Vor kurzem plädierten die beiden Publizisten Niko Alm und Helmut Ortner unter der Überschrift „Ohne Kruzifix und Kopftuch“ für den säkularen Verfassungsstaat als Voraussetzung der Religionsfreiheit, für den Glauben als Privatsache. Das hat Peter Kern zu einer Erwiderung herausgefordert, in der er die aufgeklärte Theologie gegen die säkulare Aufklärung in Stellung bringt.
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ So lautet ein nach seinem Urheber benanntes Theorem. Während der konservative Staatstheoretiker Böckenförde glaubt, dem säkularen Staat seien religiöse Bindungskräfte nötig, glauben die Autoren des Faust-Artikels Ohne Kruzifix und Kopftuch, (https://faustkultur.de/gesellschaft-essay-reportage/ohne-kruzifix-und-kopftuch/) dazu reiche ein in der Tradition der Aufklärung stehender Humanismus aus. Das staatliche Gemeinwesen müsse sogar dafür sorgen, die Schulen von religiöser Erziehung zu säubern. Denn diese Erziehung widerspricht dem humanistischen Bildungsideal, sie ist unwissenschaftlich und ein Einfallstor für religiöse und auch politische Propaganda. Ihr Artikel versteht sich als Plädoyer, alle den Religionsgemeinschaften zustehenden Privilegien endlich abzuschaffen. Niko Alm und Helmut Ortner hätten vermutlich nichts dagegen, ihre Religionskritik der Tradition klassischer Aufklärungsliteratur zuzuordnen. Klar und konzis ist das Pamphlet ja auch geschrieben.
Diese Erwiderung will nicht ermessen, wie weit diese Privilegien noch reichen. Auch will sie nicht zeigen, dass die vom Humanismus herkommende, um die Rechte des Einzelnen zentrierte politische Ethik moderner Gesellschaft nicht dem hohlen Bauch entstammt, sondern dem religiösen Erbe. Die individuellen, unveräußerlichen Freiheitsrechte und die unsterbliche Seele: da herrscht ein genealogisches Abstammungsverhältnis; Jürgen Habermas hat dies gezeigt. Leugnen will sie nicht den Verweis auf die in den Dienst von Herrschaft genommenen Religionen. Dies betrifft die Vergangenheit der christlichen Welt und die Jetztzeit der islamischen, wo Sittenwächter Frauen totschlagen, die den Tschador ablegen und Imame Männer segnen, die gegen die Juden in den heiligen Krieg ziehen. Der vorliegende Text setzt sich mit dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit der religiösen Sache auseinander. Er stößt sich an dem behaupteten Nexus von Religionskritik, Wissenschaftlichkeit und Progressivität. Dieser Dreiklang ist dem Artikel von Alm/Ortner wie eine Basslinie unterlegt.
Demnach will der Autor gegen die Genannten eine wissenschaftlich gesicherte Religion in Aussicht stellen? Klingt nach Scientology, braucht kein Mensch. Das will der Autor nicht. Aber er argumentiert, religiösem Bewusstsein komme ein fundamentum in re zu. Er argumentiert, naturwissenschaftliches Erkennen könne nicht als die einsame Spitze menschlicher Rationalität gelten. Zeigen will er, dass es neben dem mit wissenschaftlicher Methode begründeten Wissen und dem auf Offenbarung gegründeten Glauben ein Drittes gibt. Und abschließend behauptet er, mit einer aufgeklärten Theologie zu argumentieren würde einer zu erneuernden Linken gut zu Gesicht stehen.
Religiöse Weltbilder nehmen für sich in Anspruch, auf die Frage der Kosmologie die überzeugende Antwort zu liefern, indem sie, handelt es sich um die monotheistischen, auf den Schöpfergott verweisen. Alm/Ortner gilt dieser Verweis als unwissenschaftlich. Was impliziert, es gäbe eine von naturwissenschaftlicher Theorie gestützte Entstehungsgeschichte der Welt. Aber die gibt es doch; Darwins Theorie der natürlichen Auslese hat sie geliefert, oder? Er hat dies keineswegs; denn er will weder die Evolution belebter aus unbelebter Natur beweisen, noch die Genese von Sprache und Bewusstsein aus dem Mechanismus von Mutation und Auslese. Das ist erst der Ehrgeiz der die Evolutionstheorie in Weltanschauung umbiegenden Adepten gewesen. Darwin, biografische Notiz am Rande, war übrigens keineswegs Atheist.
