Der Kaiser ist nackt

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Chinas KP feiert Geburtstag
Mao Tse-tung

Mao hatte die Geschichte umgeschrieben und die Gründung der KP Chinas auf den 1. Juli verlegt. Tatsächlich wurde sie am 23. Juli vor 100 Jahren gegründet. Damals war sie klein und kämpfte gegen den Feudalismus, die Japaner und die Kuomintang. Heute ist sie kaum wiederzuerkennen. Peter Kern erinnert an die Anfänge und die Macht der chinesischen Kommunisten, sowie an die wirtschaftlichen Abhängigkeiten des Westens von ihnen.

Als Chinas Staatschef Xi Jinping vor wenigen Jahren auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos Belt & Road, die Seidenstraßen-Initiative vorstellte, waren die Mächtigen der Welt sehr beeindruckt. Der damalige Vorstand der Siemens AG sah die von Trump schwer beschädigte Weltwirtschaftsordnung in neuer Gestalt wiederauferstehen. Noch im selben Jahr ließ er 1000 Vertreter aus 30 Ländern zu seinem Belt & Road International Summit nach Peking rufen, wo die Politiker, Industriellen, Wissenschaftler und Finanzfachleute das Potenzial des Projektes ausloteten. Das Zentrum der Weltwirtschaft verschiebt sich nach Asien, der chinesische Weg an die Weltspitze ist unaufhaltsam, analysierte man nüchtern. Die KP Chinas, vor 100 Jahren in Shanghai gegründet, hatte es zum Hoffnungsträger der kapitalistischen Internationale gebracht.

An ihrer Wiege war der KPCh dies nicht gesungen. Als Wiegenlied erklang die Internationale, die das Versprechen festhält, das Menschenrecht zu erkämpfen. Das erste Menschenrecht gilt der Freiheit vom Zwang zum Verhungern. Die Armut der chinesischen Massen war damals unfassbar. Ein Bauer, schreiben Historiker, lebte von einem Pfund Reis oder Weizen am Tag, und ein paar neue Schuhe konnte er sich alle fünf Jahre leisten. Damit sich dies änderte, mussten die Feudalverhältnisse auf dem Land und die Barbarei der japanischen Besatzer beseitigt werden. Für Chinesen und Hunde verboten, stand auf den Schildern vor den Parks in Shanghai. Das von den japanischen Truppen in Nanking verübte Massaker gehört zu den grausamsten des 20. Jahrhunderts. So wetteiferten Soldaten miteinander, wer am meisten gefangene Chinesen enthauptete. Nur durch den Rückzug ins hinterste Eck des chinesischen Reichs konnte Maos Rote Armee die japanische Besatzung und den Bürgerkrieg mit der nationalistischen Kuomintang überleben. Der heroisch besungene Lange Marsch war das Gegenstück für den anschließenden siegreichen Vormarsch, der die Macht der KP besiegelte.

Nach Maos klassischer Definition kommt die Macht aus den Gewehrläufen. Es brauchte die Gewehrläufe der 8. US-Armee, die das mit Nazi-Deutschland verbündete Japan im pazifischen Raum besiegten, damit die chinesische Revolution erfolgreich war. Mit der Staatsgründung 1949 begann eine Dekade halbwegs prosperierender Agrarwirtschaft. Die Bauern machten noch 90 Prozent der Bevölkerung aus; Industrie gab es nur in Spurenelementen; das Marxsche Proletariat war, bis auf wenige Küstenstädte im Süden, inexistent. Die Kommunistische Partei hatte das zentrale Problem des Riesenreiches zu lösen: Seine unablässig wachsende Bevölkerung musste versorgt werden. Eine Agrarökonomie allein konnte dies auf Dauer nicht leisten, Industrie, Schwerindustrie musste her.

