Die Chefin und das Auto
Ein halbes Jahrhundert Alltag auf dem Subkontinent. Hat sich in dieser Zeit irgendetwas an der Situation indischer Frauen geändert? Clair Lüdenbach sprach mit Roshanara Sooppiyaragath über Unternehmerinnen in Kerala und ihre beginnende Selbstermächtigung in einer patriarchalischen Gesellschaft.
Als ich vor 50 Jahren zum ersten Mal nach Indien kam, dachte ich, Frauen konnten in diesem Land alles werden, wie die damals regierende Ministerpräsidentin Indira Gandhi bewies. Und tatsächlich gab es Schulleiterinnen, Musikerinnen, Ärztinnen und unzählige Krankenschwestern. Auch hinter fast jedem Postschalter saß eine Frau, allerdings in der niedrigsten Position. Frauen wurden in der Regel jung verheiratet, und dann endete für viele die Karriere. Wer es in eine gehobenere Position, wie Ärztin, Schulleiterin oder gar Politikerin schaffte, kam mit Sicherheit aus der alten privilegierten Oberschicht. In den Jahrzehnten seitdem hat sich an diesem System der Bildungsungleichheit wenig verändert, nur es gibt heute eine viel breitere wohlhabende Mittelschicht, die ihren Mädchen eine hervorragende Berufsausbildung ermöglichen. In den ersten Jahren dieses Jahrtausends machte ich mich auf die Suche nach Frauen in Führungspositionen. Dabei fand ich erstaunlich viele, die Unternehmen in ganz unterschiedlichen Wirtschaftszweigen leiteten. Am meisten beeindruckt hat mich allerdings Ela Bhatt, die nach der Unabhängigkeit SEWA (Self Employed Women’s Association), ein Selbsthilfenetzwerk für Frauen, ins Leben rief, angefangen von der Bank für Frauen bis hin zur landwirtschaftlichen Kooperative. SEWA hat bis mittlerweile 2,5 Millionen Mitglieder.
Heute bilden Frauen, die sich selbständig gemacht haben und ein kleines Unternehmen oder einen Handwerksbetrieb leiten, in manchen Regionen ihr eigenes Netzwerk. Ich erfuhr von diesem Zusammenschluss bei einem Besuch in Kerala.
Home Stay nennt man dort kleine Unterkünfte, wo das gemeinsame Frühstück und Abendessen aller Bewohner wesentlicher Teil des Konzepts ist. Roshanara Sooppiyaragath, kurz: Rosie, betreibt südlich von Kannur im indischen Bundesstaat Kerala, gemeinsam mit ihrem Mann Nazir, so ein kleines Gästehaus in einem malerischen Palmenwald mit Blick aufs Meer. Während Covid wurde sie von einer Unternehmerin in Kochi gebeten, doch ihrem Netzwerk von Frauen beizutreten. Im Raume Kochi, das ungefähr 300 km südlich von Kannur an der Küste liegt, haben sich über hundert Frauen diesem Verbund angeschlossen. Nun versuchen auch Unternehmerinnen aus dem Bezirk Kannur den Zusammenschluss.
Noch gehören sie zum Verbund von Kochi, so erzählt Rosie. Wenn einmal genügend Frauen aus ihrer Region zum Netzwerk gehören, dann soll es eigenständig werden. Doch was ist die treibende Kraft, so ein Netzwerk aufzubauen?, fragte ich Rosie. In Indien werden Frauen immer noch marginalisiert. Wenn sich die Frauen unter männliche Unternehmer mischen, dann werden ihnen Plätze in den hinteren Reihen zugwiesen.
Frauen wird in der Regel eine Führungsrolle im Unternehmen nicht zugetraut. Die indische Gesellschaft ist vorwiegend patriarchalisch strukturiert. Aus den führenden Familien-Clans kann durchaus eine Frau wie Indira Ghandi in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft die Führungsrolle übernehmen. Aber in der Mittelklasse ist eine weibliche Unternehmerin noch eine Ausnahme. Heute werden nicht nur Frauen wie Rosie, die es spannend finden, so etwas aufzubauen und mit Leib und Seele Gastgeber sind, Unternehmerinnen. Viele Frauen sind dazu gezwungen, sich eine eigene Einkommensquelle zu erschließen. Auch in Indien gibt es alleinerziehende Frauen oder Witwen, die ihre Familie ernähren müssen und deshalb in die traditionelle Männerrolle finden. Andere Frauen bauen dagegen allein aus der Lust am kreativen Gestalten eine kleine Firma auf. Im Homestay von Rosie und Nazir ist Rosie diejenige, die das Unternehmen nach außen leitet. Was aber verbindet die Frauen aus den unterschiedlichsten Unternehmensbereichen?, fragte ich Rosie. Eben weil Frauen nicht das gleiche Ansehen genießen, bauen sie ein eigenes Netzwerk zur Weiterbildung im Finanzwesen oder zum Erfahrungsaustausch auf. Gleichzeitig können sie sich gegenseitig, nach Bedarf, Kunden vermitteln. Rosie hat für die Wünsche ihrer Gäste immer eine erstklassige Adresse. Vielleicht liegt der Grund, warum Rosie die treibende Kraft in ihrem Partner-Unternehmen ist, darin, daß sie aus einer matrilinearen, moslemischen Familie stammt. Diese Familienordnung gibt es bis heute in Kerala sowohl in einer bestimmten hinduistischen Kaste als auch bei einigen moslemischen Familien. Auch wenn Indien den Frauen mehr Chancen eröffnet, ist das Land weit entfernt von Gleichberechtigung für Mann und Frau. Mädchen sind für die Bevölkerungsmehrheit mehr Last als Freude, denn sie müssen verheiratet werden, und das kostet. In der indischen Online-Zeitung „LiveWire“ stand kürzlich: „Brautgeld in Kerala: ‚Glückwunsch zur Hochzeit! Welches Auto bekommst du?’“
Letzte Änderung: 08.03.2023 | Erstellt am: 08.03.2023
Das sind vier Beispiele aus dem Unternehmerinnen-Netzwerk.
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