Der Zufall Gott

Der Zufall Gott

Facebook, Gretchenfrage, Kritische Theorie
Venezia | © Bernd Leukert

Semele hat dran glauben müssen, an den Gott der Götter Zeus, dessen ganzer Glanz aus einem Blitz bestand. Nur auf Abbildungen hat er diesen Blitz, der nach Heraklit, wie der Zufall, alles regelt, in der Hand. In dieser Allegorie ist schon der Konflikt angelegt, den die Philosophie mit der christlichen Theologie austrägt. Peter Kern beschreibt, wie ihn der Philosoph Karl Heinz Haag in eine negativen Metaphysik überführte.

Neulich die Gretchenfrage auf Facebook. Eine rege Debatte im Forum Philosophie, wo sonst viel gesendet und wenig geantwortet wird. Eine Federzeichnung eröffnet die Debatte. Zwei Rücken an Rücken Sitzende in Denkerpose, darunter zugeordnet die Zeilen Philosophy: Questions that may never be answered. Religion: Answers that must never be questioned. Die Religionsallegorie zeigt eine ihr Kreuz lässig unter den Arm haltende Jesuskarikatur. Zu Wort melden sich 70 Leute. Ein verschwindender Teil nur nimmt Partei für die meist heftig attackierte religiöse Sache. Dann fallen Formulierungen, die auf eine Art Privatreligion hindeuten. So das 13. Statement: Wenn du nicht Gott anbeten willst, bete das Universum an und verbinde dich damit. Es ist Fakt dass alles schwingt, alles Energie und Frequenzen ist. Wenn du durch Gedanken und Positiv bist, schwingst du auf diese Ebene und du bekommst was du willst. Das Leben wird schöner. Die Kraft der Anziehung.

Die Religionskritiker formulieren Sätze, die seit den Zeiten der Junghegelianer zum festen Bestand dieser Kritik gehören. Gott, und alles, was damit zusammenhängt, ist eine Produktion des menschlichen Geistes, lautet das 4. Statement. Von den Junghegelianern datiert ein atheistisches Pathos, das noch in der Gegenwart nachhallt. Wäre Bruno Bauer auf Facebook aktiv gewesen, hätte er viel Zustimmung erfahren. Der Name Atheist…Losungswort der ersten Befreiung der Menschheit. Vermutlich ist auf keinem Feld Gesellschaftskritik so erfolgreich gewesen, wie auf diesem.

Die Religionskritik hatte Ludwig Feuerbach auf einen Stand gebracht, der es der deutschen Philosophie erlaubte, sich in Europa mal wieder blicken zu lassen. Nouveaux philosophes und tonangebend waren die französischen Materialisten gewesen. Feuerbachs Sensualismus schließt zu ihnen auf. Noch der Glaube an Jesu Auferstehung zeuge von ihm. Es braucht Sinnenschein, ein leeres Grab, darin vorher der Leichnam. Feuerbach war Materialist ohne Wenn und Aber. Die Natur ist ihm das erste im Sinne des Unableitbaren, des durch sich selbst Bestehenden und Wahren. Wer in Frankfurt Philosophie studiert, hört solche Sätze in Alfred Schmidts Donnerstagsvorlesung. Sie gehören zu dem Kanon, den sich die undogmatische Linke gerne gefallen lässt; der Vortragende selbst gehört diesem Chor längst an.

Beim Alfred, wie man ihn auf dem Campus nennt, ist zu lernen: Feuerbach hat das biologische Sein nicht auf chemisches oder gar mechanisches reduziert; ein solcher Materialismus ist ihm zu simpel. Aber er hat keine systematische Erkenntnistheorie und noch viel weniger eine Ontologie oder Kosmologie geschrieben. Das Christentum ist für ihn, wie jede Religion, eine Traumwelt, eine den Verstand von den Sinnen trennender Denkfehler. Diesen Denkfehler zu vermeiden, erfordert aber eine politische Aktion. Marx hat diese politisch-theoretische Aktion angestoßen. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist. Als diese Sätze geschrieben werden, herrschen im noch nicht existenten Deutschland vorbürgerliche, halbfeudale Verhältnisse, ein ancien régime, dem die Kirchen Weihrauch zufächeln. Marx setzt auf den französischen Akteur. Es ist eine merkwürdige Erscheinung, wie…die Irreligiosität des sich als Menschen empfindenden Menschen…in das französische Proletariat herabgestiegen ist. Marx kritisiert als dialektischer Materialist, so Alfred Schmidt, will er doch die positive Aufhebung der Religion. Die kanonischen Sätze, mit dem Opium des Volkes anhebend, schließen mit Kants Moral, mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.