Der Bruch mit der Sowjetunion 1960 bedeutete den Abzug ihrer Techniker und das Ausbleiben ihrer Hilfsleistungen. Der Große Sprung, der in der Industrialisierung enden sollte, geriet zum großen, katastrophalen Reinfall. Und die schlagartige Kollektivierung der Landwirtschaft endete in einer über 30 Millionen Tote fordernden Hungersnot. Mao Tse-tungs Ideenreichtum war aber noch nicht versiegt. Die Chinesen mussten durch die zehn Jahre dauernde Kulturrevolution hindurch. Das Gewaltmonopol des Staates war gelockert; die Pogrome auf der Straße und die in den Gefängnissen ergänzten sich gegenseitig. 1,5 Millionen Menschen galten als Konterrevolutionäre und wurden umgebracht. Unter der Herrschaft der Roten Garden wurde die universitäre Bildung abgeschafft und die Intellektuellen zur Umerziehung und zur Zwangsarbeit aufs Land verfrachtet. Ein Lehrbuch der Physik zu benutzen, um mit theoretischer Anleitung ein technisches Konstrukt zu erstellen, galt als bürgerlich. Klassische Musik aufzuführen, war verboten, Geigen und Bratschen wurden zertrümmert. Eine zweitklassige Shanghaier Schauspielerin (zugleich Maos Ehefrau), machte sich daran, die Peking-Oper zu erneuern.

Nach Maos Tod 1976 begann eine Dekade, in der die KPCh politisch Verfolgte rehabilitierte und Täter vor Gericht stellten. Am Kern des Maoismus, der Rechtlosigkeit des Einzelnen vor der Staatsgewalt, änderte die Partei jedoch nichts. Mit der Verurteilung der ‚Viererbande‘ um die Mao-Witwe sollten die Verbrechen als gesühnt, die Forderung nach sicherem Recht als abgegolten gelten. (Daniel Leese beschreibt diese Dekade in Maos langer Schatten). Deng Xiaopings Öffnungskurs war ein Tauschgeschäft: Die Partei erlaubt marktwirtschaftliche Freiheit, dafür verzichten die Gesellschaftsmitglieder auf Rechtsstaatlichkeit. Als die wirtschaftspolitische Liberalisierung ab den 80er Jahren zu Wachstumsraten von jährlich zehn Prozent führte, konnte sich die hinter Deng versammelte Partei in ihrem Kalkül als bestätigt sehen.

Der great civilising influence of capital, den Karl Marx beschworen und zur Voraussetzung einer sozialistischen Revolution gemacht hatte, machte sich post festum bemerkbar. Die Lebenserwartung der Chinesen hat sich seit der Staatsgründung verdoppelt; davor lag sie bei 35 Jahren. Der Hunger ist beseitigt, die Schulbildung allgemein, die Krankenversorgung gewährleistet. Noch im hintersten Dorf der Mandschurei fließen Wasser und Strom, muss niemand mehr auf den Fernseher und auf den Kühlschrank verzichten.

Der Mix aus zentralem, KP-gesteuertem politischem Kommandosystem und einer dezentralen, marktwirtschaftlich organisierten Ökonomie hat die in ihn gesetzte Hoffnung erfüllt. Hat Deng Xiaoping den Sozialismus verwirklicht oder den Kapitalismus importiert? Egal ob die Katze schwarz ist oder weiß, Hauptsache, sie fängt Mäuse, so Dengs Devise. Die Effizienz, mit dem sich das System der Bedürfnisse in China entwickelt hat, ist wahrlich atemberaubend. Damit einher gehen die für eine Klassengesellschaft typischen Probleme. In einer neuen Publikation (Müller, Wolfgang, Die Rätsel Chinas – Wiederaufstieg einer Weltmacht) werden sie aufgelistet: Ein Prozent der Bevölkerung besitzt ein Drittel des gesamten Volksvermögens, dem ärmsten Viertel kommt ein Prozent des großen Kuchens zu. (In keiner Megacity verkauft Porsche mehr Panameras als in Peking).

