmlich den Eindruck, dem Leser das längst fällige Betreten einer Tabuzone zumuten oder nahelegen zu wollen. Längst fällig, weil unsere modern durchorganisierte Gesellschaft größtmögliche Sicherheit für das Leben einfordert und der Auseinandersetzung mit dessen Ende tunlichst aus dem Weg geht. Für den Einzelnen und womöglich für die Gesellschaft wird befürchtet, dass sich die Auseinandersetzung zu einer psychisch erheblich belastenden Verunsicherung auswachsen könnte. Im Vergleich zu früheren Generationen sind wir mangels „Anschauung“ Meister im Verdrängen des Todes geworden. Warum sollen wir nicht gerade deshalb über die Angst vor dem Lebensende reden, uns damit auseinander setzen, um damit eher klar zu kommen? Diese Angst wurde zum Angelpunkt des Buchtitels. Ehe wir darangehen, das fatale Patt zwischen Pflegenotstand und moderner Medizin zu lösen, müssen wir uns die Frage stellen, wie es überhaupt zu dieser Misere kommen konnte.

Die Deutung der Überbelichtung des Lebens unter Ausblendung dessen Endes sowie der fatalen Konsequenzen unseres kollektiven Strebens nach „Höher, Weiter, Schneller“ hat eine kurze Geschichte aus der Antike vorweggenommen: Intention, Vorbereitung zum Flug und – als er der Sonne zu nahe kam – Absturz des Ikarus. Es geht im Folgenden darum, „Sterben und Tod“ nicht als Absturz sondern als Teil des Lebens lernen zu begreifen. Es wäre bereits ein Erfolg für den Autor, mit diesem Essay einen Beitrag für konkretere Wahrnehmung und Akzeptanz dieser Sichtweise und somit zur Bereinigung des Tabus geleistet zu haben. Wenn wir weiterhin verdrängen und weg- anstatt hinschauen, steuern Gesundheitswesen und Altenfürsorge unserer Wohlstandsgesellschaft trotz oder gerade wegen der Erfolge der modernen Medizin unweigerlich einem schmerzlichen Kollaps bzw. Absturz entgegen. Ein abstraktes Beispiel soll den Einfluss der Angst vor dem Lebensende auf die kollidierende Gemengelage von Betroffenen, deren Angehörigen, der Ärzteschaft, des Pflegepersonals sowie von Versicherern und Juristen offenlegen: Eine seit geraumer Zeit demente Bewohner*in eines Pflegeheims, 80 bis 90 plus an Lebensjahren, wird vom Pflegepersonal hilflos am Boden kauernd vorgefunden. Womöglich liegt eine Kreislaufkrise ohne erkennbare Ursache außer ihrem altersentsprechend reduzierten Allgemeinzustand vor. Es werden Notarzt und Rettungswagen herbeigerufen, und nach primärer Versorgung (Infusionslegung, Atmungssupport, Schockprophylaxe etc.) der Transfer zur Notaufnahme des nächstgelegenen Krankenhauses veranlasst. Dort werden weitere diagnostische und therapeutische Maßnahmen ergriffen mit dem Ziel einer alsbaldigen Rückverlegung ins Pflegeheim. Wäre die lebensbedrohliche Situation infolge des Personalmangels im Pflegebereich noch längere Zeit unentdeckt geblieben, wäre unter Umständen nur mehr der inzwischen eingetretene Tod zu protokollieren gewesen. Einerseits hätte sich dadurch die zuständige Versicherung (nur hinter vorgehaltener Hand geflüstert) Einiges an Kosten erspart, ein dringend benötigter Platz wäre für den nächsten Pflegefall freigeworden, der Tod hätte von einem meist leidvollen, schier endlosen letzten Lebensweg erlöst. Andererseits ist nicht ausgeschlossen, dass sich nun Angehörige (oft diejenigen, die zuvor nicht durch aufopfernde Krankenbesuche aufgefallen waren) bemüßigt fühlen, Ärzten und Pflegepersonal mangelnde Sorgfalt und unterlassene Hilfestellung vorzuwerfen. Schlimmstenfalls wird für den prinzipiell „vermeidbaren“ Tod darüber hinaus Anspruch auf „Schadenersatz“ gefordert und zu dessen gerichtlicher Durchsetzung rechtskundiger Beistand in Anspruch genommen. Allein deshalb sehen sich Ärzt*innen weniger in der Pflicht und mehr in Bedrängnis, vor allen Dingen Leben zu verlängern, koste es was es wolle. Wird zudem Pflegepersonal gerichtlich belangt, dann ist das neben deren allerorten bereits unübersehbaren Überlastung und daraus resultierender Flucht aus dem Beruf ein weiterer Grund zu kündigen und damit den in letzter Zeit immer häufiger ausgerufenen Pflegenotstand erst recht zu verschlimmern. Es geht aber nicht nur um die Bedingungen der Altenpflege. Tritt eine vergleichbare Situation wie die oben geschilderte bei einer jüngeren Patientin oder einem jüngeren Patienten im Endstadium einer Leben-limitierenden Diagnose ein, geriert dies oft ein erheblich gravierenderes Ausmaß an Verzweiflung und Suche nach Schuldigen mit dem ganzen Rattenschwanz an oben geschilderten Unbilden. Alleine wegen der Interpendenz zwischen medizinischen Optionen am Lebensende und dem Pflegenotstand ist dringendst geboten, auf Ursachen der sich zuspitzenden Misere sowie auf Ansätze zu deren Lösung hinzuweisen. Die Botschaft dieses Buches beinhaltet einen Appell nicht nur an Medizinerkollegen und Pflegedienste, sondern auch an mit dem Sujet befasste Juristen und politische Entscheidungsträger. Auch „vordenkende“ Philosophen und Soziologinnen sind aufgerufen. Prinzipiell ist die gesamte Gesellschaft gefordert, einen Paradigmenwechsel weg von der Fokussierung auf Lebensdauer vorzunehmen. Würden wir die Todesangst von ihrem Platz als Angelpunkt sämtlicher Entscheidungen am Lebensende herunterholen, wäre dazu ein erster wesentlicher Schritt getan.

