Kompromiss und Radikalität

Kompromiss und Radikalität

Haltung und Praxis im politischen Alltag

Unbedingte Forderungen passen nicht so recht zu den Bedingungen des Verhandelns. Was nicht verhandelbar ist, erlaubt auch keine kompromittierende Kompromisse. Wie soll man also unter diesen Umständen mit anderen einig werden? Klaus West, der in der Wissenschaft und der Gewerkschaft Erfahrungen hat, sucht radikale Politik im Sachkompromiss.

Kompromiss bedeutet Vereinbarung. „Das lateinische compromissum (von compromittere, versprechen) meint im römischen Zivilprozeß zunächst die Vereinbarung zweier oder mehrerer streitender Parteien, sich dem Spruch eines selbstgewählten Schiedsrichters zu unterwerfen. Später bezeichnet es die schiedsrichterliche Entscheidung selbst.“, heißt es im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“.

Es gibt zwei ausgeprägte Haltungen, Kompromisse abzulehnen, wegen Mangels an Kompromisswürdigkeit und wegen Mangels an Radikalität. Und dann ist da noch der faule Kompromiss.

Ablehnung I: Mangelnde Kompromisswürdigkeit

Der einen Ablehnungsvariante bin ich vor gut zwei Jahrzehnten auf einem wirtschaftspolitischen Kongress in Darmstadt begegnet. Die Geschichte hatte mit einer individuellen Abholung vom Bahnhof mit einem Fahrzeug eines großen bayerischen Unternehmens angefangen, das der Autokonzern den Veranstaltern gestellt hatte. Spätestens während einer Plenarveranstaltung war klar gewesen, dass ich als Vertreter des DGB dort kein Heimspiel hatte. In Erinnerung blieb mir vor allem die Begegnung während eines Come Togethers am Abend, als zu fortgeschrittener Stunde ein junger Mann um die zwanzig, der vielleicht im dritten oder vierten Semester BWL studierte, mit einer gewissen Aufdringlichkeit auf mich einredete: über die Vorzüge der freien Marktwirtschaft und über die Inkompetenz von Gewerkschaften.

Mich hatte die Hybris dieses Studierenden einer Institution mit Führungsanspruch, von der man Mäßigung, Besonnenheit und Selbstbeherrschung erwarten durfte, frappiert. Ich war verwundert, wie der sich stärker und mächtiger Wähnende einen in seinen Augen Schwächeren behandelte – auf der Basis eines Kompetenzgefühls, das ihm durch die bloße institutionelle Zugehörigkeit zur Wissenschaft zuwuchs. Diese eine Karriere versprechende „obrigkeitliche“ Ausbildungseinrichtung schien ihm eine „machtgeschützte Innerlichkeit“ (Thomas Mann) zu verleihen.

Das Beispiel handelt von einer Mentalität, die Kompromisse zwischen Unternehmen und Gewerkschaften für überflüssig hält. Sie strebt Kompromisse, im Bewusstsein ihrer Überlegenheit, nur taktisch an. Etwa wenn der Gesetzgeber dies erzwingt, wenn es nicht anders geht oder wenn man die andere Partei übers Ohr hauen kann. Diese Lebenseinstellung erkennt Vereinbarungen als Form des gesellschaftlichen Interessenausgleichs nicht an, weil Gewerkschaften und Betriebsräte nicht als kompromisswürdig gelten. Folglich verschweigt die stärkere Partei, wenn sie einmal vorübergehend einen schwachen Moment hat, Kompromisse. Sie verletzen ihren Anspruch auf Führung und liegen unter ihrer Würde.

Kompromisse sind Ergebnisse von Verhandlungen, die zu Kooperation führen sollen.

