Kompetenz mit heißer Nadel

Kompetenz mit heißer Nadel

Annalena Baerbock: Jetzt
Annalena Baerbock | © Stefan Kaminski/wikipedia

Annalena Baerbocks Buch – „Jetzt. Wie wir unser Land erneuern“ – ist offenbar weithin auch deshalb noch ungelesen, weil es – auch aufgrund fragwürdiger Wahlkampfmethoden – in Verruf geraten ist. Enno Rudolph zeigt, dass die originellen Analysen, die sich in dem Buch finden, von hoher Qualität sind und Beachtung verdienen. Die Konsequenzen, die Baerbock zur Diskussion stellt, können höchste Aktualität für sich beanspruchen. Das Buch enthält kein Wahlprogramm, sondern es dokumentiert das ausgeprägte Problembewusstsein der Autorin mit dem sie ein plausibles politisches Handlungskonzept zur sofortigen Umsetzung vorlegt.

Ein Kommentar zum Buch und zur Reaktion in der Politik

Das in den Medien und in den bisherigen Kommentaren aus der Politik mit fast einhelliger Gnadenlosigkeit verworfene Buch der Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, ist um seine potentielle Leserschaft geprellt worden. Es waren nicht vernichtende Rezensionen, die das erreicht hätten, sondern das Buch wurde mit dem schlimmsten Makel behaftet, den es für eine Veröffentlichung – vor allem dieser Art – geben kann: dem Makel des Plagiatsverdachts.

Wer die Autorin über Jahre in öffentlichen Diskussionsveranstaltungen erlebt hat, konnte beobachten – wo immer er/sie politisch stehen mag –, dass sie es nicht nötig hat, Texte anderer zu stehlen. Gleichgültig, mit welchen Spezialisten, Insidern oder politischen Konkurrenten sie zusammentraf – immer war sie bestens Informiert, ihre Argumente waren stets auffallend differenziert und ihre Analysen zeichneten sich in der Regel durch eine besondere Subtilität aus. Das ist selbst für eine Absolventin der London School of Economics and Political Science nicht selbstverständlich. Diese ihre seit langem wenig umstrittenen Kompetenzen prägen auch das Buch, das offenbar mit heisser, weil eiliger Nadel verfasst worden ist. Dem Herstellungsdruck könnte es geschuldet zu sein, dass es in einigen wenigen Passagen zu einer versehentlichen Übernahme von Formulierungen gekommen ist, die aus dem ihr vorliegenden Informationsmaterial stammen. Keine Frage: Das wäre besser nicht geschehen. Aber nichtsdestoweniger bleibt das Buch von besonderem Wert.

Die Publikation lässt sich wie ein komprimiertes Handbuch benutzen, in dem sich das Ensemble der derzeit aktuellen politischen Handlungsfelder und Zukunftsaufgaben – als da wären: klimagerechter Wohlstand, Industriepakt für die Zukunft, Erhaltung staatlicher Handlungsfähigkeit, Stärkung des Rechts, Erstellung einer transatlantischen Agenda, Gewinn und Bewahrung strategischer Souveränität – in den Kapitelüberschriften niederschlägt. Die Kapitel haben nicht primär die Funktion, die Handlungsfelder zu beschreiben, sondern sie nach Massgabe der gestellten Aufgabe und gegebenen Problemlagen so miteinander zu vernetzen, dass sich daraus konkrete Handlungsanweisungen für die gegenwärtige und die zukünftige Politik in globalem Zusammenhang ableiten lassen. Damit liefert Baerbock zugleich ein geeignetes Modell für die Organisation politischen Handelns, das weniger auf dem Prinzip der Arbeitsteilung, als auf dem einer flexiblen Kooperation beruht. Ohne den kompetenten Blick für die Interdependenzen etwa von Klima-Innen- und Klima-Aussenpolitik kann nach diesem Konzept niemand das Amt eines Umweltministers bekleiden; ohne permanente Rücksichtnahme auf die wechselseitigen Abhängigkeiten von Gesundheits- und Wirtschaftspolitik dürfte niemand für eines der beiden Ressorts als jeweils zuständiger Minister Verantwortung übernehmen; und ohne die Fähigkeit, flexibel auf die neuartigen Kriegführungen unserer Zeit zu reagieren, kann weder Verteidigungs- noch Innenpolitik betrieben werden. Die «neuen Kriege» (Herfried Münkler) sind Kriege ohne Kriegserklärungen, ohne gültige Nationalgrenzen, ohne kalkulierbar manövrierende Bodentruppen. Stattdessen wird zunehmend mit unsichtbaren Armeen, ohne Panzer und Flugzeuge, wie im Fall terroristischer Angriffe, oder aber zunehmend auch mittels Cyberattacken operiert, die das alltägliche Leben, die wirtschaftlichen Interaktionen oder die globale Kommunikation überfallartig von jetzt auf gleich lahmlegen können. Das Buch führt an solchen und anderen Beispielen vor, was die Autorin und was ihre Mitstreiter:innen darunter verstehen, dass die Politik nicht nur unseres Landes neu «gestaltet» werden muss.