Abb. 1 Friedhof | © Foto: Gero Hohlbrugger

Zur Vertiefung der Problemlage ein weiteres Beispiel aus dem Alltag terminal Erkrankter: Auf die Frage eines betreuenden Arztes, ob er/sie weiter behandelt werden soll, oder lieber sterben würde, plädiert eine Mehrheit nicht nur jüngerer sondern auch unwiderruflich ans Krankenlager gefesselter älterer Patienten panisch-reflexiv für das Weiterleben. Wird dieselbe Frage an Angehörige oder Träger*innen der Vorsorgevollmacht gerichtet, sieht sich auch da eine Mehrheit außerstande, die Verantwortung für den etwas früher eintretenden Tod auf sich zu nehmen. Wie nicht wenige Träger*innen einer Vorsorgevollmacht reagieren manche Ärzt*innen mit der Situation völlig unangemessenem und daher unangebrachtem Übereifer oder aus Angst vor gerichtlichem Nachspiel. Es kann ja wirklich niemand ausschließen, ob nicht eine Wende zur Genesung unmittelbar bevor steht. Nach wenigen Praxisjahren sollte allerdings jeder Mediziner*in zuzutrauen sein zu erkennen, ab wann sich das Leben unwiderruflich dem Ende nähert. Im Lichte des panischen Fluchtreflexes der/des Betroffenen und der Ablehnung von Verantwortung der an sich zuständigen Obsorger können sich Leid und Schmerzen in der letzten Daseinsphase zu ungeahnter Gnadenlosigkeit steigern. Auf den Punkt gebracht geriert die Todesangst mithilfe der modernen Medizin Voraussetzungen für Leid und Unwürde, wovor man sich erst recht fürchten müsste. Wer jemals mit einer solchen Misere im engeren Kreis von Verwandten oder Freund*innen konfrontiert war, will ein derartiges Lebensende unter allen Umständen vermeiden. Es ist aber nicht auszuschließen, dass Todesangst – wenn es darauf ankommt – auch frömmste Schwüre überwältigt. Ob Patient*in und/oder Vorsorgebevollmächtigte mutig für den etwas früher eintretenden Tod entschieden hätten, wären sie von den betreuenden Ärzt*innen weniger suggestiv und etwas ausführlicher über die wahrscheinlich bevorstehende Misere informiert worden? Sie hätten mitgeholfen, ebendiese schlussendlich gar nicht zuzulassen. Die Idee einer grundsätzlich freien Gesellschaft sollte den freien Zugang zur Wahrheit als Entscheidungsgrundlage zum Auseinanderhalten von Befindlichkeit und Befund garantieren. Zumindest für diejenigen, die das wünschen.
Ganz still und heimlich mehrt sich allerdings bereits jetzt schon die Zahl derjenigen medizinischen Laien und Profis, die der puren Vernunft gehorchend oder aus Mitleid am Lebensende außer Schmerzbekämpfung ablehnen, dass bis zum terminalen Atemstillstand alle Register des medizinischen Armamentariums gezogen werden. Dieser Essay wurde verfasst, einerseits um all diesen stillen Helden unterstützend zu Seite zu stehen, andererseits um mitzuhelfen, den Kreis von deren potentiellen Nachahmern markant zu erweitern.

Die Gemengelage von bedrohenden Abgründen, nicht rechtzeitig gestellten Fragen, fehlenden Antworten, fehlendem Gott und fehlender Aussicht auf ein jenseitiges Paradies sorgt auch abseits des Krankenlagers, insbesondere in der öffentlichen Diskussion über Entscheidungen am Lebensende für gezielte Unschärfe. Es ist billig und recht zu behaupten, dank Palliativmedizin würde kaum jemand assistierten Suizid oder aktive Sterbehilfe in Erwägung ziehen. Auch deshalb wäre die strafrechtliche Freistellung der beiden abzulehnen. Wurde dabei jemals mitgeliefert, dass mangels Ressourcen Palliativmedizin bestenfalls für 20% der Sterbenden überhaupt in Frage kommt? Dabei handelt es sich vornehmlich um jüngere Krebspatienten und nicht um Sassen von Alten- und Pflegeheimen. Auch der katholischen Kirche gereicht die Ablehnung weder zu Ruhm noch zur Ehre, solange sie nicht eingesteht, zumindest in der Großstadt Wien nur mehr von ca. 30% der Sterbenden zum Trost in letzter Ölung und in Absolution von der Sündenlast gerufen zu werden.