Die aufgehobene Religion wäre die nicht mehr nötige. Verschwindet die letzte fremde Macht, die sich jetzt noch in der Religion widerspiegelt…, verschwindet auch die religiöse Widerspieglung selbst, aus dem einfachen Grunde, weil es dann nichts mehr widerzuspiegeln gibt, heißt es bei Friedrich Engels. Wenn das die Gesellschaftsmitglieder bezwingende ökonomische Machtverhältnis umgestürzt sei, gehöre die Firma Christentum & Co der Vergangenheit an. So lautet die Befreiungstheologie in atheistischer Form.

Die Religionskritik der späteren Marxisten hat sich nicht fort-, sondern eher zurückentwickelt. Man stößt sich jetzt an der Unwissenschaftlichkeit der Sache. Der Marxismus mündet in den breiten Strom positivistischer Religionskritik ein. Vor der positiven Wissenschaft liegt demnach die halbmythologische Religion, lautet die dazu passende Stadientheorie. Die angewandte Wissenschaft, die Industrie, habe dem Aberglauben den Garaus gemacht. Der Arbeiter in einem Elektrizitätswerk, der nur eine Kurbel zu drehen braucht, um auf viele Kilometer Entfernung die bewegende Kraft…zu entsenden, kann wie Gott im ersten Buche Mosis sagen: ‚Es werde Licht!‘ und es wird Licht. Marxens Schwiegersohn Paul Lafargue ist wie der gesamte Marxismus des 19. Jahrhunderts von den Naturwissenschaften wie besoffen.

Nun ist die Bindekraft der Religionen in den entwickelten Industriestaaten massiv gesunken, ohne dass von umgestürzten Machtverhältnissen zu berichten wäre. Die ökonomischen Verhältnisse dürften für die schwindende religiöse Weltauffassung ursächlich sein. Die nördliche Halbkugel ist nicht mehr das Jammertal, als dessen Trost die Religion einmal verstanden war. Und ursächlich sind wohl auch die physikalischen Wissenschaften. An diese delegiert der gesunde Alltagsverstand sein Bedürfnis nach Welterklärung. Dem Gottglauben dagegen haftet das Bild des Nicht-ganz-Mitgekommenen an. Wer mit ihm bricht, hat allemal mehr vom Leben, so das Versprechen. Brave Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin – ein Spontispruch der säkularen Gesellschaft.

Eine Theologie, die sich mit der naturwissenschaftlichen Welterklärung anlegen würde, ist nicht in Sicht. Lange schon hat die Theologie ihre Sache rein auf den Glauben gestellt. Das ist ein ziemlicher Treibsand in einer von Wissenschaft geprägten Welt. Es kommt der Theologie auch keine Philosophie zur Hilfe. Nachmetaphysisch ausgerichtet wie diese ist, sieht sie sich nicht veranlasst, religiöse Kohlen aus inexistenten Feuern zu holen. Sie rächt sich auch ein bisschen dafür, über lange Jahrhunderte zur Magd der Theologie degradiert gewesen zu sein.

