Ein Mann, der sein Land liebt

Ein Mann, der sein Land liebt

Vortrag am Sigmund-Freud-Institut

„Zur Wahrheit gehört auch ...“, – dass diese Floskel stets etwas nach sich zieht, was man lieber verschwiegen hätte. Die Geste der enthüllenden Aufrichtigkeit ist mit ihrem Blendeffekt auch imstande, weitere dazugehörige Wahrheiten zu verhüllen. Sophisten haben, wenn es um Krieg geht, viel zu tun. Der Psychoanalytiker, Psychiater und Historiker Eran Rolnik aus Tel-Aviv hat in seinem Vortrag am Sigmund-Freud-Institut die konkurrierenden Wahrheiten über den Krieg in Gaza aus psychoanalytischer Sicht betrachtet.

Zeitgemäßes über Demokratie, politische Zäsur und Antisemitismus

Der Krieg in Gaza mag im Moment sowohl die Prophezeiungen des wahnwitzigen Messianismus der Rechte, die jeden Versuch ablehnen, den Konflikt mit den Palästinensern zu mäßigen, geschweige denn zu lösen, als auch den melancholisch-narzisstischen Pessimismus der Linken erfüllen. Aber beide „Weltanschauungen“ reichen über die Grenzen des Nahen Osten hinaus und gefährden auch westliche Demokratien.

Bei Freud findet man regelmäßig Zitate aus der Weltliteratur, die ironisch, zugleich aber auch analytisch, das Thema des Wissens ansprechen. Seine Ansprache anlässlich der Verleihung des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt 1930 hatte er mit den Worten Mephistos aus Goethes Faust geschlossen: „Das Beste, was du wissen kannst, darfst du den Buben doch nicht sagen.“
Ein zentrales Thema bei Freud ist die Dialektik von Aufklärung und Verhüllung ebenso wie das Verhältnis von Wissen zum Unwissen. Genauer gesagt: die Dialektik von Bewusstwerden und Nichtwissenwollen ist mit dem psychischen Bedürfnis nach Wahrheit einerseits, und der Angst von der inneren Realität andererseits eng verbunden.
Demnach ist auch unser Treffen an diesem Sonntag nicht nur unserer Empörung, Besorgtheit und unserem Mitleiden geschuldet. Zu hoffen wäre, dass wir gerade an diesem Ort gemeinsam auch unser Unwissen und manche unser „Denkstörungen“ (im psychoanalytischen Sinne) und Vorurteile ans Tageslicht bringen und erforschen können.
Warum, fragte ich mich, schwebt mir gerade dieses Faust-Zitat, vermittelt über Freud, seit dem 7. Oktober durch den Kopf?

Möglicherweise, weil mich meine Töchter seit Kriegsbeginn oft fragen, wie ich denn die Chancen einschätze, ob der Krieg bis zu ihrem Geburtstag vorbei sein wird. Also, ganz konkret: das Beste was ich wissen kann, darf ich meinen beiden Zwölfjährigen doch nicht sagen.
Zweitens, weil der Krieg, in dem wir uns befinden, nicht nur unser Verhältnis zum Tod vorübergehend ändert (wie Freud in seinem Aufsatz „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“ argumentierte), sondern auch unser Verhältnis zum Wissen und zum Denken allgemein. Der Kriegt wirkt kontra-analytisch, und nicht nur, weil er etwas Gewaltsames ist, sondern weil er unser Verhältnis zur Humanität entzaubert, unsere Illusionen verstärkt und unbewusste archaische Fantasien auslöst. Der bekannte Ausspruch (von US Senator Hiram Johnson): „Das erste Opfer in jedem Krieg ist die Wahrheit“, beschreibt, meines Erachtens, sowohl die Wirkung von Propaganda auf jegliches objektive Wissen während des Krieges, als auch auf das gestörte Verhältnis zur Wahrheit, das der Krieg in sich birgt. Der Krieg verengt durch ein Wirrwarr von bewussten und unbewussten Identifikationen, die er Auslöst, den Zugang zu unserer inneren Realität und beeinträchtigt somit die Wahrheitsliebe. Psychologisch gesehen, kann man Krieg vielleicht mit einem Rauschmittel oder mit einer misslungenen Psychotherapie vergleichen: Man erlebt viel, transformiert recht wenig, und am Ende bleibt fast alles bei Alten.