1) Todesangst: Eine Annäherung an den Begriff

Egal ob Kalt- oder Warmblütler, Insekt oder Vogel, jedes Tier und so auch der Mensch setzt zu sofortiger Flucht an, wenn konkrete Lebensgefahr droht, bzw. wahrgenommen wird. Die spontane Reaktion erfordert prinzipiell keine Beteiligung eines abwägenden Grosshirns (Bewusstsein) und wird daher der Kategorie der Reflexe zugeordnet. Die unterschiedliche Vehemenz des Fluchtreflexes korreliert mit dem das Individuum prägenden Maß insbesondere an Gelassenheit, Aufmerksamkeit, Instinktvermögen, Mut, Vorsorge und Vertrauen. Beim Fluchtreflex handelt es sich um ein akutes Geschehen. Zu seiner Bändigung werden vor Antritt hochriskanter Sportarten, Unternehmungen oder Berufe bewährte Trainingsmethoden angeboten. Es gilt, psychische oder physische Belastungen auszublenden, um sich gänzlich auf den Kern des Vorhabens zu konzentrieren. Nicht selten werden zudem enthemmende Drogen verabreicht.

Die Angst von jüngeren Betroffenen vor dem unerwartet urplötzlich eintretenden Tod wird mit ihm aus ihrem Leben gerissen. Sie ist ebenfalls reflexiver Natur. Ob hier jemals Vorschläge zur Linderung angedacht wurden entzog sich der Recherche. Obwohl bedauerlicherweise auf ein dankbar bejahendes Resümieren, auf ein tröstendes Verabschieden von Nahverwandten und Freunden sowie auf relativierendes Versöhnen mit unerfreulicheren Episoden des Lebens verzichtet werden muss, wird diese Form des Lebensendes wegen der Ersparnis eines länger dauernden Krankenlagers mit möglicherweise unangenehmen Begleiterscheinungen von einer satten Mehrheit insgeheim oder offen bevorzugt. Tötung auf Verlangen vollzogen von der Natur, von einer noch höheren Instanz oder wegen seiner Allmacht gar von dem einen Gott? Eine absurde weil nicht realisierbare Idee.

Die nicht mehr zu leugnende Bedrohung unserer planetarischen Existenz durch die Klimakrise mit ihren Hitzerekorden, Dürren, Polschmelzen, Unwetterkapriolen, und Übervölkerung schürt kollektive Endzeitstimmung bzw. Todesangst von chronischem Charakter. Obwohl sich die Krise schon jetzt unaufhaltsam zur Katastrophe auswächst, erscheint die Verknappung von Trinkwasser und Nahrungsmitteln, die den sozialen Frieden endgültig zur Disposition stellen dürfte, noch immer nicht nahe genug. Anders ist nicht zu erklären, dass trotz allgemeiner Einsicht in die Notwendigkeit einer Abkehr von Konsum-orientierter Lebensweise, das „System“ sich unverändert als ein sich immer schneller drehender Kreisel des jetzt schon weit überstrapazierten Wirtschaftswachstums geriert. Berechtigte Furcht vor Bürgerkrieg infolge Mängel wie Hunger oder sonstiger Verknappung sowie terrestrische und humane Ressourcen rücksichtslos ausbeutende, kapitalistische Profitgier lassen die Bodenschätze in immer entlegeneren Gegenden plündern, den Regenwald abfackeln zugunsten von Schlachtviehfutter- und Palmölplantagen oder Flussverläufe stauen und umleiten zwecks Energiegewinnung oder Anbaubewässerung von Luxusnahrung wie Avocados, Mangos oder Mandeln. Ungezügelte Bodenversiegelung zuungunsten landwirtschaftlicher Anbauflächen wird bereits in absehbarer Zeit auch bei uns fatale Konsequenzen bezgl. der Lebensmittelbeschaffung nach sich gezogen haben.

Die um sich greifende Todesangst als Endzeitstimmung wird nach wie vor erfolgreich mittels klein- oder abredender Bewusstseinslage und anhaltendem Verlangen nach egomanischer Genussmaximierung verdrängt. Ansonsten hätten Energie-hungrige, freie Mobilität sowie Wegwerfkultur und Plastik einschränkende, mehr vegetarische Schonkost propagierende und sozialen Ausgleich fordernde Wahlprogramme schon längst entschieden durchschlagendere Erfolge feiern dürfen. Man halte sich vor Augen: Unter dem Eindruck der Appelle des Club of Rome hat der Deutsche Bundeskanzler Willy Brandt bereits 1972 vehementest Umweltschutz vorgeschlagen. Gegen den massiven Widerstand der Industrie samt nachgereihten Profiteuren des Wirtschaftswachstums war leider kein Kraut gewachsen. Jetzt sieht es bei aller Hoffnung auf Natur-schonende, innovative Technologien, insgesamt danach aus, als würde wie bisher weiterhin eher Schlechtgewissen beruhigendes Greenwashing betrieben. Von einer ökologischen Aufbruchstimmung der Allgemeinheit kann bislang keine Rede sein. Inwieweit es für Regeln, nachhaltige Anreize aber auch für Verbote bereits zu spät ist, lässt sich derweil nur spekulieren. Es ist und bleibt weiterhin nicht nur die Gesellschaft sondern jeder einzelne für den Zustand unserer Mutter Erde verantwortlich.

