Erinnerungen in Sarajevo

Erinnerungen in Sarajevo

Mit dem „Tagebuch der Übersiedlung“ auf Spurensuche
Sarajevo, 1992-1996 | © Creative Commons

Mehr als drei Jahre lang wurde Sarajevo von der Armee der bosnischen Serben belagert, die in die Stadt hineingeschossen und grauenhafte Kriegsverbrechen begangen hat. Es war die Zeit von Radovan Karadžić und Slobodan Milošević. Etwa elftausend Menschen wurden getötet, 56.000 verletzt. Dreißig Jahre danach hat sich Jutta Roitsch nach Sarajevo auf Spurensuche begeben.

Sarajevo: Was löst der Klang dieses Namens aus? Welche Erinnerungen tauchen aus dem Gedächtnis auf? Nur jenes verhängnisvolle Attentat am 28. Juni 1914, an dem der Serbe Gavrilo Princip den österreichischen Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie erschoss und damit Europas „Schlafwandler“ (Christopher Clark) in den Ersten Weltkrieg führte? Geistert der kleine Wolf „Vucko“ als Maskottchen der Olympischen Winterspiele von 1984 noch durch die Sportwelt? Oder steht Sarajevo seit den Kriegen in Jugoslawien vor dreißig Jahren für ein Grauen, das aber „weitgehend aus dem kollektiven Bewusstsein verschwunden“ ist (so in diesen Tagen der niederländische Schriftsteller Arnon Grunberg)? 1425 Tage lang belagerten serbisch-jugoslawische Truppen die Stadt, sperrten Wasser und Strom, schossen von den umliegenden Hügeln auf Männer, Frauen und Kinder. Was wissen wir, was weiß ich noch darüber? Löscht die orientalische Welt, die uns jetzt schon auf dem Flughafen empfängt, nicht alle Bilder der Vergangenheit? Die Flugzeuge kommen täglich aus Katar, Dubai, Kuwait, Istanbul. Noch ist auch Frankfurt dabei.

In diesen Pfingsttagen gehe ich im diesigen und gewitterfeuchten Sommernebel in dieser Stadt auf Spurensuche, in der Tasche das „Tagebuch einer Übersiedlung“ von Dzevad Karahasan, der am 19. Mai in Graz gestorben und in Sarajevo begraben worden ist. Er ist das schriftstellerische Gedächtnis dieser Stadt, vor allem für die, die im Herzen Jugoslawen geblieben sind, und die Ausgewanderten, für die diese Stadt immer noch der Ort ist, „an dem sich die verschiedenen Gesichter der Welt in einem Punkt sammeln wie zerstreute Lichtstrahlen in einem Prisma“. So schreibt es Karahasan im „Tagebuch“. Hundert Jahre nach ihrer Gründung Ende des 15. Jahrhunderts „konnte die Stadt Menschen aller monotheistischen Religionen und der von ihnen abgeleiteten Kulturen sowie eine Vielzahl verschiedener Sprachen und Lebensformen in sich versammeln“. Alles, was in der Welt möglich sei, existiere in Sarajevo, „verkleinert, reduziert auf seinen Kern“. Diese Stadt im Tal, umgeben von Hügeln und Bergen, sei „sich selbst zugekehrt und in sich gekehrt“. Für Karahasan wurde Sarajevo „zu einem neuen Babylon und einem neuen Jerusalem – zur Stadt einer neuen Sprachverwirrung und zur Stadt, in der man mit einem Blick die Gotteshäuser aller Buchreligionen umfassen kann“.