„Wer nun die andere Seite als Verhandlungspartner akzeptiert, der erkennt an, dass die andere Seite der Kooperation würdig ist. Wenn ich mit Ihnen kooperiere, bin ich verpflichtet, nicht nur meinen eigenen Anteil, sondern beider Anteile zu vergrößern. Natürlich bin ich weiterhin an meinem Anteil interessiert, doch Kooperation bedeutet die Anerkennung der Tatsache, dass ich meinen Anteil nicht vergrößern kann, ohne gleichzeitig auch Ihren Anteil zu vergrößern. Wenn ich mich nach einem erbittert geführten Konflikt zur Kooperation entschließe, gebe ich etwas von meiner Streitlust auf, etwas von meinem Bemühen, Ihren Anteil zu schmälern. Das heißt jedoch nicht notwendig, dass ich es aufgebe, mit Ihnen zu konkurrieren, und versuche, den Unterschied zwischen Ihrem und meinem Anteil zu vergrößern.“ (Avishai Margalit)

Ablehnung II: Mangelnde Radikalität

Nicht weniger grundsätzlich werden Kompromisse abgelehnt, weil es ihnen an Radikalität mangelt.

Ich bin dieser Einstellung im Sommer des Jahres 1974 begegnet, und zwar während einer Fahrt in einem VW-Bus nach Prag. Ich war Teil einer Mini-Reisegruppe, und der Leiter, der zugleich der Fahrer des Busses war, hatte im Kassettenrekorder immer wieder Songs linker deutscher Liedermacher gespielt: „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“, „Wenn der Senator erzählt“, aber auch ein Arrangement von „Das Lied vom Kompromiß“ mit dem Text Kurt Tucholskys aus dem Jahr 1919. Insbesondere den Refrain „Schließen wir nen kleinen Kompromiß!“ hatte der Künstler in einem abwertenden Tonfall gesungen. Es war klar: Vom Klassenstandpunkt aus konnte der Kompromiss nur verräterisch sein.

Der radikale Standpunkt nahm Partei für die Seite der Arbeit im Verhältnis zum Kapital. Die so markierte Radikalität erschien alternativlos, wenn man den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit zugunsten der Arbeiterklasse auflösen wollte. In Tucholskys Libretto tauchte der Kompromiss in verschiedenen Wendungen auf: „Wasch den Pelz, doch mach mich bloß nicht naß!“ oder auch, auf den damaligen sozialdemokratischen Reichskanzler Friedrich Ebert („Papa Ebert“) gemünzt: „Du, Ebert, weißt du was: „Schließen wir nen kleinen Kompromiß! Davon hat man keine Kümmernis. Einerseits – und andrerseits – so ein Ding hat manchen Reiz …“ So verspottete Tucholsky die Unentschiedenheit im Klassenkampf.

Das Lexikon der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ führt aus, dass zumindest im Russland des Jahres 1918 das Wort „Kommunisten“ dazu verwendet worden war, um klarzustellen „was uns von den Kompromißlern, den Sozialverrätern und den Opportunisten aller Art trennt“. Das Werk dokumentiert eine begriffsgeschichtliche Radikalisierung. Denn noch 1869 hatte Wilhelm Liebknecht das Eisenacher Programm als „Produkt eines Kompromisses der sozialistisch-kommunistischen Auffassung mit den Lassaleanismus“ bewertet.

In der „popularethischen Überlegung“ tritt die Tugend der Radikalität als einer der größten Widersacher des Kompromisses auf. Sie neigt dazu, den Kompromiss mit dem „faulen Kompromiss“ gleichzusetzen und jede Vereinbarung als „Scheinkompromiss“ zu kritisieren.

Kompromisse sind allerdings nicht per se gut und zu billigen. Der Philosoph Avishai Margalit hat ein ganzes Buch über sie geschrieben. Über das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 zwischen Hitler, Chamberlain, Daladier und Mussolini sagt er:

Es wurde „zum Symbol eines faulen Kompromisses, den man unter keinen Umständen eingehen darf. Und Appeasement (Beschwichtigung) wurde zum Etikett jener Politik, die zum Münchener Abkommen führte.“ Die vier Politiker „schlossen eine Vereinbarung, wonach die Tschechoslowakei das Sudetenland, einen schmalen Streifen Land mit deutschstämmiger Bevölkerung, an Deutschland abtreten sollte. Im Gegenzug versprach Hitler, keine weiteren Gebietsansprüche in Europa zu stellen. Im März 1939 besetzte die deutsche Wehrmacht die gesamte Tschechoslowakei. Der Rest ist Geschichte – grauenvolle Geschichte.“