Die Psychoanalyse hat manchen Beitrag zum Verständnis „Warum Krieg?“ beigesteuert. Uns fehlt jedoch das Wissen, wie man einen lang andauernden militärischen-nationalen Konflikt beendet oder wenigstens lindert. Wichtig aber scheint mir vor allem das fehlende Wissen, wie man mit politischen Mitteln auf die psychologische Gruppendynamik, die sich in Kriegszeiten entwickelt, eingreifen kann.
In der Regel lassen sich Konflikte zwischen Demokratien auf friedlichem Weg lösen oder temporisieren bzw. suspendieren, während undemokratische und autoritäre Regime Konfliktlösungen gegenüber starre bzw. schizo-paranoide Haltungen einnehmen. Dieses Phänomen scheint bei der jetzigen Israel-Palästina-Krise sich zu bewahrheiten. Man kann sich eine Welt ohne den Israel-Palästina-Konflikt kaum vorstellen.

Am Samstag, den 7. Oktober, waren Hunderte Kämpfer der Terrororganisation Hamas nach Israel eingedrungen und hatten dort Gräueltaten überwiegend an Zivilisten verübt. Dabei wurden etwa 1200 Menschen an einem Tag getötet, mehrere sind vor ihrer Ermordung vergewaltigt oder gefoltert worden. Rund 250 Israelis wurden als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt.
Noch bevor das israelische Militär in Gaza zu operieren und mit aller Härte zurückzuschlagen begann, konnte man Folgendes wahrnehmen: Je grösser die Niederlage, die Israel am 7. Oktober erlitt, desto krasser wurden die antisemitischen anti-israelischen Parolen im Ausland.

Ein marxistischer Professor am Birkbeck College der University of London erklärte, dass die Ermordung von Israelis bei einem Rave halt die „Konsequenz“ sei, wenn man „Partys auf gestohlenem Land“ feiert. Andere Akademiker und viele Studentenorganisationen gaben Stellungnahmen ab, in denen sie sich ausdrücklich weigerten, den genozidalen Charakter der Gewalt anzuerkennen.
Die inflationäre Verwendung des Wortes „Kontext“ ist rasch zu einer rhetorischen Strategie geworden, die es einflussreichen Intellektuellen und Politikern ermöglichte, die Tötung von Zivilisten und Unschuldigen nicht anzuprangern und zu verurteilen. Eine psychohistorische Hemmschwelle, die zu missachten seit dem Vernichtungsantisemitismus des Holocaust einfach unvorstellbar war, scheint seit dem 7. Oktober überschritten zu sein.

Interessanterweise gingen aus der Kritischen Theorie, der Psychoanalyse und der Postkolonialen Theorie intellektuelle und theoretische Ansätze hervor, die unter anderem solchen relativierenden Tendenzen und Konfusionen in der politischen Kultur Vorschub leisten, haben doch sowohl das Denken der Linken als auch die Psychoanalyse ein entscheidendes Element in die Welt gebracht: die Fähigkeit, kritisch über Machtverhältnisse und die zwischen ihnen sich entfaltende Dynamik nachzudenken, sowie das Verständnis, dass unter der Oberfläche des Schweigens oftmals ausbeuterische Strukturen herrschen – verborgene Machtverhältnisse also im Gegensatz zu offener Ausbeutung und unverhülltem Machtmissbrauch.
Diese Denkweise hat in vielen Bereichen wichtige intellektuelle Früchte getragen, sei es ethisch, politisch, wissenschaftlich oder psychologisch. Dank der Arbeiten von Freud, Ferenczi, Klein, Fromm und ihren Anhängern wurden Psychotherapeuten und Sozialwissenschaftler auf Phänomene wie „Identifikation mit dem Angreifer“ oder „Wiederholungszwang“ aufmerksam. Dieses sozialpsychologisch-kritische Element birgt wegen seines immanenten Anspruchs, alles im Kontext von Machtverhältnissen (der sachlich wahr, aber dennoch kontra-historisch sein kann) zu interpretieren, ohne dass es zusätzlicher Hypothesen bedarf, die Gefahr eines blinden Radikalismus in sich. Die Faktizität von Ereignissen und Situationen als solche in ihrer ureigensten Beschaffenheit wird geleugnet oder durch ihre Kontextualisierung relativiert.
So werden politische Gewalttaten – zum Beispiel die Anschläge auf das World Trade Center, die russische Invasion in der Ukraine oder die Ermordung von Israelis durch Hamas-Milizen – lediglich als Teil eines größeren Gefüges betrachtet und diskutiert, als ob sie selbst als solche allein nichts aussagen oder bedeuten würden, als handele es sich bei ihnen um die Fortsetzung einer anderen Gräueltat, die bisher entweder nicht anerkannt oder nicht genügend wahrgenommen wurde.