Dreißig Jahre nach der verheerenden Blockade, dem Bomben- und Granatenhagel auf diese Stadt, der Flucht und Vertreibung von Hunderttausend Menschen, darunter der Mehrheit der jüdischen, einst aus Spanien vertriebenen Bevölkerung, fällt es mir schwer, Karahasans Traum einer idealen Stadt zu entdecken. Sarajevo hat das enge Tal längst verlassen: Vom Westen her führen die vierspurigen Straßen vorbei an tristen Industrieanlagen, sozialistischen Plattenbauten, die teilweise zerstört sind und leer stehen. Ein ehemaliges Studentenwohnheim in der Nähe der renommierten Technikerschule ist eine schwarzverkohlte Ruine, in der Birken und bunte Graffiti wuchern. Zwischen Tristesse und grauen Häuserblöcken ragen neue Glasfassaden und glitzernde Hochhäuser mit Werbung für ein „Hotel Dubai“, dann der prunkvolle riesige Neubau einer Moschee, „gespendet“ von den saudischen strenggläubigen Wahhabiten, die bisher unter den eher liberalen bosnischen Muslimen keine Tradition hatten.

An diesem normalen Wochentag ist der Autoverkehr erstickend. Wir finden in einem Hinterhaus ein Parkhaus, das nur Eingeweihte kennen, erobern die Stadt zu Fuß, vorbei an einer Bar namens „Vucko“ und dem neuen Konsumtempel Aria, den ein arabischer Investor nach Kriegsende erneuerte. Aufwändige Neubauten auch für die Ministerien in Bosniens Hauptstadt. Was blieb von den Religionen und ihre Kulturen? Die Synagoge der spanischen (sephardischen) Juden zerstörten die Deutschen beim Einmarsch 1941 (wie auch das Denkmal für den Attentäter Princip). Die einzige evangelische Kirche, ein imposanter Bau im römisch-byzantinischen Stil, wurde zur Kunstakademie. Die katholischen Kirchen, vor allem die mächtige Kathedrale im einstigen österreichischen Viertel, sind verschlossen. Munteres Treiben herrscht nur in den vielen Moscheen im türkischen Teil der Stadt. Schulklassen gehen ein und aus: Am Freitag ist der kollektive Besuch an vielen Schulen zur Pflicht geworden, berich-ten mir Lehrerinnen bestürzt und besorgt. In die Grundschulen, erzählen sie, gehen die katholischen und die muslimischen Kinder wieder getrennt und zeitversetzt. Das ist nationalistisches Zündeln mit Ansage, denn getrennte Wege gehen auch die verschiedenen Bevölkerungsgruppen: Die bosnischen Kroaten, die im übrigen als einzige Minderheit mit kroatischen Pässen in die EU einreisen können, schicken ihre Kinder nicht nur auf katholische Privatschulen, diese werden auch nach dem kroatischen Lehrplan unterrichtet. Über die Serben redet in Sarajevo niemand mehr.

Im „Hotel Evropa“, das für Karahasan im Stadtplan auf der habsburg-türkischen Grenzlinie steht, ist das weitläufige Kaffeehaus seit vierzehn Jahren wieder eröffnet. Während der Blockade ging es nach einem Granatenbeschuss in Flammen auf. Eine Fassade ist im alten Stil restauriert, der Hotelteil neu angebaut. Die schicke Boutique des einzigen Fünf-Sterne-Hotels Sarajevos bietet Mode für arabische Luxusgattinnen, die früher einmal zum Shoppen nach Beirut geflogen sind. Diese Zeiten sind lange vorbei, die Stadt am Meer versinkt im politischen Sumpf. Wird Sarajevo zum neuen Beirut (und nicht etwa Babylon oder Jerusalem)? Die arabischen Banken sind schon da, die Billigfluglinie Jazeera aus Kuwait sitzt in einem Glaspalast. Die Shoppingmall im österreichischen Teil kennt Gucci, Hermès und Boss noch nicht, eher die internationalen Ketten im mittleren Preisniveau. Aber der arabische Tourismus boomt. In dem vor allem von den Muslimen bewohnten Viertel am Hang stehen Luxusappartements zum Verkauf, in das ehemalige (eher arme) jüdische Quartier ziehen finanzstarke Neuankömmlinge aus den Botschaften oder internationalen Organisationen.