Möglicherweise hat der Begriff „fauler Kompromiss“ seinen Ursprung in einem Brief von Leo Trotzki an Wladimir Iljitsch Lenin. Trotzki schreibt in seiner Autobiographie, dass er am 11. Januar 1919 ein Telegramm an Lenin schickte, in dem es hieß: „Ein Kompromiß ist selbstverständlich nötig, aber kein fauler.“ Vier Jahre später habe ihm Lenin ihm „diesen Satz in Bezug auf Stalin fast wörtlich zurückgegeben“, als er ihm sagte: „Stalin wird einen faulen Kompromiß schließen und dann betrügen.“

Ist das Münchener Abkommen nun tatsächlich der klare Fall eines faulen Kompromisses? Dazu Margalit: „Eine Übereinkunft ist nur dann ein Kompromiß, wenn die Parteien sich gegenseitig Zugeständnisse machen.“ Winston Churchill kritisierte das Abkommen eine Woche später in seiner Rede vor dem Unterhaus vom 5. Oktober 1938, weil es „keine Zugeständnisse von Seiten Hitlers“ enthalten hatte und „Großbritannien, Frankreich und Italien“ genötigt worden seien. Er hatte dazu einen markanten Vergleich genutzt: „In Berchtesgaden wurde mit vorgehaltener Pistole 1 Pfund verlangt. Nachdem es bezahlt war, verlangte man in München 2 Pfund. Schließlich ließ sich der Diktator auf 1 Pfund, 17 Schilling und 6 Pence herunterhandeln, während man ihm den Rest in Gestalt eines Wechsels auf künftigen guten Willen auszahlte.“ In Churchills Augen war das Munich Agreement also kein Kompromiss, sondern eine vollständige Kapitulation. Hitler hatte Chamberlain gedroht, und Chamberlain hatte kapituliert.

Also was dann? Wir lassen noch einmal Margalit zu Wort kommen: „Das Münchener Abkommen ist ein fauler Kompromiss, und zwar nicht in erster Linie wegen seines Inhalts.“ „Stellen wir uns einmal vor, statt des furchtbaren Hitler hätte der ehrenwerte Walther Rathenau Ansprüche auf das Sudetenland erhoben. Stellen wird uns vor, er hätte diese Ansprüche für die Weimarer Republik erhoben, im Namen des Selbststimmungsrechts der Sudetendeutschen, weil die Tschechoslowakei getreu ihrem Namen nur zwei Völkern – sieben Millionen Tschechen und zwei Millionen Slowaken – diene und die Interessen der drei Millionen zwangsweise in die Tschechoslowakei eingebundenen Sudentendeutschen vollständig außer Acht lasse. Selbst wenn wir dieses Argument für falsch hielten (weil es bedeutete, dass die Tschechoslowakei ihre natürlichen und künstlichen Schutzwälle gegen Deutschland hätte aufgeben müssen), handelt es sich dennoch um ein moralisches Argument und keineswegs um ein verwerflichen.“

Das Münchener Abkommen ist ein fauler Kompromiss, weil Hitler es unterzeichnete. „Der niederträchtige Charakter des Vertrages beruht nicht auf dessen Inhalt, sondern auf der Person, mit der er geschlossen wurde. Ein Pakt mit Hitler war ein Pakt mit dem radikal Bösen, das einen Angriff auf die Moral schlechthin bedeutet. Daß Chamberlain Hitler nicht als radikal böse erkannte, war ein moralisches Versagen, das zu der schlimmen politischen Fehleinschätzung noch hinzukam.“