Die Zeit der Aufteilung des Regierungshandelns auf relativ isoliert voneinander operierende Ressorts, die von ihren zuständigen Führungen mehr eifersüchtig gegeneinander abgeschottet als konstruktiv koordiniert werden, wäre nach dieser Politikvorstellung vorüber. Dabei profitieren die Grünen aktuell von dem historischen ‹Vorteil›, dass ihre seit jeher genuine Domäne, die Umwelt– und Klimapolitik, so rapide wie nie zuvor zur dominanten und sämtliche Handlungsfelder bestimmenden Determinante geworden ist: die Politik insgesamt wird über den Klimawandel integriert. Die Frage ist nicht, wie die Politik das vermeidet, sondern wie sie das bewältigt und lenkt. Der Klimawandel hat sich in seiner ubiquitären Bedrohlichkeit soeben auch bei uns mit einem derart harten und verheerenden Schlag gemeldet, dass die amtierenden Politiker offenkundig nicht mehr wissen, an welcher Front sie momentan zuerst und am meisten gefordert sind – an der Front der sich beschleunigenden Klimakatastrophe, an der der Pandemien oder an der der «neuen Kriege». Insoweit dürften die Grünen besser vorbereitet sein als alle anderen, aber offen ist mehr denn je, ob sie diesen Vorteil in politische ‹fortune› umsetzen können.

Das Buch ist durchweg in einem erfrischenden Stil geschrieben, der sich von Anfang an mit dem nüchternen Realismus der Autorin verbindet. Die Zukunftsbezüge geraten nie zu Visionen oder gar zu Schwärmereien, und Warnungen werden ohne Dramatisierungen und, erfreulicher Weise, ohne doktrinäre Anmassungen ausgesprochen – sie ergeben sich logisch und sind keine Resultate persönlicher Präferenzen der Autorin. Es ist ein praktisches Buch, geschrieben von einer Autorin, die mit einer Serie guter Gründe zum Handeln drängt – sich selbst und alle anderen. Es ist ein Buch, das intelligente Kooperation ebenso plausibel machen will wie die Forderung an jede Theorie, sich von der Praxis testen zu lassen und sich in der Praxis bewähren zu müssen. Theorie hat die Wegweiser für ihre Anwendung mitzuliefern, und falls sie überzeugt, ist eigentlich sie es, die primär zum Handeln nötigt, ihre Anhänger sekundär. Entsprechend werden Politiker nicht gewählt, weil sie überzeugend reden, sondern weil es einleuchtende Gründe – Evidenzen – gibt, Ihnen etwas zuzutrauen: nämlich dass sie tun, was sie versprechen. Angela Merkel hat diese Erwartung bekanntlich sechzehn Jahre lang – vielleicht mehr erfolgreich als überzeugend – zu bedienen gewusst und sich dafür auch nicht geschont. Und der neue amerikanische Präsident scheint ebenso konsequent wie energisch den Vorrang der Praxis vor der Theorie zum Motto seiner Politik gemacht zu haben: Er twittert nicht, er entscheidet und setzt auf die Tat, was sich allerdings bei ihm nicht in jedem Fall als eine Erfolgsgarantie erweist.