Die Todesangst infolge lebensbedrohender Krankheit des Individuums birgt Facetten des Fluchtreflexes: Primär wird nach Fluchtwegen Ausschau gehalten und werden diese auch eingeschlagen, um dem Fortschreiten selbst der unaufhaltsamsten Diagnose zu enteilen. Entsprechend der schleichenden Zunahme körperlicher Gebrechen und Defiziten der Hirnleistung sinkt die Vehemenz dieses Fluchtreflexes entlang des Älterwerdens. Ansonsten hat die Angst vor dem Lebensende im Wesentlichen vergleichbar lavierenden Charakter wie die kollektive angesichts der Klimakrise. Ein nicht enden wollendes Schwanken zwischen der Befürchtung, ein letzter Weg gepflastert mit unerträglichen Schmerzen stehe bevor, begleitet von schauerlichen Blicken in die Abgründe der auslöschenden Endlichkeit, von zermürbenden (Selbst-) Bezichtigungen der Verschuldensfrage, und von Phasen voller Zuversicht auf Heilung. Von ähnlichen Ups und Downs dürften auch die Gegner bzw. Verweigerer der Covidimpfung trotz deren fast martialischen Widerstands befallen sein. Ein Vogel-Strauß-Gehabe des auch ohne Herdenimmunität Nicht-infiziert-werden-könnens versus Angst vor Infektion und Impfkomplikation. In einer Gesellschaft ohne Gott bzw. ohne Glauben an oder Vorfreude auf ein friedvolles Jenseits findet dieser Zustand häufig erst mit dem restlosen Erlöschen allen individuellen Lebendigseins erfüllende Erlösung. Bereits 1969 schrieb die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross „die Welt wäre friedlicher, wenn Menschen endlich aufhören würden, ihre eigene Sterblichkeit zu verdrängen und den Tod zu fürchten“. Sich mit dem (eigenen) Sterben zu beschäftigen, sollte demnach helfen, die Todesangst zu lindern. Im Vergnügungspark der westlichen Leitkultur ist die „ars moriendi“ (= Kunst zu sterben) weil vermeintliche Spaßbremse leider zum Tabu verblasst. Ist angesichts von 80 plus wirklich absurd, sich dankbar der bunten Vielfalt von Freude, Verdruss, Erfolg und Versagen zu erinnern anstatt deren unaufhörliche Fortsetzung zu fordern?

2) Stirb und werde (J.W. Goethe)

Dieses „stirb und werde“ aus Goethes Gedicht „Selige Sehnsucht“ gilt einem Schmetterling, der sich einer lodernden Flamme näherte und sich darin verlor. Was wohl mit dem „werde“ gemeint war, darüber rätselt die Fangemeinde noch immer. Vielleicht wurde rein intuitiv heutiges Wissen der Zellbiologie antizipiert. Das besagt, dass der menschliche Organismus aus unzählig vielen kleinsten Zellen besteht, die der Reihe nach absterben (Apoptose) und sich andererseits durch Zellteilung erneuern (Regeneration) und vermehren. Bei wohliger Gesundheit befinden sich Apoptose und Regeneration im Gleichgewicht (Homöostase). Genau genommen besagt das aber auch, dass wir bei einem erneuten Treffen mit einem anderen Menschen eigentlich zumindest auf zellulärer, schwer wahrnehmbarer Ebene seiner Kopie begegnen. Das Sterben und Werden ist demnach von Geburt an menschliche Alltagstatsache, die nur nicht als solche akzeptiert werden will. Mit zunehmender Lebensdauer klappt das kopieren immer weniger perfekt. Das ist jedem alternden Gesicht abzulesen. Nach einer Verletzung leistet die Zellregeneration Akkordarbeit ohne zu entarten. Tritt diese Akkordarbeit ganz spontan ein, entsteht – nachdem sich die einzelnen Zellen dem geregelten „stirb und werde“ entzogen haben – eine Krebserkrankung. Wie ein dezenter Fingerzeig deutet das Altern das Ziel des Lebens an: Das alle und jeden unweigerlich betreffende Lebensende. Trotzdem wurden sogar einige namhafte Philosophen und Schriftsteller (u.a. Elias Canetti, Jean Paul Sartre) nicht müde, das Sterben als Zumutung, Beleidigung oder Kränkung von sich und am liebsten in die Schranken zu weisen. Nicht wenige von denen kämpften dagegen bis zum letzten Atemzug. Weil dieser Kampf nicht gewonnen werden kann, ergibt sich eine überwältigende Mehrheit besser früher als später, um sich in aller Besonnenheit und Demut dem Unausweichlichen hinzuwenden. Die Frage, ob dazu untrüglicher Instinkt, pure Vernunft oder beides veranlasst haben, wird wohl nie eindeutig geklärt werden können.

Dem Mikrokosmos der Zellbiologie nicht unähnlich interagieren und kommunizieren wir Menschen untereinander. Zu den essentiellen humanen Begriffspaaren wie Sieg und Niederlage, Erfolg und Versagen, Liebe und Hass, Krieg und Frieden, Gewinn und Verlust, Kultur und Barbarei gehören selbstverständlich Leben und Tod. Erst der Tod schafft Platz für Neues, nach dem wir gieren. Schlecht beraten, wer die Ungewissheit des nächsten Tages nicht hinnehmen will und sich selbst peu a peu als Denkmal plant. Es lebt sich wesentlich leichter, jeden einzelnen Tag dankbar zu reflektieren als jeden Tag Anspruch auf einen neuen zu erheben. Folglich darf der Tod nebenan Platz nehmen, sein prinzipiell freundliches Wesen vorstellen bis sich unsere Angst vor ihm im Vertrautsein verflüchtigt haben wird.