Radikalität als Kompromißlosigkeit und Hierarchie

Gewiss, der gegenwärtige Sprachgebrauch ist ein anderer. Als „radikal“ mag die Zeit des Terrors von Juni 1793 bis Juli 1794 in der Französischen Revolution gelten oder die Schreckensherrschaft und der Völkermord von Pol Pot und der roten Khmer in Kambodscha von 1975 bis 1979. Und in zivilen Gesellschaften der Gegenwart scheint das Adjektiv „radikal“ mit dem Adjektiv „kompromisslos“ gleichgesetzt zu werden; so wenn die Bürgerinnen und Bürger der Meinung sind, dass die Organisation Green Peace „endlich agiert“ statt das „endlose Gelaber“ fortzusetzen. Oder auch manchmal mit dem der Militanz wie beim Auftreten von Demonstrantinnen (z.B. Steinewerfen, sich festkleben, die Konfrontation mit der Polizei suchen) Was zählt ist die mediale Aufmerksamkeit. Dafür brauchen Aktionsgruppen „starke Bilder“ mit einer Semantik, die die Vorstellungen von Radikalität bestätigen.

Schon vor vielen Jahren hatte Edgar Bauer Radikalität als „unbequeme Gründlichkeit“ beschrieben und sie in die Nähe des kompromisslosen Engagements gerückt. Den Mangel an Radikalität der bürgerlichen Reformparteien charakterisierte er als Standpunkt der „ungründlichen Bequemlichkeit“. Sie bedeutete für ihn die „Negation der kritischen Kritik“. Der Standpunkt der ungründlichen Bequemlichkeit war der des „Liberalismus par excellence“, für den der Gründlichkeit gab es die Namen Demokratismus, Schwärmerei, Radikalismus oder gar Nihilismus.
Für die Verlaufsform des semantischen und auf spektakuläre Aktionen bezogenen Radikalismus fand der Schriftsteller Karl Kraus (1874-1936) eine treffliche Charakterisierung. Er kritisierte die Vorstellung, die Radikalität als eine hierarchische Stufenfolge auffaßt:

„Wir haben unser Niveau wieder erhöht. Es hat jetzt nur noch einen Nachteil: Es steht keiner mehr darauf“

Die Radikalität wird durch zusätzliche Radikalität überboten. In manchen Fällen wird die gewaltsame Aktion durch gewaltsamere Aktion ersetzt. Die zunehmende Gewaltspirale bei korrespondierendem Sinnverlust hat meines Erachtens Olivier Assayas 2010 beeindruckend mit der Trilogie „Carlos Der Schakal“ über den venezolanischen Terroristen Ilich Ramírez Sánchez verfilmt.

Wir setzen diesem Verständnis von Radikalität, das stets an der Realität zerbrochen ist, einen anderen Sinn von radikaler Politik entgegen. Er hat mit Sinn, wirklicher Erfahrung und Verständigung mit den Menschen und des zivilen Lebens zu tun. Es muss auf die Erfahrung selbst zurück gegangen werden. Oskar Negt und Alexander Kluge haben über Karl Marx geschrieben, dass für ihn „radikal sein nichts anderes bedeute, als die Dinge an der Wurzel fassen, und die Wurzel des Menschen sei der Mensch“. Die Radikalität der Analyse und des politischen Handelns kann sich nur „nach unten“ verbreitern. Und sie bewerten die von Kraus beschriebene Verarbeitung „nach oben, zu den Ideen, Plattformen, Autoritäten hin“ als „bürgerlichen Reflex“. „Das einzige zuverlässige Mittel, das diesen Schleier gewöhnlich durchbricht, ist der „materialistische Instinkt“ der Massen. Wie eine Notbremse bringt er allerdings dann den ganzen Zug zum Stehen, wie alle Konterrevolutionen beweisen.“

