Ist die Auswanderung aus Israel legitim? In einer Zeit, in der die Stimme der demokratischen und humanistischen Zivilgesellschaft in Israel immer schwächer wird, bedarf es mehr denn je einer zionistischen, multikulturellen und aufgeschlossenen israelischen Diaspora, meint Eran Rolnik.
Israel befindet sich derzeit mitten in einem Regierungsputsch, der es in kürzester Zeit von einer substantiellen Demokratie in eine Autokratie verwandeln wird. Im Selbstrechtfertigungsdiskurs des Staates Israel wird zur gleichen Zeit nicht nur das Recht der in der Diaspora lebenden Juden auf israelische Staatsbürgerschaft kontrovers diskutiert, sondern auch die Legitimität der Abwanderung jüdischer Staatsbürger aus Israel. Die Fakten sind bekannt: Tausende junger und weniger junger Israelis suchen in den letzten Jahren und nun mehr denn je ihre Zukunft außerhalb Israels.
Insbesondere in der Orientierung jüdischer Israelis nach Deutschland drückt sich dabei ein beinahe „unheimliches“ Spukbild aus. Dem Staat Israel, selbst europäischen Ursprungs, wächst in Deutschland eine Art Doppelgänger heran, während er sich zunehmend vom europäischen Universalismus distanziert. Wer nun in den Straßen Berlins flanieren geht, trifft dort nicht nur auf Israelis in erstaunlicher Menge und Vielfalt, sondern auch auf eine postmoderne Variante der Israel zugrundeliegenden Staatsvision, die wie ein metaphorisches Vintage-Geschäft für Israelischkeit anmutet.
Doch jedes Mal, wenn die Abwanderung aus Israel öffentlich zur Sprache kommt, stockt die Diskussion just an der Stelle, an der sie in den 1970er Jahren steckengeblieben war. Wer den Sinn eines Lebens in Israel hinterfragt, steckt sofort von allen Seiten Prügel ein: „Hau doch ab, Du Looser”, schlägt die rechte Seite vor; „reiner Defätismus”, wirft die linke vor. Und so bleibt den derart Malträtierten nur noch apologetisch klein beizugeben: „Das ist doch mein Recht, ich habe in der Armee gedient, zahle Steuern, bin freischaffend, und was soll man machen, wenn man nun mal einen ausländischen Pass hat…” – und dergleichen Argumente mehr, die darauf hindeuten, dass man dazu neigt, das eigene Auswanderungsbedürfnis als Ausdruck persönlicher Entscheidungsfreiheit und Selbstverwirklichung zu verstehen. Nicht aber unter historischen, ethischen und universellen Aspekten. Und so wird der Auswanderungsabsicht letztendlich jegliche, über das persönliche Interesse hinausgehende Implikation für ein positives politisches Handeln abgesprochen.
Unter bestimmten Bedingungen bröckelt jedoch die feindselige und beleidigende Haltung der Israelis gegenüber jenen, die ihren Wohnsitz außerhalb der Landesgrenzen einrichten wollen. Rechtfertigt ein Migrant seine Auswanderung mit wirtschaftlichen Gründen, so findet sich stets jemand, der sich ein Herz nimmt und versöhnlich zeigt. Gibt er sich gar als jemand zu erkennen, dem Israel zu provinziell ist und der seine Berufung eher in Hollywood auf dem Walk of Fame verwirklicht sieht, im Silicon Valley oder in einem Forschungslabor der Princeton University, dann ist ihm Jubel gewiss. Derartige Kulturheroen erscheinen häufig genug in selbstgefälligen Artikeln der hebräischen Presse. Sie verstehen es meisterhaft, den Narzissmus ihrer Stammesgenossen zu bedienen, die ihnen zum Dank dafür nicht die kalte Schulter zeigen. Das Gespräch über die israelische Abwanderung ist also verfehlt, doch es lohnt der Versuch, es gerade jetzt aus der eingefahrenen Bahn zu ziehen, in der es seit Jahrzehnten seine Kreise dreht.