Totentanz Lübeck | © Foto: wikimedia commons

3) Eigene Erfahrungen als Denkanstöße

Noch immer erinnere ich mich gerne an den Beginn meiner Ausbildung zum Facharzt für Urologie als Turnusarzt auf der Abteilung für Chirurgie im Krankenhaus Bregenz. Deren Leithammel bzw. Chef demonstrierte tagtäglich begnadete chirurgische Exzellenz, ein gedeihliches Betriebsklima garantierte ein nahezu reibungsloses Miteinander von nachgeordneter Ärzteschaft und Pflegepersonal, und das in für heutige Verhältnisse geradezu erbärmlichem Gemäuer mit mindestens ebenso erbärmlicher apparativer Ausstattung. Albert Schweitzers „Lambarene“ ließ grüßen. Da der Umzug in einen Neubau bevorstand, wurde schon Jahre fast nichts mehr erneuert bzw. investiert. Lagen während eines Nachtdienstes untrügliche Indizien für ein alsbaldiges Ableben eines Patienten oder einer Patientin vor, war der Chef zu verständigen. Der wiederum stellte in der Regel nur vier Fragen: 1. hat er/sie Schmerzen?, 2. liegt er/sie „schön“ (und nicht abgeschoben bzw. separiert in einem Kammerl)?, 3. sind die Angehörigen verständigt?, 4. war der Pfarrer da? Eine solche Gelassenheit im Umgang mit „Sterben und Tod“ ohne Imperativ zur Vorbereitung von Maßnahmen zum Weiterleben ist für heutige Generationen kaum nachzuvollziehen. Heute gilt allein die Verpflichtung: Jedes Leben muss erhalten bleiben, koste es was es wolle. Diesem auch von der katholischen Kirche unterstützten Grundsatz ist unbedingt und ohne Infrage-stellen von Sinn und Nutzen Folge zu leisten. Es wird höchste Zeit, über die Diskussion von Unsinn und Schaden solchen Gebarens alternative Zielsetzungen für das Lebensende ins Auge zu fassen. Nach Hannah Arendt hat niemand das Recht zu gehorchen. Dementsprechend ist öfter zu bedenken, ob wir dürfen, was wir können, bzw. ob das technisch Machbare unbedingt in die Tat umgesetzt werden muss. Das bezieht sich nicht nur auf Weltraumausflüge für Milliardäre oder sonstige Eskapaden des technischen Fortschritts, sondern ebenso auf die Errungenschaften der modernen Medizin. Bleibt alles wie gehabt, wird Verknappung personeller Ressourcen im Pflegebereich immer öfter „Therapieabbruch“ erzwingen. Warum nicht jetzt schon den Aufbruch zu Beschränkung und Begrenzung wagen? Muss dazu der unausweichlich auf uns zukommende Entscheidungsdruck erst ins schwer Erträgliche angewachsen sein?

Die Anregung, mich mit „Todesangst und Sterben“ konkreter auseinander zu setzen, erfuhr ich während meines sechsmonatigen Assistenzdienstes auf der Nephrologischen Klinik in München/Harlaching. Auf deren Intensivstation war ein soeben eingelieferter ca. 80-jähriger Mann mit terminaler Herzdiagnose allem Anschein nach bereit, friedlich, ruhig und versöhnt seinem Lebensende entgegen zu dämmern. Trotzdem (oder gerade deshalb) wurde er an allerhand bedrohlich beeindruckende Überwachungsgeräte angeschlossen, die in der folgenden Nacht den Eintritt des Herzstillstandes akkurat und vehementest dem Dienstpersonal meldeten. Nur wenige Minuten später wurde mit der Reanimation samt den üblichen Begleitmaßnahmen begonnen. Die Bemühungen waren innert kürzester Zeit, noch vor infolge Sauerstoffmangels Hirnschädigungen zu befürchten gewesen wären, erfolgreich, und der Mann kehrte ins „Leben“ zurück. Sobald ihm gewahr wurde, wie ihm geschehen, protestierte er dagegen mit unüberhörbar urbayrischer Kraft. Er verfluchte das gesamte betreuende Personal, weil die sich erdreistet hatten, ohne sein Einverständnis sein Sterben hintanzuhalten. Die unzweideutige Szene weckte in mir ein undefinierbares Unbehagen. War soeben ein wesentlicher Aspekt ärztlichen Wirkens aus dem Ruder gelaufen? Ist der Tod in der Tat der größte Feind, dem mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln Paroli geboten werden muss? Kann es sein, dass nur dann das Vertrauensverhältnis von Patienten zum Arzt unerschütterlich erhalten bleibt? Der unglückliche Mann starb wenige Tage darauf. Diese Erfahrung würde ich nicht erst heute als Multiplikator von Todesangst brandmarken.

Mein damaliges Unbehagen im Kontext von Sterben und moderner Medizin konkretisierte sich wenige Wochen später im Missionsspital Bulongwa/Tansania durch das blanke Gegenteil von der auf den letzten Stand des technischen Fortschritts getunten Intensivstation, auf der eigentlich nicht gestorben werden durfte. Als Urlaubsvertreter des dort praktizierenden Arztes konnte ich begleitend miterleben, wie sich ein ebenfalls älterer Mann, umsorgt von seinen nächsten Angehörigen, absolut unaufgeregt, aber umso zielsicherer, seinem Lebensende näherte. Zuvor hatten die ihn mangels befahrbarer Straßen unzählige Kilometer auf einer Bahre zum Spital getragen. Im Freien vor dem Eingang wurden für alle Beteiligten, den Sterbenden inklusive, Mahlzeiten auf offenem Feuer zubereitet. Die Nacht verbrachten sie eng an eng im selben Raum. Infolge kleindosiert genossener alkoholischer „Banana-Mama“ gedieh eine freudsame Stimmung, von vorweggenommen tränenreich traurigem Verabschieden konnte keine Rede sein. Zufälligerweise in meinem unmittelbaren Beisein lehnte der behutsam „Hinüberbegleitete“ urplötzlich seinen Kopf zur Seite, die Angehörigen verstanden das Zeichen und feierten seinen Abgang zum „Fluss ohne Ufer“ nicht ohne Hoffnung, ihn dort dereinst wieder in ihre Arme schließen zu können. Welch ein Sterben, als zählte es ohne jeden Zweifel zum Leben, nicht als sein Ende, sondern vielmehr als seine Erfüllung! Wurde bei uns vor dem Triumphzug der glorreich modernen westlichen Medizin zumindest auf dem Land nicht eher wie in Bulongwa/Tansania gestorben? Die Moribunden wurden liebevoll in die neben dem Eingang befindliche Stube gebettet. In der Folge verabschiedete sich das ganze Dorf mitsamt der Jugend. Ist nicht geradezu tragisch, dass sich unsere Gesellschaft diese Rituale nicht mehr zutraut? Vor solch einem Sterben in gewohnter Umgebung und fern von jeder Vereinsamung bräuchte man sich wirklich nicht zu fürchten. Das anteilsame Landleben einer Dorfgemeinschaft mit auf staubiger Durchfahrtstrasse spielenden Kindern und tratschenden Nachbarn wurde längst schon vom Individualverkehr unter den dafür gewalzten Asphalt gerieben.

