Europabildung

Europabildung

Grenzen von Entgrenzungen
Historische Grenzziehungen Europas

Die Grenze ist, metaphorisch oder ganz real, unverzichtbar für unsere Existenz und wirkt sich auf sie aus, wenn sie verschoben, überschritten, überwunden oder geschwächt wird. Wenn sich also mehrere Staaten in einem größeren Verbund zusammenschließen, ist das Sicherheitsbedürfnis und andere Interessen der beteiligten Nationen berührt. Der Sozialwissenschaftler Philipp Legrand skizziert die Gefahren und die Gegenstrategie in diesem Prozess.

Entgrenzungen und gegenläufige Tendenzen

Im Kontext von Modernisierungs- und Globalisierungsprozessen verlaufen Entgrenzungsprozesse, die kollektive Identitäten nachhaltig verändern. Ehemalige Identitätsanker erodieren und machen Raum für neue (vgl. Schmale 2010: 37). Entgrenzungsprozesse berühren unterschiedliche Dimensionen des Zusammenlebens und katalysieren tiefgreifende politische, soziale, kulturelle und ökonomische Veränderungen. So kommt es beispielsweise im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses zu einem zunehmenden Bedeutungsverlust von Nationalstaaten, zur Internationalisierung ehemals nationaler Politikfelder und zur Schaffung suprastaatlicher Institutionen. Entgrenzung in Form von Globalisierung und Modernisierung bedeutet für Bürgerinnen und Bürger sowie politische Akteure, sich an neue Rahmenbedingungen zu akkommodieren und neue Wege der demokratischen Legitimation und Bürgerbeteiligung in entgrenzten Ordnungsrahmen zu finden (vgl. Krüger 2011: 14).

Die Angst vor einem kulturellen Reduktionismus und vor Unsicherheiten im Hinblick auf Zukunftsperspektiven in einem entgrenzten Europa sowie einer zusammenwachsenden Welt schüren zum Teil gegenläufige Tendenzen. Häufig reagieren Regionen auf Entgrenzung mit Eingrenzung oder Ausgrenzung (vgl. Schmitt-Egner 2005: 115-120). Im Rahmen der Finanz- und Wirtschaftskrise sowie des Zuzugs von Geflüchteten aus vielen Teilen der Welt zeigen sich verstärkt ethnonationalistische und regionalistische Strömungen. Auch unter der EU-Erweiterung von 2004 hat die vorgestellte politische Gemeinschaft, die eine Nation kennzeichnet, in den Köpfen ihrer Mitglieder wieder an Bedeutung gewonnen (vgl. Anderson 2003: 6; Schmale 2011: 31). So konstatiert Leiße (2009: 141), dass die Nation ihren Bürgern Halt gibt, während Globalisierung verunsichert.

„Über Entgrenzung nachzudenken, heißt zunächst, bisherige Grenzen zu kennen. (…) Jede Form von Entgrenzung setzt zunächst die Existenz von Grenzen voraus” (Sandschneider 2011: 21, 22). Sofern man nicht versucht, Grenzen zu überwinden, sind sie irrelevant. Wenn man Grenzen überwindet, ergeben sich daraus neue Möglichkeiten und Unsicherheiten. Vorstellungen werden komplexer und Risiken sowie Ängste können zunehmen. Entgrenzung erfordert die Herausbildung neuer Vorstellungen und Ordnungsmuster. Das Resultat sind andere Grenzen, die sich in den Köpfen der Individuen abspielen und an Bedeutung gewinnen (Sandschneider 2011: 21-28). Entgrenzungen bedeuten immer auch neue Begrenzungen (Krüger 2011: 15). Bei der Überschreitung von Grenzen treffen unterschiedliche Vorstellungen und Ordnungsmuster aufeinander. Entscheidend ist hierbei, inwieweit Vorstellungen und Ordnungsmuster miteinander kompatibel sind. Stehen sie im Widerspruch zueinander, entstehen Konfliktherde (Sandschneider 2011: 21-28).

Schmitt-Egner (2005: 116) verweist auf eine systematische Modernisierung und Globalisierung im Hinblick auf Agenturen der Entgrenzung. Die systematische Modernisierung geht einher mit einer Tendenz zu standardisierten Lebenswelten. Globalisierung als eine Art „enträumlichender Motor“ kann nicht auf globale Kapitalverflechtungen, Medien, Unternehmenskonzentrationen und Warenmärkte reduziert werden, sondern wirkt durch neue Kommunikationsmöglichkeiten und einer Zunahme an weltweiter Mobilität auf die Lebenswelt des Einzelnen ein (Schmitt-Egner 2005: 116). Mobilität als eines der zentralen Aspekte entgrenzter Gesellschaften transformiert tradierte Lebensformen und private Beziehungen. Neue Technologien begünstigen einen Paradigmenwechsel über Familiarität und führen zu Hybridität (vgl. Körber 2011: 91-112).