„Es gibt Siege, die sind schwerer zu ertragen als Niederlagen“, so zitierte der israelische Historiker Jacob Talmon den deutschen Philosophen Nietzsche in einem Brief an Menachem Begin, der im März 1980 in der israelischen Zeitung Haaretz unter dem Titel „Das Vaterland ist in Gefahr“ veröffentlicht wurde. „Das Bestreben, noch gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts eine fremde, feindlich gesinnte Bevölkerung zu unterwerfen und zu beherrschen, die sich in Sprache, Geschichte, Kultur, Religion, Bewusstsein und nationaler Bestrebung, in ihrer Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur unterscheidet, ist eigentlich ein Versuch der Wiederbelebung des Feudalismus”, schrieb Talmon. Tatsächlich untergräbt die militärische Überlegenheit Israels, die ihr Fortbestehen auch in Abwesenheit politischer Perspektiven ermöglicht, weiterhin das eigene, demokratisch-liberale Fundament.
Niemand weiß, ob es der israelischen Gesellschaft und Demokratie gelingen wird, aus sich selbst heraus jene Kräfte zu entwickeln, die notwendig sind, um dem Prozess der Selbstzerstörung Einhalt zu gebieten, dem sie in Folge der Besatzung und Unterdrückung des palästinensischen Volkes unweigerlich ausgesetzt ist. Niemand weiß, wann es Israel gelingen wird, auf den eigenen Überlegenheitsanspruch zu verzichten, von deren Warte es der Konfrontation mit seinen unterdrückten Ängsten ausweicht. Niemand weiß zudem, wann die Bedingungen für die internationale Gemeinschaft reif sind, in unzweideutiger Sprache das Ende des israelisch-palästinensischen Konflikts einzufordern.
Es genügt, sich der Sprachlosigkeit zu entsinnen, von der die israelische Linke immer dann zutiefst betroffen ist, wenn die Kanonen donnern, um zu verstehen, dass sich die israelische Gesellschaft seit Staatsbeginn nicht weiterentwickelt hat: es ist noch immer die gleiche, im tiefsten Wesen konformistisch indoktrinierte und militaristisch mobilisierte Gesellschaft, unfähig, sich aus dem Griff der nationalistischen und messianischen Tendenzen zu befreien, denen sie unterworfen ist. Und während sich die Macht- und Einflussquellen der politischen Rechten seit Jahrzehnten schon über die Grenzen Israels ausgedehnt haben, werden in linken Kreisen nur diejenigen dazu gezählt, die bei der letzten Demonstration im Stadtviertel mit von der Partie waren.
Unter solchen Bedingungen können es sich die liberalen und humanistischen Kräfte, die sich um die Zukunft des Zionismus sorgen, nicht leisten, aus ihren Rängen jene Israelis auszuschließen, die außerhalb ihres Territoriums leben wollen. Ihr Abwandern drückt nicht nur den selbstverständlichen Wunsch nach einem besseren Leben aus, sondern auch den Wunsch nach einem besseren Israel. Die Israel den Rücken Kehrenden spielen eine wichtige historische Rolle bei der Rettung des demokratischen Staates vor den zerstörerischen Kräften, die von ihm ausgehen.
Man kann sich unmöglich der politischen und sozialen Bedeutung verschließen, die von der Präsenz Tausender Israelis in Europa, Australien und den Vereinigten Staaten zu einer Zeit ausgeht, in der sich Israels Ansehen in der internationalen Arena auf einem Höchsttief befindet. Der Einfluss dieser „inoffiziellen Botschafter“ auf die Beziehung Israels mit den in der Diaspora lebenden Juden auf das Image des jüdischen Staates sowie auf seine Rechtfertigung der unheimlichen Krise, von der er heimgesucht wird, gleicht dabei den Schaden etwas aus, den die trügerische Propaganda-Rhetorik des offiziellen Israels anrichtet.
Die Stimme der demokratischen und humanistischen Zivilgesellschaft in Israel wird immer schwächer. Ein zurechnungsfähiges Israel bedarf einer zionistischen, multikulturellen und aufgeschlossenen israelischen Diaspora, die unter besseren Bedingungen keimt und gedeiht, als sie die israelische Öffentlichkeit derzeit zulässt. Gebt den Auswanderungswilligen also Euren Segen auf den Weg und erspart ihnen Eure Moralpredigten. Ihr Weg ist kein einfacher. Außerdem ist es nicht ausgeschlossen, dass ihre Auswanderung in Zukunft sogar als positiver und prägender politischer Akt gesehen wird. Vielleicht sogar als weitsichtiger Schritt hin zur notwendigen Korrektur jener historischen Fehlentwicklung, die den Zionismus tiefgreifend beeinträchtigt.
Aus dem Hebräischen von Jan Kühne.
Letzte Änderung: 16.03.2023 | Erstellt am: 14.03.2023
Eran Rolnik Redekur
Psychoanalyse verstehen
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