Achtlos schlendern die jungen Frauen und Männer über die rotbemalten Vertiefungen im Pflaster der Fußgängerzone: Es sind die hiesigen Stolpersteine, die an die Ermordung und willkürliche Erschießung von Menschen durch serbisch-jugoslawische Heckenschützen erinnern. Die Namen der Ermordeten stehen auf Tafeln an den Häuserwänden: Davor Blumenberge, denn in diesen Mai-Tagen gedenken die Katholiken überall im Land ihrer Toten mit Messen. In der Nähe der alten Markthalle verweist ein Schild auf ein kleines privates Museum in einer Nebenstraße: Im ersten Stock ist eine Wohnung mit geschlossenen Fensterläden zu einer Gedenkstätte für die Gräuel der Belagerungszeit 1992 bis 1995 geworden. Die Filme und Videos sind kaum auszuhalten, der blutige Kinderschuh, ein durch Granatensplitter zerstörtes Jungengesicht oder der Pullover mit dem Einschussloch ebensowenig. Im „Tagebuch“ erwähnt Karahasan den Kampf an den Wasserstellen oder um Brot: Die Bilder dazu sind hier zu sehen.

Ich betrachte das alles und versuche, mich zu erinnern: Was haben wir Journalistinnen und Journalisten damals in unseren politischen Redaktionen von dieser grauenvollen Belagerung gewusst, was berichtet? War je ein Reporter aus Frankfurt vor Ort? Oder waren wir so mit der deutschen Vereinigung, dem Bundeskanzler Helmut Kohl und seinen blühenden Landschaften beschäftigt, dass wir diese brutale Zerstörung einer kulturell wie politisch offenen und toleranten Stadt kaum wahrgenommen haben? In meiner Erinnerung taucht nur in den Feuilletons die US-Schriftstellerin Susan Sontag auf, die in der Belagerungszeit „Warten auf Godot“ in dieser Stadt drehte und Essays über die Nähe von Zivilisation und Barbarei in Europa veröffentlichte.

Ich verlasse die düstere Wohnung tief berührt und beschämt, tauche ein in das trubelige türkische Viertel mit seinen Gerüchen aus Kaffee, Fladenbrot, Cévap, zuckertriefendem Gebäck und Burekrollen, gefüllt mit Spinat oder Kartoffelstückchen. Am Ende dieses Viertels dann das große alte Rathaus, die Nationalbibliothek im pseudo-orientalischen Stil, zerschossen am 25./26. August 1992 und vor zehn Jahren rekonstruiert wiedereröffnet. Die 2 Millionen Bücher und Dokumente sind verbrannt, vernichtet das 500jährige historische und kulturelle Gedächtnis dieser Stadt. In dem grellbunten Nachbau gibt es keine Bücher mehr, nur ein Zimmerchen für den Erzherzog, einen Tagungsraum und einen kleinen Gerichtssaal, der an das Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag erinnert. Welche Erinnerungen aber werden bleiben und diese Stadt prägen?

Der „Orient für Touristen“ gehörte für Dzevad Karahasan zu den Veränderungen, „die mich stören und die mir jeden Spaziergang durch die Stadt vergällen“ („Tagebuch“, S. 217). Dennoch blieb Sarajevo für ihn „eine Wunderstadt“, „in der alle oder zumindest die überwältigende Mehrheit“ es ganz natürlich fänden, „dass ein Mädchen in einem kurzen Rock und ihre beste Freundin, die ein Kopftuch trägt, zusammen spazieren gehen und zu Mittag essen“. Möge er und nicht die nationalistischen Zündler oder religiösen Eiferer Recht behalten.

Letzte Änderung: 12.06.2023  |  Erstellt am: 12.06.2023

Tagebuch der Übersiedlung | © Creative Commons

Dzevad Karahasan Tagebuch der Übersiedlung

Deutsch von Katharina Wolf-Griesshaber
223 S., geb.
ISBN-13: 9783518429815
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021

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