Circa 30 Jahre später durfte ich nach einer eher banalen Darm-OP infolge eines akut lebensbedrohlichen Narkoseproblems eine Intensivstation aus einer für mich ungewöhnlichen, Ärzten und Pflegepersonal entgegensehenden Weise, kennenlernen. Geradezu spannend gestaltete sich der medizinisch als Primärmaßnahme indizierte Tiefschlaf mit seinen im Traum als Nonstoppkino gespielten Themen: Künstlerische Gestaltung eines Förderbandes als Collage mit allerlei Ölfarben und Feststoffen wie z.B. Reiskörner oder Strohhalmen; mein Dienstantritt als Lenins Sekretär während eines Halts in Bregenz auf seiner Reise von Zürich zum Finnlandbahnhof in St. Petersburg. Der eigentliche Zug mit dem für Lenin verplombten Waggon verließ die Schweiz über Basel. Den Soundtrack besorgten Prokofiew und Schostakowitsch wie in den typischen Propagandafilmen für den „Neuen Menschen“; komplettiert wurde diese kurzweilige Unterhaltung von einem nur Furcht und Grauen gebietenden Set: In düsterer Stimmung ertönte ein Tonus Diabolus (reduzierte bzw. kleine Quint) aus kontrabassigen Orgelpfeifen, eine mindestens so teuflisch anmutende Männerheulstimme begleitend, die sich anschickte, mir katholische Schuld einbläuendes „dies irae, dies illae“ aus der Apokalypse des Evangeliums nach Johannes in Mark und Bein zu jagen. Beim Tonus Diabolus handelt es sich um ein klassisches Stilmittel zur Intensivierung des Horrors im Film. Ein von mir sehr geschätzter Freund beteuerte mir, meinen Schrecken mit der Apokalypse verdankte ich meiner katholischen Punzierung. Ihm als taffem Agnostiker qua Familien-tradierter Erziehung wäre das sicher erspart geblieben. Zum Glück im Unglück war ich wundersamer Weise imstande, jede Vorführung auf „off“ zu schalten, sobald die Zumutungen unerträglich wurden. Immerhin, dieses sonderbare Programm hat sich unauslöschlich in mein Langzeitgedächtnis eingegraben, und kann von dort noch immer jederzeit mühelos abgerufen werden. Als eigentliche springende Punkte aus dem ganzen Drama filtriere ich zwei Umstände: 1. Dass ich, obwohl mitunter auf Tunnelwanderung, nicht ein einziges Mal einen helllichtenen Horizont (Elisabeth Kübler-Ross) als geradezu magisch auftauchendes Jenseits vor „Augen“ hatte; und 2. dass die Filmszenerien aus der Intensivstation anlässlich eines morgendlichen Aufwachens Monate später und offensichtlich fern von irgendwelchem Nahtod sich absolut unverändert darboten. Wenn ich zudem bedenke, dass mir auf der Intensivstation eine ganze Reihe von halluzinogenen Schmerz- und Beruhigungsmitteln verabreicht wurden, dann ernüchtern meine sogenannten Nahtoderlebnisse von Indikatoren auf ein Jenseits zu kurzweilig simplen psychodelischen Trips. Oder war ich nur dem Tod nicht nahe genug? Wie auch im-mer, mein Glaube – sofern noch vorhanden – an belohnende Himmelfahrt, an ewig strafende Höllenpein, Fegefeuer oder alternativ an Reinkarnation und Seelenwanderung wurde einer strapazierenden Belastungsprobe unterzogen. Vielleicht stimmt die Annahme eines postmortalen, definitiven und absoluten Verglühens meiner Lebensenergie, von der nur mehr die Erinnerung in den „Dagebliebenen“ übrig bleibt. Muss ich mich mit dieser tristen bis erfreulichen Aussicht langsam aber sicher, wohl oder übel anfreunden? Das allmähliche Versiegen der Erinnerung an Verstorbene können Einträge in Geschichtsbücher bzw. Annalen, Denkmäler oder Grabmonumente vielleicht verzögern letztendlich aber nicht aufhalten. Nach einer gewissen Zeit ohne Instandhaltung werden auch die mächtigsten von der Natur beerdigt (Abb. 1). 13 Jahre nach meinem Intermezzo auf der Intensivstation bin ich froh, dort meinen Erfahrungshorizont als Arzt wesentlich erweitert zu haben. Dank unermüdlich liebevoll professionell aufopfernder Pflege und Betreuung kam ich heil heraus und bis auf ein paar Narben sind bis heute keinerlei Spätschäden zu bemerken (oder doch?). Auf eine neuerliche Einweisung dorthin wollte ich dennoch lieber verzichten. Wiederholt wurde mir, dem relativ jungen Patienten wie ich damals einer war, versichert, wie Motivation- und Sinn-stiftend für das Pflegepersonal die Arbeit an mir war. Es bestand berechtigter Anlass zur Hoffnung, dass ich nach einer gewissen Zeit der Rekonvaleszenz ins „Leben“ zurückkehren würde. Angeblich waren die übrigen „Angekabelten“ bereits zum wiederholten Mal aufgenommen oder bald nach der Aufnahme an unheilbarer Multimorbidität verstorben. Hinter vorgehaltener Hand wurde geflüstert, dass im Falle einer in der Nähe stattgehabten Katastrophe, die Intensivstation mit der Ausnahme von mir zugunsten hoffnungsvollerer Fälle „geräumt“ worden wäre. Also schon damals insgeheim Bereitschaft zur Triage im wahrsten Sinn des Wortes? Angesichts der Covid-Katastrophe haben Bedenken und Hemmungen bzgl. Triage der Not gehorchend merklich nachgelassen.