In der Politik entspricht dem die Reduktion jeder Situation auf das System von Machtverhältnissen. Im Namen des moralischen und politischen Versuchs, auf breiter Front (sogar historische) Gerechtigkeit walten zu lassen, wird die phänomenale Faktizität schrecklicher Geschehnisse geleugnet. Wenn jede menschliche Interaktion auf Machtverhältnisse und Kämpfe um die Kontrolle reduziert wird, fällt es nicht schwer, einen mörderischen Terroranschlag als heroischen oder Empathie heischenden Akt der Befreiung oder De-Kolonisation zu betrachten, als legitimes Mittel im Kampf der Schwachen gegen die Starken. Die darauffolgende Reaktion des Opfers wird dann wiederum zur nachvollziehbaren Reaktion, die entweder als „proportional“ oder „unproportional“ bewertet ist, und die internationale Politik zum „Aktienindex“ von Gewalttaten wird, wo Opfer und Täter um ein ewiges Recht oder zumindest einen historischen Ausgleich konkurrieren.

Inwieweit die israelische Demokratie schon beeinträchtigt ist, zeigt vielleicht mein folgendes Erlebnis:

Ein Monat nach Kriegsbeginn wurde ich zu einer dringenden Vernehmung in die Disziplinarabteilung der Kommission für den öffentlichen Dienst vorgeladen. Dort wurde ich drei Stunden lang zu meinem journalistischen Schreiben und meinen Aktivitäten im Rahmen der Kaplan-Proteste gegen die sogenannte Justizreform der Netanyahu-Koalition verhört. Das Verhör beinhaltete eine eindringliche Befragung über meine politischen Ansichten, die ich in einer Reihe von Artikeln in der Tageszeitung Haaretz zum Ausdruck gebracht hatte (einige sind auch bei FaustKultur hier in Frankfurt erschienen).

Der Vernehmer hatte einen großen Stapel von Ausdrucken meiner Artikel auf seinem Schreibtisch liegen, aus denen er ausgewählte Absätze und markierte Sätze vorlas und mich bat, zu bestätigen, dass ich dazu stehe. Ich wurde gebeten, jeden Ausdruck zu unterschreiben und damit den Inhalt zu bestätigen. Die Zitate, zu denen ich befragt wurde, enthielten unter anderem Verweise auf Premierminister Netanyahu und verschiedene von der Koalition eingebrachte Gesetze. Ich wurde gefragt, ob ich es für angemessen halte, dass ein Beamter – Leitender Arzt des Office for Personal Compensation from Germany, das sich mit deutschen Wiedergutmachungen an Holocaust-Überlebenden befasst – am Kaplan-Protest teilnimmt, auf Kundgebungen von Akademikern und Fachleuten für psychische Gesundheit spricht und Meinungen zu Gesetzen im Zusammenhang mit psychischer Gesundheit und medizinischer Ethik äußert. Ich erklärte dem Vernehmungsbeamten, dass ich als Intellektueller, Arzt, Universitätslehrer und Therapeut das publizistische Schreiben neben meinem akademischen Schreiben als einen Teil meiner Berufung betrachte und seit etwa 30 Jahre betreibe. Ich fügte hinzu, dass meine Veröffentlichungen mit dem Schutz der Rechte des Einzelnen zusammenhängen, und dass ich nicht die Absicht habe, mit dem Schreiben und der Äußerung meiner Meinung aufzuhören. Ich erklärte ihm wie psychische Gesundheit mit Demokratie zusammenhängt (eine gar nicht leicht zu erklärende Thematik, wie wir es auch bei unserem Treffen hier gestern feststellen konnten), und welchen Unterschied es zwischen Aufstachelung und intellektueller Meinungsbildung gibt, zwischen Verfolgung, Patriotismus und Heimatliebe. Das Gespräch war gleichzeitig komisch und verwirrend.