Das Buch lässt den Ton einer Politikerin vernehmen, die das weiss, über die sich aber manche infolge der Plagiatsvorwürfe haben verunsichern lassen, und die jetzt daran zweifeln, dass sich die eingangs erwähnten Irrungen, über die manch einer ihre Kandidatur gern zum scheitern gebracht sähe, als menschliche Fehler im Kleinformat erweisen, oder ob sie Böses ahnen lassen: grosse Fehler. Die Politik lässt keine Probeläufe zu – Kanzlerschaft ist kein Gesellenstück, weniger denn je. Die Kandidaten:innen müssen sich in jeder Hinsicht dafür empfehlen können: als Autoren:innen genauso wie als Redner:innen oder Akteure. Fehlende Quellenhinweise bei wörtlichen Übereinstimmungen mit Sätzen aus benutzter aber nicht vermerkter Literatur nähren leicht einen Plagiatsverdacht, der nur sehr schwer ausgeräumt werden kann. Dennoch sollte erwähnt werden, dass Gedankenanleihen, die nicht als solche markiert sind, in einem nicht durch Leistungsnachweise und Karriereaussichten konditionierten Zusammenhang möglicherweise als Indizien für eine grundsätzliche Fahrlässigkeit bewertet, auch wenn sie sich im Blick auf die erkennbare Hauptleistung – das Buch – als quantité néglegiable erweisen. Dass es der Autorin an Originalität und kreativer Intelligenz nicht mangelt, dass sie über eine präzise Sprache verfügt, die ihr eine souveräne Vermittlung ihres komplexen Wissens erleichtert, und dass ihre politische Urteilskraft besticht, wurde und wird seit langem von Freund und Feind anerkannt und immer wieder besonders vermerkt. Sie hat diese Qualitäten mit diesem Buch hinreichend bestätigt. Das Buch bleibt ein authentisches Dokument ihrer politischen Exzellenz.

Mit autobiographischen Passagen stellt die Autorin immer wieder einen Bezug zu ihren Lebensstadien und zu den von ihr genutzten Gelegenheiten zur Wissenserweiterung bzw. Erfahrungsanreicherung her, was dem gesamten Text eine erzählerische Note vermittelt. Der Leser nimmt teil an ihrem Profit aus zunehmender Bildung, und er erlebt Baerbocks Weg vom heimischen Bauernhof über das Studium an den Universitäten in den Metropolen Hamburg und London, den Aufenthalt in den USA und das Praktikum bei der EU bis hin zum Engagement bei den Grünen und zur aktuellen Präsentation ihrer Kandidatur nach: existentiell, intellektuell und politisch. Das Verhältnis zu ihrer Grossmutter – im Buch durchweg als «Oma» tituliert, was jedenfalls erfrischend wirkt – bildet dabei den cantus firmus. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, wie Baerbock ihren kompromisslosen Realismus als Politikerin mit einer durchweg zuversichtlichen Grundhaltung als Zeitgenossin verbinden kann. Gleichwohl geht von ihren Schilderungen und Analysen der politischen Lage in der Welt, – ob in China, in den USA, in Afrika, in Europa oder in Deutschland – nichts Beruhigendes aus. Im Gegenteil: das Buch stellt die Gesamtlage – ohne in Alarmismus zu verfallen – als extrem bedrohlich dar, um unmissverständlich deutlich werden zu lassen, warum es den Titel «Jetzt» trägt: Jetzt muss die Gesundheitspolitik neu mit Personal und Institutionen ausgestattet werden, die zu präventiven Massnahmen geeignet und in der Lage sind; jetzt gilt es,die Migration strukturell zu bewältigen und Flüchtlingsströme menschlich zu organisieren; jetzt gilt es, ultimativ und ohne Zeitverlust regelbasierte Bevollmächtigungen der zuständigen UN-Behörden und NGOs zu erwirken, die mit der Bewältigung international bedrohlicher Zustände beauftragt werden – als da wären der Hunger im Jemen, in Äthiopien, Madagaskar oder Nigeria, sodann die Ausbreitung der Pandemie in Ländern ohne ausreichend gewappnetes Gesundheitswesen, wie in Afrika, oder schliesslich die Herstellung und Verstetigung der Menschenrechte in Ländern wie Russland, der Türkei, China, Ungarn oder auch in den USA unter dem Regime des noch nicht besiegten Trumpismus. Wir sitzen alle in einem Boot, und natürlich ist der Klimawandel aus der jetzigen Sicht die bedrohlichste unter den denkbaren globalen Katastrophen, deren Zukunft bereits begonnen hat – für alle. In der Kompetenz, die Weltprobleme und die globalen Dringlichkeiten innenpolitisch wie auch aussenpolitisch in ihrem untrennbaren Zusammenhang zu begreifen und darzustellen, zeigt sich am Beispiel dieser Autorin, dass die Grünen nicht mehr nur für das Grüne zuständig sind, sondern für die Probleme des Globus insgesamt.