Leben und Sterben in Braunschweig 1986  | © Foto: Wikimedia commons

4) Lindert die christliche Botschaft Todesangst noch immer?

Das Christentum erhob den Kreuzestod des Gottessohnes (implizit seiner vorherigen Todesangst) mit der Auferstehung von den Toten (Überwindung des Todes) zur Frohbotschaft (Abb. 2) bzw. zum Kristallisationskern des Neuen Testaments. Für sämtliche gläubige Nachfolgerinnen und Nachfolger wurde dadurch der Weg in das immerwährend selige Himmelreich geebnet. Das Erreichen dieses Ziels, so wurde den Erb-, Tod-, und sonstigen Sündern gepredigt, würde durch Verzicht auf Lebensfreuden, durch Bußrituale, und Opfergaben an die kirchliche Obrigkeit zusätzlich gefördert. Das Hintanstellens von Selbstsucht sowie das Verschenken hingebungsvoller Liebe unterlag der jeweiligen vatikanischen Großwetterlage. Ob bedauernswert oder nicht, ein stetig zunehmender Anteil aus den Kernländern des Christentums wähnt sich außerstande zu glauben, beim jüngsten Gericht entweder sofort oder erst nach reinigendem Fegefeuer belohnt zu werden. Davor blieb den unverbesserlich Reuelosen sowie den Ungläubigen als einzig perspektivische Option (der Heilverkünder) ewige Höllenpein. Für die war Belohnung ohnehin nie Thema, und nur ein verschwindend geringer Anteil ist vor lauter Angst vor der ewigen Höllenpein noch kurz vor dem Tode „zu Kreuze gekrochen“. Es scheint, als hätten Zweifel am Vollzug von Froh- und Drohbotschaft bereits Teile des Klerus samt dessen assoziierten zivilen Bruderschaften wie „Opus Dei“ oder „Ritter zum Heiligen Grab“ mitinfiziert. Die Annahme beruht auf eigenen wiederholten Beobachtungen, auf einem offenherzig eingestehenden Statement eines Salzburger Erzordensoberen im Fernsehen und auf einem deutlich vernehmbaren Raunen aus nicht zwingend kirchenskeptischen Kreisen meiner Kollegenschaft. Hat sich das tägliche Bekennen von „ich glaube an den einen Gott“ (Credo) aus vollmundiger Kehle auf schmale Lippe zurückgezogen? Nach meinem Dafürhalten handelt es sich bei dem Phänomen um ein Novum. Während meiner Schulzeit als Zögling des Internats in Bregenz/Mehrerau keimte in mir nicht der geringste Verdacht, die dortigen Patres oder Laienbrüder würden sich mit dem Sterben besonders schwertun. Den hinter der Klosterkirche gelegenen Friedhof besuche ich noch heute mit dankbar bewunderndem Staunen. In gleichförmig schlichte Holzkreuze sind nur P für Pater oder Br für Laienbruder, (der für den Ordenseintritt gewählte) Vor- und der Familienname ohne akademischer oder sonstiger Titel, Geburts- und Todesjahr eingebrannt. Die Reihung folgt dem Zeitpunkt des Todeseintritts und nicht irgendwelchen Hierarchien von Macht und Ansehen. Ist das nicht eine herzerfrischend beispielhafte Demonstration gegen die Eitelkeit insbesondere für zukünftige Kandidaten des dortigen Ruhestands? Kann nicht auch sonst früh genug geübt werden, sich in irgendeiner Form gegen die bevorstehende Kränkung der Eitelkeit durch das unwiderrufliche körperliche Erlöschen zu wappnen und somit einen wesentlichen Aspekt der Todesangst zu beseitigen?