Es war ein Gespräch von der Art, über die ich in meiner Forschung zur Geschichte der Psychoanalyse unter totalitären Regimen in den 1930er und 1940er Jahren geforscht und geschrieben habe. Als ich den Vernehmungsbeamten fragte, ob er kürzlich ähnliche Befragungen durchgeführt habe, hielt er inne und antwortete dann: „Ich hatte vor ein paar Tagen jemanden hier. Er hat in den sozialen Medien ein Bild von Entführten mit einer palästinensischen Flagge gepostet. Sie, Herr Doktor, sind natürlich eine andere Geschichte. Sie sind offensichtlich ein Mann, der sein Land liebt. Ich glaube nicht, dass Sie sich Sorgen machen müssen.“

Ich mache mir trotzdem Sorgen, nicht um mich selbst, aber um eine friedliche Lösung des Israel-Palästina Konflikts in einer Zeit, in der die Existenz Israels und seine demokratische Verfassung in Frage gestellt ist.

„Es ist keine leichte Sache“– so habe ich in meinem letzten Zeitungskommentar ein Monat vor dem Oktober Terror Anschlag geschrieben – „der Geschichte über die Schulter zu blicken, um zu schauen, welche weiterführenden Fragen und Chancen sie uns bieten könnte, abgesehen von jenen offensichtlichen Ereignissen, die sich beständig in unsere Aufmerksamkeit drängen. Sie überstürzen sich derzeit, und wie immer gibt es dabei zufällige, sich akkumulierende Elemente, die im Nachhinein wie sorgfältig geplant und abgestimmt erscheinen. Dennoch erleben wir eine Diskrepanz, die äußerst schwer zu verstehen und zu deuten ist, eine Diskrepanz zwischen dem, was in unserer Vorstellung bislang nur als Möglichkeit existierte – der Zusammenbruch der israelischen Demokratie – und der Form, die dieses Ereignis vor unseren Augen annimmt […] Der Kampf gegen Autokratie und Theokratie, der sich in Israel abspielt, ist aussichtslos, wenn er nur von der melancholischen Sehnsucht nach dem alten Status quo einer ‚High-Tech-Nation‘ motiviert ist oder von der Ausrede, dass „kein Partner für den Frieden“ vorhanden sei. Wer auf den Demos im ‚Anti-Besatzungsblock‘ nur eine Gruppe von Trittbrettfahrern sieht, die den Widerstand gegen den Regierungsputsch behindern, verkennt die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Aktivierung der Strukturen und Werte, die für den Kampf gegen den Rassismus erforderlich ist, der sich schon seit langem nicht nur im messianischen Israel, sondern auch tief im Herzen der liberalen säkularen Mitte eingenistet hat.”

Die Proteste gegen die sogenannte Justizreform im vergangenen Sommer haben gezeigt, dass Millionen von Menschen in Israel bereit sind, für die Demokratie zu kämpfen. Nur eins haben die meisten Israelis nicht verinnerlicht: Es gibt keine echte Sicherheit, solang die Siedlungspolitik in dem von Israel 1967 besetzten Gebieten und die Rechte der Palästinenser nicht Bestandteil der israelischen Demokratie sind.
Aber die Palästinenser scheinen ihrerseits auch seit der Ermordung von Ministerpräsident Rabin 1995, nach dem Scheitern des Oslo Friedensprozesses und dem Ausbruch der Zweiten Intifada im September 2000 immer tiefer in einer islamistischen Phantasiewelt versunken, dass sich 9 Millionen Israelis eines Tages in Luft auflösen.