Baerbock präsentiert sich exemplarisch als gebriefte und betroffene Weltbürgerin, als erfahrene und leidenschaftliche Europäerin – und zwar trotz Brexit, trotz Dauerkonflikt mit Ungarn oder Polen und trotz der Serien von Brüsseler Unzulänglichkeiten – und nicht zuletzt als solidarische Patriotin. Die geübt synoptische Wahrnehmung der komplexen Handlungsfelder, die die Politik täglich zu bedienen hat, lässt sie zu handlungsorientierenden Grundeinsichten gelangen, ohne die es kein:e Politiker:in wagen sollte, für das Amt der deutschen Regierungschefin zu kandidieren. Zwei Beispiele: Zum einen ist da die Einsicht, dass Gerechtigkeit zu erstreben nicht bedeutet, die Herstellung allgemeiner Gleichheit – sei es auf nationaler, sei es auf globaler Ebene – bewirken zu wollen; Gerechtigkeit bedeutet zwar Chancengleichheit, aber gerecht ist zugleich, dass jedes Individuum auf seine ihm gemässe Weise die Gelegenheit erhält, seine Chancen wahrzunehmen: Pluralismus und Diversität sind die Rahmenbedingungen der Herstellung von Gerechtigkeit. Zum anderen ist da die Einsicht, dass ein konsequent realistisch vertretener Pazifismus auch immer ein konditionierter Pazifismus ist. Der Pazifist braucht Waffen, er muss Krieg führen können, um – zugespitzt formuliert – gegebenenfalls in der Lage zu sein, den Pazifismus angesichts der neuen Kriege zu verteidigen. Auch deshalb braucht Europa eine Armee, wie Annalena Baerbock weiß. Nach der Lektüre dieses wegweisenden Buches wird manchem danach sein, sofort die Ärmel hochzukrempeln.

Letzte Änderung: 23.08.2021

Jetzt | © Stefan Kaminski/wikipedia

Annalena Baerbock Jetzt

Wie wir unser Land erneuern
240 Seiten
ISBN-13: 9783550201905
Ullstein Verlag

Hier bestellen
divider

Kommentare

Ralf Rath schreibt
Seit 18.11.2021 gilt nach einer Mitteilung des Ullstein-Verlags ein Verkaufsstopp. Noch im Handel befindliche Exemplare werden nicht mehr verkauft und das Buch mit dem Titel "Jetzt. Wie wir unser Land erneuern" von Annalena Baerbock wird auch nicht mehr gedruckt. Die E-Book-Ausgabe ist ebenfalls nicht mehr erhältlich.
Walter H. schreibt
Eine kluge Entscheidung von Annalena Baerbock: Sie zieht ihr Buch zurück lässt es nicht wieder neu auflegen. Die Bücher, die noch in Buchhandlungen vorrätig sind, werden normal verkauft. Einen Nachschub wird es nach Baerbocks Rückzieher jedoch nicht mehr geben.
jutta himmelreich schreibt
ich finde: leider kann das loblied auf frau baerbock und ihr buch die vielen fehlentscheidungen nicht wett- und schon gar nicht ungeschehen machen, die "die grünen" seit jahrzehnten getroffen oder schlicht mitgetragen haben [krieg in bosnien, agenda 2010, stuttgart 21, "entschuldigung!" wg. ,veggie-day, flughafenterminal in frankfurt/main für 20 millionen fluggäste mehr pro jahr und jüngst pro E-mobilität [die kein umwelt-problem löst], um nur einige wenige "schock-therapien" zu nennen. damit ist mE kein zukunftsfähiger staat zu machen, der endlich auch global gerecht agieren würde. SCHADE. was nicht heißt, dass man nicht weiter dranbleiben sollte. aber wer hat schon den mut zu einem ECHTEN systemwexel?

Kommentar eintragen