Schon infolge des erheblich zunehmenden Priesternachwuchsmangels dürfte die Ära eines mächtigen, mitunter staatstragenden, aber auch lebendigen Christentums unaufhaltsam ihrem Ende zustreben. Inwieweit dazu die „Aufklärung“ allein (Rubrik Nr. 5), die innerkirchlichen Skandale wie sexueller Missbrauch an anvertrauten Schülern oder das starre Festhalten an Positionen zum Zölibat, zur Frauenordination in kirchliche Ämter, und zur Ökumene beitragen, wird immer noch kontrovers diskutiert. Heute fehlen vor allen Dingen die Mütter, die Religiosität den Kindern weiterreichen. Über die nicht gerade schmeichelhaften, inzwischen nur mehr in den Geschichtsbüchern aufgelisteten Schattenseiten kirchlichen Machtanspruchs ist längst Gras gewachsen. Die heutige Jugend kennt Hexen-verbrennende Scheiterhaufen, Glaubenskriege, Exorzismus (Teufelsaustreibung), Exkommunikation (Ausschluss von den Sakramenten), Indexierung „verbotener“ Literatur etc. nur mehr von weit entferntem Hörensagen. Es ist zu früh, um wie beim Eintritt in Dantes „Inferno“, alle Hoffnung fahren zu lassen. Ein Bruch mit der Unkultur des sämtliche Spuren Verwischens, Vertuschens und Verschleierns von Missständen bahnt sich an: Kürzlich wurde ein Mammutprozess im Vatikan eröffnet. Dabei geht es um die Veruntreuung von 350 Millionen Euro aus dem Hilfsfond für die Ärmsten der Armen, um damit den Erwerb einer Luxusimmobilie im Londoner Nobelviertel Chelsea zu finanzieren. Nur schonungsloses Offenlegen der Fakten und beharrliches Ringen um Wahrheit wird den verfahrenen Karren der Kirche aus dem Sumpf ziehen. Ob die Bereitschaft anhält, die festgezurrten Vatikanischen Strukturen aufzubrechen, wird man sehen. Hinsichtlich noch im Kurzzeitgedächtnis haftender Berichte über tausende ausgegrabene Skelette von Indianerkindern in Kanada, die wahrscheinlich erfolglosen Bekehrversuchen zum Opfer gefallen sind, hat sich lange Zeit keine einzige Stimme aus der Kirche entschuldigend oder um Verzeihung bittend zu Wort gemeldet. Erst im Zuge seiner geplanten Reise nach Kanada wird Papst Franziskus das nachholen.

Getragen vom Konzept des Leib-Seele-Dualismus (René Descartes, 1596-1650; copyright Platon!) verfällt nach dem Tod nur die Leiche, aus der die „Seele“, in welchem Aggregatzustand auch immer, ins belohnende Jenseits oder zur Höllenfahrt entweichen konnte. Mit der tröstlichen Prophezeiung einer Folgeexistenz, die sich zu den bereits im Himmel Weilenden gesellt und auch mit Übergangsritualen hat sich die Kirche unbestreitbare Verdienste zumindest für diejenigen guten Willens zur Überwindung der Todesangst erworben. Doch auf dieser Schiene fährt bis auf absehbare Zeit kein massentauglicher Zug mehr in die Zukunft. Im Gegensatz zur nach wie vor kirchentreueren Landbevölkerung, wollen in der Großstadt Wien z.B. angeblich nur mehr ca. 30% der Sterbenden sakramentalen Beistand in Anspruch nehmen. Bedingt durch das personelle Ausdünnen der Priesterschaft fällt dem einzelnen Priester eine immer grösser werdende Anzahl an Beerdigungen zu. Zwangsläufig sind bereits vor dem Tod geknüpfte persönliche Beziehungen zu den Einzusegnenden bzw. zu deren Familien längst schon Rarität geworden. Dementsprechend verflachen die priesterlichen Nachrufe am Grabe oft zur unbefriedigenden, weil herzlos verwechselbaren Routine. In restloser Verzweiflung und in Erwartung einer „Wunderheilung“ werden vereinzelt weder Kosten noch Mühen gescheut, eine beschwerliche Reise zu einem verheißungsvollen Wallfahrtsort anzutreten. Laut Überlieferung von glaubhaft verlässlichen Zeugen widerfuhr einer meiner mutterseitigen Tanten eine solche „Wunderheilung“. Noch lebend war sie vor dem Sanatoriumskirchenaltar aufgebahrt und ihre Angehörigen waren dabei, sie (wie die Angehörigen im Spital von Bulongwa/Tansania; Rubrik Nr. 3) betend „hinüber“ zu geleiten. Urplötzlich sprang sie von der Bahre und rannte, nur in ihr weißes Sterbegewand gehüllt, schreiend zurück in ihr Krankenzimmer. Nur wenige Jahre später erlag sie trotzdem ihrer Tuberkulose. Bisher hat noch keine einzige Wunderheilung den Tod definitiv überwinden können. Nachdem die Fürbitten um meine Tante, speziell an den Bruder Konrad von Altötting gerichtet waren, trug ihre „Wunderheilung“ sehr wesentlich zu dessen Heiligsprechung durch die Vatikanischen Gremien bei.

Bzgl. Lebensende und Religion hat uns Peter Strasser eine plausible Conclusio geschenkt: Es gibt einen ur-religiösen Impuls, der vom schlichtesten Staunen über die Lebensfügung bis in die höchsten scholastischen Spekulationen zum „ewigen Leben“ reicht. Dieser Impuls äußert sich in der letztmöglichen Kapitulation der Eitelkeit, im Staunen vor dem Wunder des Daseins, nicht in abstracto, sondern in der ganzen Fülle des Weltseins. In dem Moment, da man sein eigenes Leben als einen Ausdruck des Lichts, welches die Finsternis nicht erfassen kann, zu erahnen beginnt – in einem solchen Moment gilt, dass man sich dem Göttlichen, Absoluten, Zeitlosen, das alles fügt, überlässt. Es ist die kleinmenschliche Übereignung seiner selbst, die in dem Wort des sterbenden Jesus am Kreuz widerhallt: „Vater, in Deine Hände lege ich meinen Geist“ (Lukas 23,46).

Letzte Änderung: 18.11.2023  |  Erstellt am: 18.11.2023

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