Vor bald zwanzig Jahren haben Jürgen Habermas und der spätere Papst Josef Ratzinger ein Gespräch geführt, das für das Verhältnis von nachmetaphysischer Philosophie in ihrer sprachpragmatischen Form und der Glaubenslehre in ihrer kanonisch-katholischen Form ein gültiges Dokument darstellt. Ratzinger verweist darauf, wie irrational ihm die Theorie einer Weltgenese aus dem Prinzip des Zufalls erscheint, aber das Gegenprinzip, eine planende Instanz, in seinem epistemischen System Gott genannt, vermag er nicht zu begründen. Dem Abenteuer des Glaubens bürdet er auf, was eine auf Rationalität gegründete Theologie leisten müsste. Habermas wiederholt die überzeugende These von den säkularen Gesellschaften, die dem religiösen Erbe Entscheidendes zu verdanken haben. Ohne die Idee der unvergänglichen Seele keine unveräußerlichen Rechte des Einzelnen. Ansonsten sieht er sich von keinem mit Argumenten verfochtenen Wahrheitsanspruch herausgefordert. Die theologische Rede von der Offenbarung beantwortet er mit dem kühlen Bekenntnis, religiös unmusikalisch zu sein.

Theologie und Wahrheit sind zwei sich widersprechende Begriffe, ein Oxymoron, lautet ein Glaubensartikel, den zu bezweifeln sich kein um seine Reputation besorgter Theoretiker heute noch traut. Doch, einer hat sich’s getraut, der an der Theologisch-Philosophischen Hochschule in Frankfurt-Sachsenhausen ausgebildete Karl Heinz Haag. Dort kennt man ihn, zur Schande der dortigen Schulleitung sei es gesagt, gar nicht mehr. Kennt man ihn noch am Institut für Sozialforschung? Dorthin hat ihn Max Horkheimer geholt. Das Institut feierte letztes Jahr seinen Hundertsten, und vielleicht fiel bei den zahlreichen Geburtstagsreigen am Rand auch mal sein Name. Die Hand ins Feuer legen möchte man dafür nicht. Das Prominenz sponsernde Prinzip der Kulturindustrie bleibt gültig auch in dem Haus, dem dieses Prinzip seine Theorie verdankt.

Haag hat nicht das Gleiche gemacht wie Adorno, so dass man sich seine negative Metaphysik nach der Lektüre der Negativen Dialektik sparen könnte. Für seine Metaphysik gilt, was Adorno über die Kantische in dem genannten Buch schreibt: Seine Philosophie kreist, wie übrigens wohl eine jede, um den ontologischen Gottesbeweis. Im heutigen Institut für Sozialforschung kreist keine Philosophie mehr, aber für den Haag passt diese Charakterisierung wunderbar. Der verwickelt die mit Zufall argumentierende Kosmologie in ihre Widersprüche. In seinem Werk macht er das, was die Theologie hätte tun müssen. Die skandalisiert zwar den solcher Kosmologie immanenten Nihilismus (so wie es Ratzinger tut), aber sie widerlegt ihn nicht.

Eine dem Zufall die Weltgenese zutrauende Theorie will das Problem lösen, an dem der Materialismus gescheitert ist. Seine deterministische Weltauffassung war nicht durchzuführbar. Er hielt die kleinsten Teile der Natur, die Atome, für fähig, sich selbst zu ganzen Gebilden zu organisieren. Aus einfachen, anorganischen Elementen sollte durch bloßen Austausch komplexe organische Natur entstehen. Das war nicht stimmig. Das Hervorgehen komplexer Materie mittels eines Urstoffs zu erklären, der alle stofflichen Formen als mögliche in sich enthält, bot keine Lösung. Auch die Leibnizsche Lehre von den Monaden als den letzten, die Weltsubstanz bildenden metaphysischen Punkten hatte in einer Welt, die Erkenntnis mit einer aufs Experiment gegründeten Methodik gewinnt, keinen Bestand.

Der neuzeitliche, auf der Methode der physikalischen Wissenschaften basierende Materialismus konnte keine Anfangssituation der Sinnenwelt finden. Denn die Naturwissenschaften erforschen nur eine von Bedingungen abhängige Wirklichkeit, und diese kausale Kette von Ursache und Folge lässt sich auf kein Nicht-Verursachtes, Erstes hin transzendieren. Daher durfte die materialistische Welterklärung niemals behaupten, in einer Realität, bis zu der sie die Weltgenese zurückverfolgt hat, den Anfang des Universums zu besitzen. Alle wahrhaft kritischen Naturwissenschaftler sehen …das.