Auch der auf die ewig replizierende Zelle als Motor der Evolutionsmechanik verweisende Neodarwinismus verstrickt sich in Ungereimtheit. Der Einzeller ist aus toter, nur chemische und physikalische Eigenschaften besitzenden Materie hervorgegangen? Dann muss sich dieses Wunder im Labor reproduzieren lassen. Oder, alternative These: Die Zelle als Baustein des Lebens ist immer schon da gewesen, konnte in der Erdgeschichte aber, ihrer wässrigen Beschaffenheit wegen, keine fossile Spur hinterlassen? Der für den Atheismus zeugende Beweis kommt dem der sowjetischen Sojus-Besatzung gleich: Man sei nun weit im All herumgekommen, ein göttliches Wesen habe sich aber nicht blicken lassen.
Die für die Welterklärung in Anspruch genommene Zellbiologie muss von ihrem Gegenstand Widersprechendes behaupten: Die der Zelle zugrunde liegenden Bausteine (Basen-, Zucker- und Phosphatmoleküle) sind zur Selbstorganisation fähig, ordnen sie sich doch zur DNA. Die konstituierte informationshaltige Zelle trifft auf ein stoffliches Gegenüber, das ihren Code lesen kann. Dieser ihr synchrone Naturstoff verdankt sich dem Zufall, und aus ihm und dem blinden Mechanismus gehen im Lauf der geologischen Zeit immer komplexer werdende Naturstoffe hervor. Als krönender Abschluss der Evolutionsgeschichte feiert sich dann der Mensch, der, wissenschaftlich aufgeklärt, den religiösen Unsinn endlich hinter sich lassen kann.
Der US-amerikanische Philosoph Thomas Nagel hat seine Kritik naturwissenschaftlich argumentierender Kosmologie so formuliert: Die herrschende Lehre, wonach das Hervorgehen des Lebens aus toter Materie und dessen Evolution bis zu den gegenwärtigen Lebensformen durch zufällige Mutation und natürliche Auslese nichts weiter erfordert hat als die Wirkung der physikalischen Gesetzmäßigkeit, kann nicht als unangreifbar betrachtet werden. Alm/Ortner in ihrem Faustkultur-Artikel stehen in der Tradition dieser herrschenden Lehre. Darwinismus, Neodarwinismus und Monods Theorie des Zufall sind ihre gängigen Vertreter. Diese mögen die Berufungsinstanz der beiden auf Wissenschaftlichkeit pochenden Autoren sein, auch wenn sie sich darauf nicht explizit beziehen. Man könnte diese Ideologeme die heiliggesprochene physikalische Wissenschaft nennen.
Die Gesetze der Physik, der Chemie, der Biologie leisten nicht, was einmal die Gottesbeweise in der Philosophiegeschichte leisten wollten. Okay, lässt sich entgegnen, aber damit ist nicht im Umkehrschluss der Gottglaube rehabilitiert. Der zitierte Nagel, der mit seinem Einwand eine heftige Debatte in der angelsächsischen Philosophie auslöste, hält schon mal nichts von einem Designer, der sich und uns die Welt zurechtgeschneidert hat. Das tun vom intelligent design sprechende konservative US-amerikanische, gegen den Darwinismus wetternde Evangelikale. In die Nähe solcher Gestalten will natürlich niemand kommen. Was aber könnte eine intellektuell verantwortbare Weltauffassung sein? Und ist eine theologisch begründete deshalb ausgeschlossen, weil Religion und eiferndes Vorurteil als Synonyme gelten müssen? Oder ist dies vielleicht selbst ein Vorurteil, ein Ticketdenken, dem linke Leute gerne unterliegen?
Statt eines göttlichen Karl Lagerfeld schwebt Nagel ein neuer Typus von Gesetzen vor. Was die schulmäßige physikalische Wissenschaft nicht leisten kann, die Entstehung menschlichen Bewusstseins zu erklären, könnten Gesetze höheren Grades plausibel machen. Das Komplexe, das Bewusstsein, so Nagel, ist von einer höheren Qualität als die Elemente, aus denen es hervorgegangen ist. Es ist dieser Gedanke, der ihn veranlasst, einen mit der Materie gleich ursprünglichen Geist anzunehmen. Auch diesen Geist sieht er in die Evolutionsgeschichte verwickelt. Er sei der Materie gleich ursprünglich und er teile mit ihr den gleichen Aspekt, absichtslos zu sein. Zwei absichtslose Substanzen bringen in ihrem Zusammenspiel die geordnete Dingwelt hervor? Man muss an die sprichwörtlichen zwei Dummen denken, die einmal etwas Vernünftiges zustande bringen.