Die Migranten vom Land, die Wanderarbeiter, stellen Chinas Unterklasse. Sie besitzt keinen Aufenthaltstitel für die großen Städte, damit entfällt das Recht ihrer Kinder auf Schulbesuch und ihrer Kranken auf ärztliche Behandlung. Die Kinder leben meist bei den Großeltern auf dem Land, deshalb sehen sie ihre in der Stadt beschäftigten Eltern nur an den Festtagen. Die Kinder der Migranten sind kleiner, schlechter ernährt, minder gebildet und leiden häufiger unter seelischen Erkrankungen. Ihre Eltern haben von den Stadtregierungen nichts zu erwarten, außer deren Polizeigewalt. Was ihnen bleibt, ist das Recht, sich überdurchschnittlich ausnutzen zu lassen, verdienen sie doch nur ein Drittel des Durchschnittslohns von etwa 1.500 Euro. Der Heiratsmarkt für die jungen, männlichen Binnenmigranten ist weitgehend geschlossen. Es gibt 30 Mio. mehr chinesische Frauen im heiratsfähigen Alter als Männer; arme Kerle vom Land sind chancenlos. Hukou nennt sich das die Wanderarbeiter ausschließende Apartheid-System.

Trotz Hukou funktioniert der chinesische Gesellschaftsvertrag. Worauf beruht er? Der Staat versorgt die Mehrheitsgesellschaft mit wachsendem Wohlstand und dafür kann er ungehindert regieren; auf diesem Deal basiert der Vertrag. Das entfaltete System der Bedürfnisse wird vom umfangreichen System der Überwachung ergänzt. Auf jeden zweiten Chinesen kommt eine Überwachungskamera. Auf WeChat, der chinesischen, Google, Twitter, Facebook und Amazon synthetisierenden Plattform, wird sich der staatliche Sicherheitsdienst umschauen dürfen, wenn es seiner Wahrheitsfindung dient. Ein adäquates Wort für Privatsphäre existiert im Chinesischen nicht; Geheimniskrämerei, schreibt der erwähnte Autor, käme dem Wortsinn am nächsten.

Der Gesellschaftsvertrag, gemixt aus repressiver Kamera und permissivem Konsum, ist nicht schön, wird mancher sagen, aber was geht das ‚uns‘, was geht dies die deutsche Gesellschaft an? Viel, wird man antworten müssen. Die Seidenstraße ist als Ost-West-Magistrale längst realisiert. Von Shenzen nach Duisburg rollen jede Woche 60 Transportzüge und versorgen den hiesigen Gebrauchsgütermarkt. Die Autobauer, die Maschinenbauer, die Chemiker, die Sportartikelhersteller, das Gros der deutschen Exportwirtschaft wiederrum macht einen Gutteil seines Umsatzes in China. Für die Autoleute ist das Land längst der wichtigste Markt, für BASF und Co. ebenfalls. Der alte, auf die USA bezogene Spruch der VWL’er, gilt nun für China: Wenn die Volksrepublik hustet, bekommt die Bundesrepublik eine Lungenentzündung; der ökonomische Nexus ist damit gemeint, nicht der virologische.

Auch wenn die KP aus politischen Gründen ins nervöse Hüsteln gerät, wird es für die in China engagierten Unternehmen unangenehm. Adidas hat dies neulich zu spüren bekommen. Das Unternehmen hat seine Corporate Social Responsibilty einmal ernst genommen und erklärt, es wolle für seine Sportswear auf von Zwangsarbeitern geerntete Baumwolle verzichten. Schlagartig haben sich die in Chinas Millionenstädte errichteten Flagship-Stores von der Kundschaft geleert, und die Stars aus dem chinesischen Showbiz haben ihre Werbeverträge gekündigt. Zuvor hat sich die Jugendorganisation der KP geäußert: In China dicke Geschäfte machen und Chinas Regierung kritisieren, solche Zweideutigkeit dulde man nicht.

Auch die bisherige von Frau Merkel verantwortete Außenpolitik war zweideutig. Bei jedem Chinabesuch (es waren 13 in ihren 16 Amtsjahren), die Entourage der CEOs im Gefolge, sprach sie die pflichtgemäßen fünf Minuten über die verletzten Menschenrechte, und der Rest der Reise war den Millionendeals gewidmet, die die Herren Dieß und Kaeser und Frau Leibinger tätigten. Die chinesischen Gastgeber wissen längst, wie sie das etwas pompöse Sprechen über ‚unsere Werte‘ aufzufassen haben. Es ist zur Beruhigung der deutschen Öffentlichkeit gedacht.