Nach Schmitt-Egner (2005: 117) lässt sich der Mensch entgegen allen Entgrenzungen jedoch nicht beliebig „ent-räumlichen“ – doch wo liegen die Grenzen von Entgrenzungen? Der Zentrale Faktor für die Initiierung von fruchtbaren Entgrenzungsprozessen und deren Legitimation ist es, entsprechende Identitätsoptionen auszuprägen und zu offerieren, derer sich Individuen in ausreichender Zahl annehmen – unabhängig von politischer, sozialer, kultureller oder ökonomischer Entgrenzung.

Die europäische Identität

Bei Betrachtung von Dimensionen individueller, sozialer und kollektiver Identitätskonstruktionen offenbaren sich Grenzen von Entgrenzungen. So wird Europa beziehungsweise der europäische Integrationsprozess ohne ausgeprägte europäische Identität keinen nachhaltigen Bestand haben können. Die Anstrengungen, um eine derartige Identität zu fördern, sind mittlerweile in nahezu jeder Stadt erkennbar. Vielerorts weisen Schilder gut sichtbar vor Bauwerken auf eine europäische Unterstützung hin. Über Förderprogramme werden zahlreiche europäische Begegnungsreisen sowie Austauschprogramme finanziert und die Mobilität zwischen den Menschen gesteigert. Mit der Einführung des Euros als gemeinsames Zahlungsmittel der Europäer ist ein zentrales Identifikationsinstrument ins Leben gerufen worden. Die Einführung eines europäischen Passes wäre ein nächster konsequenter Schritt in Richtung Entgrenzung und mehr Europa.

Obgleich die Bemühungen für den europäischen Integrationsprozess beträchtlich sind, zeigen nicht zuletzt die jüngsten Wahlerfolge europakritisch-nationalistischer und rechter Parteien in Europa, auf welch wackligem Fundament die europäische Identität derzeit noch immer steht – doch eines ist klar: Eine Abkehr vom europäischen Integrationsprozess ist weder aus ökonomischer noch aus politischer Perspektive sinnvoll.

Europäische Bildung - Europabildung

Die Zukunft des europäischen Integrationsprozesses wird im Wesentlichen davon abhängen, inwiefern es gelingt, weitere Identitätsanker auszubilden. Hier kommt auch dem Bildungssystem eine zentrale Rolle zu. Das Thema Europa im Allgemeinen und europäische Integration im Besonderen sollte künftig eine größere Rolle insbesondere im Bereich der Politischen Bildung – natürlich immer unter Berücksichtigung der Leitlinien des Beutelsbacher Konsenses – im Schulunterricht und in der Erwachsenenbildung einnehmen. Bildungsziele müssen sein, Europa greifbarer und begreifbarer zu machen sowie die aktive europäische Bürgerschaft zu fördern.

Aufgrund neuer Kommunikationstechnologien und einer insgesamt immer enger werdenden politischen und ökonomischen Vernetzung ist Europa bereits heute viel enger zusammengewachsen als noch vor etwa 20 Jahren. In den kommenden 20 Jahren werden die kulturelle und soziale Dimension der sich entgrenzenden Gesellschaft stärker in den Blickpunkt genommen werden müssen, um die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Konstrukt „Europa“, die Vorstellung von Europa und damit eventuell auch die individuelle Identifikation mit sowie die Partizipation an einer europäischen Gesellschaft nachhaltig zu fördern – nur auf diesem Wege wird das Haus Europa auf einem soliden Fundament nachhaltigen Bestand haben können.

 
 

Anderson, Benedict (2003): Imagined communities: Verso: London, New York.
Körber, Karen (2011): Transnationalität als Herausforderung für soziologische Migrationsforschung. In Marinelli-König, Gertraud; Preisinger, Alexander (Hrsg.): Zwischenräume der Migration. Über Entgrenzung von Kulturen und Identitäten:transkript Verlag: Bielefeld.
Krüger, Thomas (2011): Was bedeutet „Entgrenzung” für die politische Bildung? In Lange, Dirk (Hrsg.): Entgrenzungen. Gesellschaftlicher Wandel und Politische Bildung: Wochenschau Verlag: Schwalbach: S. 14-16.
Leiße, Olaf (2009): Europa zwischen Nationalstaat und Integration: Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden.
Sandschneider, Eberhard (2011): Entgrenzung, ein Essay. In Lange, Dirk (Hrsg.): Entgrenzungen. Gesellschaftlicher Wandel und Politische Bildung: Wochenschau Verlag: Schwalbach: S. 21-28.
Schmale, Wolfgang (2011): Ist Europa reif für eine “Welt ohne Grenzen?”. In Lange, Dirk (Hrsg.): Entgrenzungen. Gesellschaftlicher Wandel und Politische Bildung: Wochenschau Verlag: Schwalbach: S. 31-36.
Schmale, Wolfgang (2010): Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität: Bundeszentrale für politische Bildung: Bonn.
Schmitt-Egner, Peter (2005): Handbuch zur europäischen Regionalismusforschung: Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden.

Letzte Änderung: 05.03.2022  |  Erstellt am: 05.03.2022

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