Der 7. Oktober und der darauffolgende Gaza-Krieg dürften gerade das Unvorstellbare gewesen sein, das den Zusammenbruch der israelischen Demokratie in sich barg. Allein die Tatsache, dass 5 Monate nach Kriegsbeginn Israel das Leben der entführten Israelis weiterhin aufs Spiel setzt und der Kriegsführung den Vorrang gibt, deutet darauf hin, dass das offizielle Israel nicht nur seine realen Feinde abwehrt, auf eine Weise, die sein eigenes Ethos widerlegt, sondern seiner Machtlosigkeit and Abhängigkeit von seinen Alliierten weiterhin auszuweichen versucht.
Die Vorstellung eines heiligen Vernichtungskriegs, von dem bis vor kurzem nur fundamentalistische Islamisten und die jüdische Rechtsradikale träumen konnten, macht sich in den israelischen Medien und im öffentlichen Diskurs breiter als je zuvor. Geführt von einem Premierminister, der in seinem Geist und seiner Persönlichkeit alles verkörpert, was im heutigen Israel krank und faul ist, übergibt sich Israel einer Orgie moralischer und wirtschaftlicher Selbstzerstörung, getarnt als Solidarität mit dem Krieg.
Ein Gewirr von politischen und strategischen Bilanzierungen, von militaristischer Eifersucht, von Werten und Normen wird diskutiert, um Rache und Vergeltung politisch-strategisch zu rationalisieren und moralisch wie psychologisch zu rechtfertigen. Gestern bei der Demonstration wurden die Angehörigen der Entführten Ziel der Wasserkanonen der Polizei.

An dieser Stelle möchte ich noch einige Gedanken zum Thema Antisemitismus anknüpfen:
Das Phantom des Antisemitismus ist Teil der deutschen Nachkriegszeit im politischen, kulturellen und intellektuellen Leben. Vielleicht, und das sage ich als Außenstehender, muss es auch so bleiben, denn der Antisemitismus hat eine gewisse Schutzfunktion im kulturpolitischen Immunsystem der deutschen Demokratie. Gesellschaftliche und individuelle Psychosen brauchen Ihre Atmungslöcher.
Das Aufflammen des Hasses auf Juden mag diesmal nicht nur die Siedlungspolitik Israels sein, sondern die Schuldgefühle an der Ermordung von Juden in ihrem Heimatland. Möglicherweise löst die genozidale Ermordung von Juden mörderische Phantasien auch bei den am Konflikt nicht Beteiligten aus, weil er gerade als das Überschreiten einer ganz bestimmten, aufgrund des Holocaust tabuisierten, moralischen Transgression unbewusst interpretiert wird.
In unserem Zeitalter der Identitätspolitik, wird Empathie oder Mitleidenhaushalt strengst überwacht, damit es bloss nicht in die falsche Richtung fliesst, nur die ganz Schutzlosen dürfen darin schwelgen. Eine vergewaltigte junge Israelin ist nach dieser Gefühlsökonomie kein mitleidenswürdiges Opfer.

Eine Umkehrung des Genozid-Begriffs findet statt. Die Verschiebung des Opferstatus von Juden auf Palästinenser als Folge des 7. Oktobers ist nicht nur der brutalen Kriegsführung Israels geschuldet, sondern auch dem südafrikanischen politischen Unbewussten, das den Krieg in Gaza zum Anlass nimmt, die Shoa und die Juden von ihrer Ikonisierung als Opfer genozidaler Kriegsverbrechen zu entkoppeln. 
Der messianische, verrückte Teil Israels, der sich auf schleichende Weise seit dem Sechstagekrieg immer weiter ausbreitet, hätte sich keinen besseren Konkurrenten für seine Wahnvorstellungen wünschen können, als der sich ihm neulich der Internationale Gerichtshof in Den Haag anzubieten scheint.