Den letzten Versuch einer streng materialistischen Naturerklärung hat Holbach unternommen, schreibt der hier zitierte Haag. Dem pfälzischen Baron ist die Unmöglichkeit aufgegangen, stofflich singuläre Naturgebilde aus einem materialistisch verstandenen absolut Ersten abzuleiten. Nach Holbach wird der Materialismus identisch mit dem auf Naturerklärung verzichtenden Positivismus. Und aus der Not des alten Materialismus wird die Tugend des neuen. Da sich das determinierende Prinzip nicht finden lässt, wird der Zufall, an den Anfang der Welt gestellt.

Dem mit dem Zufall argumentierende Indeterminismus ist der Status der Naturgesetze völlig unklar. Gehören sie zur gegenständlichen Natur schon bevor sie zu deren Entstehung beitragen? Dann wären sie etwas in der Art einer platonischen Idee. Und die Naturstoffe, die voneinander verschieden und zugleich in symmetrischer Zuordnung passend sein müssen: Sie koordinieren sich selbst? Denn ein die Naturgesetze und die Auswahl der Stoffe koordinierendes Übergesetz wird man nicht annehmen dürfen. Haag schlägt eine andere Lösung als den blinden Zufall vor. Er argumentiert dabei weder mit Wundern noch mit Prophezeiungen, sondern mit einer Reflexion der Naturwissenschaften.

Bis Frankfurt Hoechst, seinem Geburtsort und Lebensmittelpunkt, scheint sich demnach nicht rumgesprochen haben, was die Spatzen seit dem 18. Jahrhundert von den Dächern pfeifen: Gott ist tot. Es ist misslich; wer den Atheismus in Frage stellt, bekommt zur Beantwortung theologische Fragen aufgehalst. Woher und wieso das Böse, die Erbsünde, die Jungfrauengeburt, der auferstandene Jesus? Ein guter Gott soll die Welt erschaffen haben? Man sieht es ihr wahrlich nicht an. Aber all das ist nicht Haags Thema. Und er verwechselt auch nicht Predigen mit Argumentieren. Und für sich selbst hielt er es mit einem gewissen Kant, dem der ganze Kram frommer auferlegter Observanzen als eine Nötigung erscheint. Haag weiß sich auch von der offiziellen Philosophiegeschichte nicht genötigt. Erst kam Kant und seine Widerlegung der Gottesbeweise, dann kam die von der Geologie getriggerte Evolutionstheorie, zuletzt das nachmetaphysische Denken. Wer jetzt noch über Gott philosophiert, der ist in die Bewusstseinsphilosophie zurückgefallen. So geht der Fortschritt der Philosophie laut Lehrbuch. Diesem Lehrbuch hat Haag sein eigenes und mit dem gleichen Titel entgegengestellt.

Dass der Gottglaube auf rationale Begründung verzichten muss, ist das Resultat dieser Entwicklung, und die Theologie unterschreibt diesen Verzicht. Haag verzichtet nicht und er weiß sich – so einer leicht witzigen Bemerkung in seinem Hauptwerk zu entnehmen – mit den Evangelisten einig. Deren Botschaft geht auf Empirie, lassen sie doch den ungläubigen Thomas die Wunden des Auferstandenen mit den Fingern ertasten. Der Glaube kein irrationaler Akt, sondern ein Begreifen, ein rationales Sich überzeugen. Von dem englischen Empiristen Bacon stammt das Bonmot Wenig Philosophie macht einen Atheisten, viel Philosophie versöhnt mit der Religion. Dieser Spruch war zu damaliger Zeit ein Kotau vor einer herrschenden Macht. Ein heutiger Konformismus legt eine konträre Haltung nahe: Ja nicht in den Geruch von Religion, beziehungsweise theologischer Lehre geraten. Haag hat da keine Berührungsängste, wenn er auch die irrationale(n) Konstruktionen der modernen Existentialtheologie heftig attackiert.