Frieden, die Beendigung des Krieges

Vielleicht konnten wir den „materialistischen Instinkt der Massen“ am 8. April 1945 antreffen als Halberstadt von der Luftflotte der Alliierten bombardiert wurde. Der als Munitionsarbeiterin dienstverpflichteten Volksschullehrerin Gerda Baehte blieb mit ihren drei Kindern damals nur eine „Strategie von unten“. Sie wollte sich wehren, konnte aber nur hoffen, dass ihre Kinder und sie nicht von einer Bombe getroffen werden. Aber die „letzte Chance, sich gegen das Elend von 1944 zu wehren, war 1928. 1928 hätte sich Gerda Baethe mit anderen Frauen organisieren können.“

Nach der Bombardierung war der Bevölkerung nicht nach Rache zumute und die Alliierten mussten in der Nachkriegszeit nicht mit einer Wiederauflage der Versailles-Denkform rechnen. Die Bevölkerung wollte nicht so sehr Gerechtigkeit, sondern Frieden: „An einem gewissen Punkt der Grausamkeit angekommen, ist es schon gleich, wer sie begangen hat: sie soll nur aufhören.“

„Es soll nur aufhören“. So lautet die Formel für den Kompromiss, den die Menschen in Halberstadt und sonst wo um des Friedens willen akzeptierten. Es war ein Kompromiss, der um des Friedens willen auf Kosten der Gerechtigkeit ging. Ich schließe mich an dieser Stelle der allgemeinen Vermutung Margalits an: die Menschen gehen für den Frieden sehr weit, wenn sie dafür Abstriche bei der Gerechtigkeit machen müssen, aber nicht so weit, dass die Gerechtigkeit dabei ganz auf der Strecke bliebe.

In der Gegenwart scheint der Kompromiss von sozialem Frieden und Gerechtigkeit auch im Mittelpunkt der Politik gestanden zu haben: in den von Angela Merkel und Olaf Scholz geführten Bundesregierungen gegen den Corona-Virus. Sie suchten das medizinisch und virologisch Notwendige zu tun und dafür die Einsicht der Menschen zu gewinnen, aber ohne den Gefühlen von Freiheit und Gerechtigkeit zuwider zu handeln. Die Einschränkungen waren nicht obrigkeitsstaatlich-willkürlich, sondern folgten den Empfehlungen der medizinischen Fachleute. Dies spricht für ein Gespür für den materialistischen Instinkt der Bevölkerung.

Ebenso wenig sind die Regierungsvereinbarungen zur Corona-Politik als faule Kompromisse zu bewerten. Dies gilt auch für Tarifverhandlungen, die nie alle Beschäftigten einer Branche zufrieden stellen. Sie sind Kompromisse, aber keine faulen. Die Beschäftigten wissen, dass demokratisch gesinnte Verhandlungsführer:innen sich gegenseitig Zugeständnisse machten. Auch dies ist Ausdruck des materialistischen Instinkts und Grundlage der Legitimität der Tarifabschlüsse.

Eine der größten Erfindungen der Menschheit

Echte Sachkompromisse sind die Basis moderner Großgesellschaften. Sie sichern ein höheres Gut wie die 3D-Nachhaltigkeit in freier gegenseitiger Vereinbarung. Der Kompromiss, „eine der größten Erfindungen der Menschheit“ (Georg Simmel), ist in der modernen Demokratie Grundlage der Verfassung. Sie ist selbst ein Kompromiss, die durch einen Kompromiss der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zustande gekommen ist.

Wenn Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften nach wochenlangen Verhandlungen einen Tarifvertrag abschließen, wissen sie, dass sie in diesem Moment nicht mehr von ihren Interessen durchsetzen können. Beide Seiten stehen zu dem Tarifabschluss, weil keine der beiden Parteien eine Niederlage erlitten hat. Und manchmal kommunizieren beide Parteien den Vertrag sogar als zukunftsweisend, wenn neue Materien wie die Qualifizierung der Beschäftigten für den Umgang mit neuen Technologien oder die Möglichkeit, Arbeit und Leben besser vereinbaren zu können, besiegelt wurden.