Warum denkt Nagel die Kosmologie absichtslos? Er würde bei einer planenden Vernunft landen, wäre das Nicht-Absichtslose für ihn eine gedankliche Option. Aber diesem Gedanken weicht er aus und geht damit konform mit der Geschichte der modernen Philosophie. Gott ist nun mal tot, da beißt die Maus keinen Faden ab. Alm/Ortner könnten jetzt sagen: Der von dir ins Feld geführte Philosoph gibt doch eher unserer Religionskritik recht als deiner Apologie. Das ist richtig, aber das bügelt die Unebenheit der Argumentation nicht aus
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Rational ist es, eine allmächtige göttliche Vernunft zu denken, auch wenn man damit gegen die herrschende Wissenschaftsgläubigkeit verstößt. Denn eine materialistische Philosophie ist so wenig durchführbar wie Nagels Synkretismus aus Materialismus und Idealismus. Es gibt das Naturgesetz 2.0 nicht, dem das Vermögen zukommt, die zueinander passenden Naturstoffe und zweckmäßigen Naturgesetze auszuwählen, die es braucht, damit ein organisches Ganzes entsteht. Das diese Prozesse steuernde Prinzip gehört einer anderen, nicht physikalisch bestimmbaren Schicht an. Diese Schicht ist für menschliche Vernunft nicht begrifflich fassbar. Aber wir müssen sie für wahr halten, sonst lässt sich Natur nicht rational denken. Zwar gilt das Bilderverbot sowohl in seiner am Berg Sinai, wie auch in seiner in Frankfurt formulierten Fassung. Das Bilderverbot lautet aber nicht: Kein Bild von niemand. Das Verbot und die Kritische Theorie präzisiert und das Fürwahrhalten begründet zu haben, ist das Verdienst von Karl Heinz Haag (dessen hundertster Geburtstag Anlass für ein Tagung im Dezember dieses Jahres sein wird).
Mit einer aufgeklärten Theologie zu argumentieren, rät der Autor dieses Textes einer zu erneuernden Linken. Versteht sie sich nicht dazu, wird sie, so seine Befürchtung, ihre Zukunft hinter sich haben und endgültig zur Beute der sinistren Rosa Luxemburg-Wiedergängerin werden. Traut sie sich, diesen Sinneswandel zu vollziehen und ihre Religionskritik zu kritisieren, kann sie vielleicht doch einmal die nötige Kraft entwickeln, um die unbeherrschte Naturbeherrschung einzubremsen. Der Kapitalismus stützt sich zu seiner Rechtfertigung auf eine Lehre, die die professionellen Denker bestätigen, und die den Individuen den Gedanken an eine andere Gesellschaft austreiben soll: Die menschliche und die äußere Natur seien wesenlos, und in einer Welt ohne Sinn sei es am besten, in der Konkurrenz mit dem anderen seinen eigenen Vorteil zu suchen. Eine den Gedanken der Solidarität mit Theologie verteidigende Linke: Diesen Gedanke auszuführen, wäre einen eigenen Artikel wert. Vielleicht hat er auf der erwähnten Tagung die Chance, diskutiert zu werden; denn dort soll es, so ist zu hören, nicht um das Rechthaben im akademischen Streit gehen, sondern um die Suche nach einer Emanzipationsstrategie.
Der Autor dieser Zeilen bittet Niko Alm und Helmut Ortner am Ende seines Textes um Entschuldigung. Er hat ja ihren Artikel als Mittel genutzt, um sich zu verbreiten. Vielleicht ist das zu entschuldigen, geht es doch um die gemeinsamen Suche nach einer Aufklärungsstrategie. Und ein Jean Paul-Zitat aus dem Siebenkäs fällt dem Autor ein, das ihn anklagt und freispricht zugleich: „Die Menschen sind so sehr in ihre Ich eingesunken, daß jeder den Küchenzettel fremder Leibgerichte gähnend anhört und doch mit dem Intelligenzblatte der seinigen andere zu erfreuen meint.“
Siehe auch:
Ohne Kruzifix und Kopftuch
Letzte Änderung: 21.01.2024 | Erstellt am: 21.02.2024
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Ohne Kruzifix und Kopftuch