Wieder zuhause verweist die Kanzlerin auf das Klima, um zu begründen, warum der Gesprächsfaden mit der KP nicht abreißen und man mit der Kritik an der Menschenrechtspolitik nicht überziehen dürfe. Ohne China keine Reduzierung der C02- Emissionen, so Frau Merkel. Und die KP macht daraus ihr eigenes Tauschgeschäft. Ihre Ansage an die westliche Politik: Ihr haltet euch zurück in Fragen Hongkong und Uiguren, dafür machen wir beim Klimaschutz mit. Wobei der neue Fünfjahresplan gar nichts Ambitioniertes enthält. Das Land, das 65 Prozent seines Energiebedarfs mit Kohle deckt, plant für weitere 200 Gigawatt Kohleverstromung. Es bleibt zu hoffen, dass sich das prima Klima zwischen Peking und Berlin ändert, wenn demnächst Die Grünen in der Regierung Platz nehmen werden.

Der von deutschen Metallunternehmen gesponserten Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft stellen sich angesichts dieser Aussicht alle Nackenhaare. Ihr gelten die Menschenrechte einer chinesischen Minderheit als Gedöns; sie hält es mit ihren Freunden, und die sitzen im Staatsapparat. Mit seinen Freunden soll man es sich bekanntlich nicht verderben. Kämen die Grünen in die Regierung, drohe genau dies: Chinas KP wäre not amused. Die von der Initiative in den großen Tageszeitungen geschaltete, ganzseitige Anzeige zeigt Frau Baerbock als Moses-Figur, Gesetzestafeln präsentierend, die alles verbieten, was als Spaß gelten muss. („Du darfst kein Verbrenner-Auto fahren; Du darfst nicht fliegen; Du darfst nicht schöner wohnen…“). Die Grünen werden als Spaßbremse präsentiert, die unter die alte, mosaische Gesetzesreligion zwingen wollen. Abwegig, einen antisemitischen Subtext der Annonce zu entnehmen?

Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft verbindet die Merz-Fraktion in der CDU mit den Marktradikalen unter den Unternehmern. Neu an ihr ist das ganz Alte: So wenig Sozialstaat wie möglich, denn der lege dem freien Unternehmertum nur Knebel an. Diesen Leuten gelten die Menschenrechte in China als ein feuchter Kehricht. In ihrer Anzeige ist, seinen Urhebern unbewusst, ein zweites Bildmotiv versteckt, das vom Goldenen Kalb. Der vom Berg Sinai kommende Moses findet sein Volk ja in größter Verwirrung vor, tanzt es doch um ein lebloses Götzenbild. In diesem besinnungslosen Taumel soll die deutsche Gesellschaft auf ewig befangen bleiben, daran arbeiten die ziemlich besten Freunde von Chinas KP.

Sind die Grünen Teil der kommenden Bundesregierung, dann zieht diese hoffentlich die Konsequenz aus einem neulich vorgelegten Gutachten des dem Bundestag zuarbeitenden Wissenschaftlichen Dienstes. Danach befinden sich deutsche Konzerne in unmittelbarer Nähe der in der Provinz Xinjiang errichteten Internierungslager. Die Lager liefern den umliegenden Betrieben die Arbeitskräfte, und die Betriebe arbeiten als Zulieferer auch für deutsche Konzerne. Erwähnt werden Adidas, BASF, BMW, Bosch, Puma, Siemens und VW. Die Unternehmen, so steht es in dem Gutachten, würden den Vorwurf, Internierte zu beschäftigen, mitunter schon bestätigen. Das Lieferkettengesetz veranlasst sie wohl, sich mit einem platten Dementi zurückzuhalten.