Dilatorische Formelkompromisse oder Scheinkompromisse erreichen hingegen keine eindeutige Sachentscheidung durch Nachgeben aller beteiligten Parteien. Der Philosoph Christoph Hubig, der sich eingehend mit dem Thema des Managements von Dissensen beschäftigt hat, merkt an, dass diese Kompromisse die Probleme nicht lösen, sondern ihre Lösung nur aufschieben. Im Falle von Kompromissen wie Energiemix, Verkehrsmix oder sanfter Tourismus werden einige Nebenfolgen „lediglich vorübergehend gemildert“ und es treten „Verspätungseffekte sowie fortwährende Reaktionszwänge“ ein. Sie „schleppen Problemlösungshypotheken und Amortisationszwänge mit sich fort“.

Echte Sachkompromisse implizieren, dass eine Partei dem Standpunkt der anderen Berechtigung zuspricht. Sie „erfordern gelegentlich sogar gewisse Opfer seitens der stärkeren Partei, die die Verhandlungen nicht so weit treibt, wie sie es könnte, um ihre Wünsche durchzusetzen. Der Sinn solcher Opfer liegt darin, dem Rivalen Anerkennung zu bekunden und den Eindruck einer beherrschenden Stellung zu zerstreuen. (…) Wer in diesem Geiste einen Kompromiß eingeht, der handelt in einem Sinne, den der Talmud als Handeln um des Friedens willen charakterisiert.“

Dennoch kann es bei Sachkompromissen einen „Moment von Opfer geben, wenn ich mich bewusst mit einem kleineren Anteil zufriedengebe, als ich ihn bei größerer Beharrlichkeit hätte erreichen können. Damit möchte ich lediglich meinen guten Willen und meine Kooperationsbereitschaft zum Ausdruck bringen, in der Hoffnung, die andere Seite werde mein Opfer würdigen und sich langfristig erkenntlich zeigen, wodurch die Übereinkunft größere Stabilität erlangt.“

Ein Frieden, der allen Frieden beendet

Wir können diese Probleme eines Scheinkompromisses und eines „hohen Unterlassungsrisikos“ am Beispiel der Aufteilung des mittleren Ostens im Jahr 1922 durch England, Frankreich und Rußland erläutern. Der Historiker David Fromkin vertritt die Auffassung, dass die Errichtung der alliierten Kontrolle im Nahen und Mittleren Osten den Höhepunkt der europäischen Eroberung des Rests der Welt markierte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Nahe Osten – abgesehen von Ostasien – die einzige „native” Bastion, die die Europäer noch nicht gestürmt hatten. Der britische Premierminister Lloyd George konnte am Ende des Ersten Weltkriegs stolz darauf verweisen, dass seine Armeen sie endlich gestürmt hatten. Mindestens ein Jahrhundert lang vor dem Krieg von 1914 hatten die Europäer es als selbstverständlich angesehen, dass der Nahe Osten eines Tages von einer oder mehreren Großmächten besetzt werden würde. Ihre große Angst war, dass Streitigkeiten über die jeweiligen Anteile die europäischen Mächte dazu bringen konnten, ruinöse Kriege gegeneinander zu führen.

Das settlement of 1922, die Einigung von 1922, war kein einzelnes Gesetz, Abkommen oder Dokument, sondern das Ergebnis vieler einzelner, die größtenteils aus diesem Jahr stammten. So wurde die beunruhigende und potenziell explosive Nahostfrage, die seit Napoleon Bonapartes ägyptischer Expedition in der Weltpolitik eine Rolle gespielt hatte, durch die Nachkriegsvereinbarungen von 1922 erfolgreich gelöst.