Auf einen weiteren Faktor für die Wiederkehr des Antisemitismus im öffentlichen Diskurs möchte ich auf die Wechselwirkung zwischen Islamophobie und Judenhass hinweisen. Seit dem 11. September 2001 etwa ist der Tod nicht mehr ein „Meister aus Deutschland“, wie es im 20. Jahrhundert galt. Er trägt nun oft die Merkmale des fundamentalistischen Islam. Der Israel-Palästina-Konflikt fungiert in der westlichen Vorstellung als Schaltstelle für die Verwischung der Grenzlinien zwischen Israel-Kritik und Judenhass. Aber auch das offizielle Israel treibt seit den 1960er Jahren diese Konfusion zwischen legitimer politischer Kritik und historischem Judenhass in der Öffentlichkeit voran. Sie ist keine Erfindung der israelischen Rechten. Bereits 1969 hat der israelische Außenminister der Sozialdemokratische Partei Abba Eban in einem Interview im Spiegel gesagt: „Die Landkarte vom 4. Juni 1967 ist für uns gleichbedeutend mit Unsicherheit und Gefahr. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass sie für uns etwas von einer Auschwitz-Erinnerung hat.“

Dennoch darf das Erwachen des europäischen und amerikanischen Antisemitismus nicht ausschließlich dem Konto des Israel-Palästina-Konflikts zugeschrieben werden.

Als transhistorisches Phänomen stellt uns der Antisemitismus ständig vor neue Fragen moralischer und epistemischer Natur. Der Hass auf Juden unterlag vielen historischen Veränderungen, ist aber im Grunde der gleichen unbewussten Phantasie treu geblieben: das Rätselhafte an den Menschen und an dieser Welt auszurotten, Unwissen und Unbewusstes mittels projektiver Identifikation loszuwerden. Die Tatsache, dass dieser Hass wieder in unserem Leben präsent ist, bedeutet nicht nur eine nicht zu unterschätzende Gefahr für jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger; sie bedeutet auch, dass der Mensch nach wie vor imstande ist, gegen seine eigene Humanität zu verstoßen.

Ob spontan oder politisch organisiert, Antisemitismus ist ein sozialpsychologisches wie kulturpolitisches Warnsignal für eine Gesellschaft, denn in der Geschichte waren die Juden wiederholt so etwas wie ein Prüfstein für eine tiefgreifende historische Veränderung, die nicht nur ihr Schicksal als Minderheit betraf. Gerade deshalb sollte die Eskalation im Israel-Palästina-Konflikt und der Zerfall der israelischen Demokratie als Warnsignal für die Zukunft anderer Demokratien verstanden werden. Wenn Israel und Judenhass der bevorzugter Treffpunkt von Coronaleugner, Klima Aktivisten, Cancel-culture Befürwortern, dann sind das „Bad News“ für jede Demokratie.

Schließlich war es nicht die Gewalt, die dieses alte Volk 3.500 Jahre lang überleben hat lassen. Das jüdische Dasein war nie von dem Gesichtspunkt der Sieger geprägt. Es war stets bereit, auch Niederlagen und Pogrome so zu betrachten, dass es möglich war, ihnen historische, moralische und intellektuelle Bedeutung beizumessen.

Die Geschichte Deutschlands sowohl im 19. Jahrhundert als auch des 20. Jahrhunderts lehrt auch etwas Wertvolles für den Nahostkonflikt, nämlich dass nationalistische Tendenzen überwunden werden können, dass Niederlagen durchaus Ausgangspunkt für friedliche Entwicklungen sein können, und dass „Zwangsbehandlung“ oder Intervention seinen Platz hat, nicht nur in der Psychiatrie, sondern auch in der internationalen Politik.

Der Krieg in Gaza mag im Moment sowohl die Prophezeiungen des wahnwitzigen Messianismus der Rechten, die jeden Versuch ablehnen, den Konflikt mit den Palästinensern zu mäßigen, geschweige denn zu lösen, als auch den melancholisch-narzisstischen Pessimismus der Linken erfüllen. Aber beide „Weltanschauungen“ reichen über die Grenzen des Nahen Osten hinaus und gefährden auch westliche Demokratien.

Pessimismus ist bekanntermaßen kein brauchbares politisches Programm. Das darf man den Buben doch sagen? Für mich als Psychoanalytiker im Nahen Osten kommt die Daseins-Metapher vom „Schiffbruch mit Zuschauer“ immer weniger im Betracht.
 
 
(Vortrag am Sigmund Freud Institut 25. Februar 2024)

Letzte Änderung: 29.03.2024  |  Erstellt am: 29.03.2024

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