Wie sieht nun Haags Empirismus aus? Er geht von einer Reflexion über den erkenntnistheoretischen Status naturwissenschaftlicher Erkenntnis aus. Er legt den Weg der Aufklärung quasi nochmal zurück, waren es doch die physikalischen Wissenschaften, welche die Religionen als universale Weltauffassungen aufgelöst haben. Das physikalische Denken zerstörte das religiöse Weltbild, aber es führt auch über die empirische Welt hinaus, wenn es –was Haag leistet– auf seine eigene Möglichkeit reflektiert. Es stellt präzise Fragen an die Natur. Welche virale Struktur kommen einer als Covid klassifizierten infektiösen organischen Struktur zu? Es liefert zunächst vorläufige Antworten auf diese Fragen. Durch Trial and Error bestätigt es Hypothesen oder verwirft sie. Wissenschaftliches Vorgehen fixiert messbare Wenn-Dann-Beziehung zwischen empirischen Vorgängen, und ist diese Beziehung gesichert, lässt sich, so in unserem Fall, der für die gefundene Virusstruktur passende, Antikörper provozierende Impfstoff entwickeln. Die in den Impfstoffen enthaltene mRNA ist wiederrum eine Nukleinsäure, deren zellbiologische Eigenschaften die Medizinwissenschaft erforscht und die Pharmazie als Impfstoff auf den Markt gebracht hat.

Was ist nun das die naturwissenschaftliche Theorie an ihre Grenze führende Potential dieses Beispiels? Laut Wikipedia kommen mehr als hunderttausend solcher mRNAs in einer menschlichen Zelle vor. Ihr planvolles, nach chemischen Gesetzen ablaufendes Zusammenspiel ist vorausgesetzt, damit in der DNA des Zellkerns der Nucleus für ein menschliches Individuum gelegt ist und aus dieser Zelle, die Befruchtung einer Eizelle vorausgesetzt, einmal ein Individuum entsteht. An dessen Ontogenese sind weitere nach Naturgesetzen ablaufende chemische Prozesse beteiligt und die für diese Prozesse passenden chemischen Elemente. Ein Medizinforscher mag über die Symmetrie dieser Stoffe und Prozesse vielleicht einmal staunen, aber dies wäre ein Beiprodukt seines wissenschaftlichen Geschäfts. Das beginnt mit dem Naturstoff, mit dem er sich im Labor zu schaffen macht. Seine Aufgabe als Biologe oder als Chemiker ist es nicht, aufzuweisen, wodurch die Naturstoffe möglich sind. Naturerklärung ist nicht sein Thema. Diese ist, so Haag, mit Naturerkenntnis nicht identisch.

Die in Kants Kritiken angelegte Naturerkenntnis schreibt Haag fort, indem er sich an einem entscheidenden Punkt von dessen Philosophie entfernt. Die Naturgesetze haben nach Kant ihre Quelle im Denkapparat der Subjekte, nicht in der Objektwelt. Sie lägen vor aller Erfahrung. Das Ich schreibe der Natur die Gesetze vor, nicht umgekehrt. Die in der uns erscheinenden Welt geltende Gesetzmäßigkeit sei anderen Ursprungs als die Welt der Dinge an sich. Es ist ein grandioses, weltschöpfendes, überindividuelles Ich, das Kant glaubt gefunden zu haben, und keimhaft ist hier der abgeschaffte Gott zu besichtigen, der dann später Furore macht. Kant hat die Vorarbeit für die auf ihn folgenden Philosophien geleistet, die das Subjekt absolut setzen und den Schöpfergott entmachten. Aber der ist gedanklich verlangt, als Bedingung der Möglichkeit von Naturprozessen, schreibt Haag.

Ein menschliches Wesen ist möglich, weil Naturprozesse koordiniert ablaufen. Muss man darüber staunen? Der Philosoph des Nichtstaunens, Karl Popper, Ahnherr des Positivismus, hat ein alle Naturgesetze koordinierendes Über-Naturgesetz angenommen. Laut Haag war er sich bewusst, dies sei eine irrationale Entscheidung, aber er sah sich genötigt, dieses Postulat an den Anfang seiner die Welt rein naturwissenschaftlich verstehenden Theorie zu stellen.