Ein wichtiger Streitpunkt war die Frage gewesen, wo Russlands politische Grenze verlaufen sollte: von der Türkei über den Iran bis nach Afghanistan – Länder, die sowohl von Russland als auch vom Westen unabhängig bleiben wollten, und zwar entlang einer Linie, die jahrzehntelang Bestand hatte. Die andere große Frage, die seit der napoleonischen Zeit im Raum stand, war, was aus dem Osmanischen Reich werden würde. Sie wurde 1922 mit der Auflösung des Osmanischen Sultanats und der Aufteilung seiner Gebiete im Nahen Osten zwischen der Türkei, Frankreich und Großbritannien gelöst. So gründete Großbritannien – wie Frankreich in seiner Sphäre des Nahen Ostens (Syrien, Libanon) und Russland in der seinen – Staaten (Palästina, Transjordanien, Irak), ernannte Personen, die sie regieren sollten, und zog Grenzen zwischen ihnen. Mit der Vereinbarung von 1922 nahmen die europäischen Mächte die politischen Geschicke der Völker des Nahen Ostens in die Hand.

“Überall sonst auf der Welt – überall außerhalb Asiens“, schreibt Fromkin, hatte die europäische Besatzung dazu geführt, dass die einheimischen politischen Strukturen zerstört und durch neue, europäisch gestaltete ersetzt wurden. Amerika, Australien, Neuseeland und Afrika waren nicht mehr in Stämme unterteilt, sondern – wie Europa – in Länder. Der größte Teil des Planeten wurde nach europäischem Vorbild, nach europäischen Grundsätzen und nach europäischen Konzepten verwaltet. Dennoch gab es einige Gründe, daran zu zweifeln, dass die europäische Besatzung auch im Nahen Osten einen so tiefen und dauerhaften Eindruck hinterlassen würde. Schließlich war der Nahe Osten eine Region mit stolzen und alten Zivilisationen und einem tief in der Vergangenheit verwurzelten Glauben. Außerdem waren die Veränderungen, die Europa einführen wollte, so tiefgreifend, dass Generationen vergehen mussten, bevor die Veränderungen Fuß fassen konnten. Das alte Rom hat Europa geformt, und das wiedererstehende Europa hat Amerika geformt, aber in beiden Fällen war es die Arbeit von Jahrhunderten.

Es mag sein, dass die Krise der politischen Zivilisation, die der Nahe Osten heute erleidet, nicht nur darauf zurückzuführen ist, dass Großbritannien 1918 die alte Ordnung in der Region zerstörte und 1922 entschied, wie sie ersetzt werden sollte, sondern auch auf die mangelnde Überzeugung, die es in den darauffolgenden Jahren in das Programm zur Durchsetzung der Regelung von 1922 einbrachte, zu der es sich verpflichtet hatte. Lloyd George, Woodrow Wilson, Kitchener of Khartoum, Lawrence von Arabien, Lenin, Stalin und Mussolini gehören zu denjenigen, die in dem Drama, das sich in A Peace to end all Peace entfaltet, die Hauptrollen spielten und danach strebten, die Welt im Lichte ihrer eigenen Vision neu zu gestalten.

„Die Krise der politischen Zivilisation des Nahen Ostens“ kann vielleicht auch so beschrieben werden, dass sich die »bewährten« Problemlösungen der führenden europäischen Mächte nur noch in eingeschränkter Form fortschreiben ließen. Die Komplexität der Welt, zu der auch der Wandel der Staaten in Europa gehörte, stieg und die Konzepte wurden zunehmend unverfügbar. In der Gegenwart kommt hinzu, dass die gestiegenen Umwelterfordernisse andere Reaktionen verlangen. Insofern erscheinen die bewährten Problemlösungen nur dort legitimierbar, wo sie als Lösungen mit »schlechtem Gewissen« zunächst eine Atempause verschaffen.

Die Agenda 2030

Diese Überlegungen führen direkt auf die Agenda 2030. Eine der großen Fragen wird sein, ob es ihr gelingen wird, zu echten Sachkompromissen zu gelangen oder ob es ihr sogar gelingt, eine vertikale Problemrückverschiebung an die Problemwurzel zu erreichen. Meine These ist, dass die Agenda, die Sachkompromisse anstrebt, den Anfang von radikaler Politik machen wird.

 
 
 

Zuerst veröffentlicht im Bruchstücke-Blog

Letzte Änderung: 31.08.2022  |  Erstellt am: 31.07.2022

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