Wie es einem der Ihren geht, der sich traut, den chinesischen Gulag zum Thema zu machen, haben Die Grünen gerade erst erfahren müssen. Reinhard Bütikofer und weitere Abgeordnete des Europaparlaments hat die KP abgestraft, weil sie die Zwangsarbeit der Uiguren auf den Baumwollfeldern nicht hinnehmen wollen. Herr Bütikofer steht der Delegation für die europäisch-chinesischen Beziehungen vor. Er reagiert auf sein Einreiseverbot in einer Weise, die weder den Herrschenden in Peking noch den aktuell Regierenden im deutschen Bundestag schmeckt. Er stellt ein Junktim her zwischen dem geplanten Investitionsabkommen mit China und der Beachtung der Menschenrechte. Erst einmal wird das Abkommen gar nicht weiterverhandelt werden, solange China seine Sanktion aufrechterhält. Alle Fraktionen des EU-Parlaments stehen hinter dieser Haltung – alle, bis auf eine, die der sogenannten Linksparteien. The Left hält es lieber mit Frau Merkel und Frau von der Leyen, die es sehr eilig haben, das Investitionsabkommen in die Scheuer zu fahren.

Reinhard Bütikofer hat seine chinesischen Gesprächspartner besonders verärgert, weil er neben dem Verbot der Zwangsarbeit die Einhaltung einer weiteren, international anerkannten Rechtsnorm einfordert, die der Vereinigungsfreiheit. Das könne die EU völlig vergessen, das sei, so seine Gegenüber wörtlich, „systemsprengend.“ Die Kommunistische Partei fürchtet wie der Teufel das Weihwasser gerade dieses Rechtsinstitut, stellt es doch ihr Organisationsmonopol in Frage. Freie Gewerkschaften will sie, koste es, was es wolle, verhindern.

Als Gorbatschows Perestrojka 1989 drohte, nach China überzuschwappen, bildeten sich auf dem Platz des himmlischen Friedens auch Arbeiterkomitees und forderten Gewerkschaftsfreiheit. Für die KP war es schon schlimm genug, sich von der in actu praktizierten studentischen Versammlungsfreiheit herausgefordert zu sehen; der Ruf nach unabhängigen Richtern und einer nicht zensierten Öffentlichkeit galt ihr als unerhört. Noch grauenhafter war den Machthabern die Vorstellung, eine Art Solidarnosc-Bewegung zeichne sich am Horizont ab. Deren Entstehen war mit allen Mitteln zu verhindern. Als Mittel der Wahl setzten sie bekanntlich ihre Panzer ein; die walzten die Protestierenden nieder. Der tank man konnte die Panzer nicht aufhalten.

Die unzensierte kritische Öffentlichkeit, die Versammlungsfreiheit, das Koalitionsrecht, das kodifizierte Rechtssystem, freie und geheime Wahlen sind die Errungenschaften der bürgerlichen Revolution. Eine sozialistische hat diese Freiheitsrechte nicht zu negieren, sondern aufzuheben und substantiell zu ergänzen. Zu ergänzen wodurch? Durch das Recht der Gesellschaftsmitglieder zu bestimmen, wie sie ihren Stoffwechsel mit der Natur, den Arbeitsprozess also und die Naturaneignung organisieren wollen. Der von Marx erhoffte Verein freier Menschen sollte eine Produktionsweise ablösen, die zwar Warenreichtum bietet, jedoch um den Preis, dass sie „zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ Die auf dem Tiananmen versammelten, die Alleinherrscher der KP attackierenden Demonstranten sollen die Internationale gesungen haben, bevor die Jagd auf sie begann.

Xi Jinpings Mannen sind äußerst pragmatisch, wenn sie sich auf den Märkten ihrer kapitalistischen Konkurrenten bewegen. In keinem der von chinesischen Investoren erworbenen deutschen Konzerne vergreift sich das neue Management an den Institutionen der Betriebsverfassung oder an den geschlossenen Tarifverträgen. Pacta sunt servanda, Verträge sind einzuhalten, das gilt. Was ihnen zuhause als „systemsprengend“ erscheint, lässt ihnen in der Ferne keine grauen Haare wachsen: Gewerkschaft, Mitbestimmung, Betriebsrat. Was hindert die Europäische Union daran, in dem geplanten Investitionsabkommen das Recht auf Koalition, auf freies Aushandeln des Arbeitslohns, festzuschreiben? Gehört dieses Recht weniger zu „unseren Werten“ als, sagen wir, das Patentrecht oder das der Deutschen Bank, im chinesischen Finanzwesen Fuß zu fassen?