Die einander ergänzenden Naturgesetze und das stoffliche Substrat – ohne dieses Substrat könnten die Gesetze nicht ablaufen – sind in ihrem Zusammenspiel nur verstehbar im Rückschluss auf einen universalen Plan der Weltgenese. Man kann sich dieser Denknotwendigkeit verschließen, muss dann aber an eine aus planlosem Geschehen entstandene geordnete, von biologischer Taxonomie erfassbare Welt glauben; eine tief widersprüchliche Annahme. In solcher Kosmogenese muss der Zufall als Gott gelten. Vernunftgemäß ist es dagegen, ein formendes, allmächtiges Prinzip zu denken. Es ist vorausgesetzt ist, damit Naturwissenschaft überhaupt stattfinden kann.
Ein Prinzip von höchster Vernunft, schreibt Haag. Aus ihm geht Generisches, Spezifisches und Individuelles hervor. Wie dies geschieht? Wir können es nicht wissen. Was wir nicht wissen können, hat für uns keine Bedeutung, sagt die nachmetaphysische Philosophie. Den view of nowhere können wir nicht einnehmen, schreibt Habermas. Für den Sprachpragmatiker hat sich ein Scheinproblem erledigt. Für Karl Heinz Haag nicht. Er hält eine negative Metaphysik für gefordert, damit unser Weltverständnis rational bleibt. Als deduktives System, als Theologie, ist diese Metaphysik jedoch unmöglich. Was das allmächtige Prinzip an sich selbst ist, wird sich unserer auf sinnliche Erfahrung beschränkten Vernunft nie erschließen.
 
 
h5. Siehe auch:
Eine imaginäre Haag-Habermas-Debatte

Letzte Änderung: 20.01.2023  |  Erstellt am: 20.01.2023

divider

Hat dir der Beitrag gefallen? Teile ihn mit deinen Freunden:

Kommentare

Ralf Rath schreibt
Vor weit über einem halben Jahrhundert machte der Göttinger Soziologe Hans Paul Bahrdt auf den "Irrtum des modernen Managers" (in: Heidelberger Blätter 14/16: 101) aufmerksam. Empirisch gesättigtem Wissen frontal zuwider spricht im Jahr 2001 der Philosoph Jürgen Habermas in seiner Friedenspreisrede dennoch davon, dass der Markt angeblich etwas Äußerliches ist, dessen "Sprache ... in alle Poren ein(dringt) (ebd.: 13). In Wirklichkeit stecken jedoch die ökonomisch-gesellschaftlichen Mechanismen dem erfahrungsmäßig Gegebenen mitten drin, wie der Industriesoziologe Michael Schumann als Schüler von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno öffentlich längst reklamiert (in: Personalführung 6/2008: 100). Anlässlich der Verleihung des Theodor-Heuss-Preises im Jahr 1999 stellte Jutta Limbach als damalige Präsidentin des deutschen Bundesverfassungsgerichts ausdrücklich auf die Einsicht ab, "dass Philosophie ohne Soziologie blind ist" (Laudatio: 21). Der "point of nowhere", von dem Jürgen Habermas seinerseits als einem vermeintlichen Scheinproblem wiederum schreibt, kann insofern schon deshalb nicht erkannt werden, solange die Augen geschlossen bleiben. Ginge Jürgen Habermas hingegen mit offenem Blick durch die Welt, ließe sich leicht erkennen, welch "verzerrtes Bild ... von unseren gemeinsamen Gedanken" er laut dem Spiritus Rector der Frankfurter Schule schon als Assistent am Institut für Sozialforschung zur Mitte der 1950er Jahre entwirft und bis heute trotz inzwischen mehrfach nachgewiesener Falschheit nicht davon abrückt. Dass nicht auf den Begriff zu bringen ist, was sich ihm stets entzieht und dadurch das steuernde Prinzip nach dem Dafürhalten von Karl Heinz Haag sich niemals positiv bestimmen lässt, bleibt somit weiterhin von Bestand. Was unter einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen Sozialen Marktwirtschaft zu verstehen ist, die gleich eingangs der Vertrag von Lissabon verlangt, hat angesichts dessen in der Tat eine völlig andere Bedeutung.

Kommentar eintragen