Machen die deutschen Gewerkschaften sich diese Forderung zu eigen? Oder halten sie sich vornehm zurück, weil sie glauben, ihre Tarife würden auch von dem in China verdienten Umsatz mitbezahlt? Diesen Zusammenhang konstruiert mancher Kommentator der konservativen Presse, und er legt ihn den Gewerkschaftszentralen nahe. Nach dem Motto: Verkämpft euch nicht für fremder Leut‘s Probleme, ihr habt doch in Wolfsburg und den anderen Autoregionen wahrlich genug davon. Solidarität ist ein komplexes Gebilde, keineswegs identisch mit einer altruistischen Empathie. Interesse spielt neben Moral eine Rolle. Welches Interesse also haben deutsche Ingenieure, Facharbeiter und Büroangestellte, dass die Europäische Union der chinesischen KP Gewerkschaftsfreiheit abverlangen soll?

Es ist das Interesse, nicht mit Dumpinglöhnen zu konkurrieren. Für das Gehalt eines deutschen Ingenieurs bekomme ich in China zehn und die arbeiten noch zwanzig Prozent länger im Jahr. Dieser Satz eines CEOs ist jedem Betriebsrat und Gewerkschafter vertraut. Dazu kommt: Einen viel zu großen Batzen des Geschäfts machen die deutschen Vorstände gegenwärtig auf dem chinesischen Markt (40 Prozent des VW-Umsatzes!), aber dieser Markt wird für die ausländischen Konzerne bald ordentlich schrumpfen. Denn die chinesische Führung, geschockt von Trumps Politik des America First, die Biden bezüglich China nicht ändern wird, sieht sich zu einer Autarkie fördernden Wirtschaftspolitik veranlasst. Die sogenannte zweite Zirkulation soll gestärkt werden, der von den inländischen Konzernen versorgte Binnenmarkt. Das E-Automobil der nahen Zukunft wird also kaum von Wolfsburg nach Peking exportiert werden und die Festkörperbatterie wird auch nicht von der Firma Bayer aus Leverkusen kommen.

Auf diese Trendwende wird sich die deutsche Gesellschaft einstellen müssen. Sie ist gut beraten, diese Entwicklung zu antizipieren. Zwar liegen Chinas Konzerne noch weit hinten in der IT-, der Pharmaindustrie und bei den Hochleistungs-Chips. Aber dort, wo der deutsche Exportweltmeister seine Stärken hat, im Maschinenbau und der Autoindustrie, ist man dem Champion schwer auf den Fersen. Die fetten Jahre in China gehen vorbei. Das Land modernisiert sich weiter mit rasender Geschwindigkeit. Von den vier Modernisierungen sprach Deng Xiaoping; die der Landwirtschaft, der Industrie, des Militärs und der Wissenschaft waren gemeint. Eine fehlt weiterhin: die der demokratischen Repräsentation.

Um den Bogen zur Geburtstagsfeier zu schlagen: Der Legende nach sollen sechs Delegierte die KPCh vor 100 Jahren gegründet haben, darunter auch ein Gewerkschaftsmann, der in Shanghais Textilindustrie Streiks organisierte, die der Kommunistischen Partei die erste nennenswerte Zahl an Mitgliedern brachte. Zhang Guotao hieß er, und vielleicht hatte Bertolt Brecht ihn im Sinn, als er, beeinflusst vom chinesischen Lehrgedicht, die folgenden Zeilen schrieb:

Manche sind zuviel

Wenn sie fort sind, ist es besser.

Aber wenn er fort ist, fehlt er.

Letzte Änderung: 19.07.2021

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