Der herrschende Wahnsinn

Der herrschende Wahnsinn

Protest in Israel
Protest in Isreal | © Privat

Demokratie ist ein nicht abschließbarer Prozess der Verständigung. Sie bietet den Volksvertretern die einzige politische Legitimation gegenüber den Vertretenen. Werden die Grundregeln der Demokratie eliminiert oder unterlaufen, geht alles Vertrauen, das sie verspricht, verloren. Der Psychoanalytiker und Psychiater Eran Rolnik beschreibt, wie die demokratische Erosion in Israel auch die therapeutische Arbeit gefährdet.

Zum Aufstand israelischer Psychotherapeuten gegen den Regierungsputsch

Israelischen Psychotherapeuten fällt es in der Regel leichter, sich darüber aufzuregen, dass israelische Kinder in Bunkerräumen wohnen müssen, als sich ethisch zu positionieren wider die unfassbare Grausamkeit des jüdischen Staates gegen palästinensische und Migrantenkinder, geschweige denn langfristige Folgen der israelischen Besatzung auf die Psyche der Palästinenser und Juden gleichermaßen professionell zur Sprache zu bringen.

Diesmal erkannten die Therapeuten die Gefahr rechtzeitig und weigern sich, die Attacke zu ignorieren, die derzeit auf die Seele der israelischen Demokratie geritten wird. Unter dem Motto „Ohne Demokratie keine psychische Gesundheit“ haben sich Tausende dem Kampf gegen den Regierungsputsch angeschlossen, der derzeit Israel erschüttert. Und schon fordern Kritiker dieser Mobilisierung im Namen „analytischer Neutralität“ die Wiederherstellung einer alten Ordnung, in der Patienten scheinbar vor einer Konfrontation mit den persönlich politischen Meinungen der Therapeuten geschützt sind.

Gerechtigkeit, Freiheit, Menschenwürde, Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit und Minderheitenrechte sind grundlegende Werte jeder substantiellen Demokratie. Der Bezug dieses Konzepts zur „psychischen Gesundheit“ – für sich bereits ein schwer fassbarer und umstrittener Begriff – erklärt sich nicht von selbst. Wichtige Gerichtsurteile zu Themen wie die sexuelle Ausnutzung von Patienten durch Therapeuten, das Ausmaß der therapeutischen Schweigepflicht in der Psychotherapie, oder sogar Urteile des Obersten Gerichtshofs in Widerrufung von Regierungsentscheidungen, die die Rechte der Patienten verletzten, können nicht erfassen, in welchem Maße die psychische Gesundheit vom Bestehen einer funktionierenden liberalen Demokratie abhängig ist. Zwar verweisen wissenschaftliche Studien auf einen direkten Zusammenhang zwischen psychiatrischer Morbidität und Menschenrechtsverletzungen, aber auch sie liefern keine ausreichende Antwort auf die Frage, ob es eine Psychotherapie, die diesen Namen verdient, überall und zu jeder Zeit geben kann. Können Psychotherapeuten wirklich bis zu dem Moment frei arbeiten, an dem Freuds Schriften im Stadtzentrum verbrannt oder Regimegegner zwangsweise in geschlossene Psychiatrien eingewiesen werden? Im nationalsozialistischen Deutschland wurde das Gesetz, das den Begriff „Verrat“ definierte, erweitert, noch bevor die Verfolgung der Juden offiziell Politik wurde. Unter dem neuen Gesetz galt auch das Lesen einer kommunistischen Zeitschrift als Verrat. Es führte unter anderem dazu, dass Therapeuten aufhörten, Aufzeichnungen über ihre Therapiesitzungen zu führen. Die Psychoanalytikerin Edith Jacobson, beispielsweise, wurde von der Gestapo festgenommen, weil sie sich geweigert hatte, Informationen über einen Patienten preiszugeben. Mit anderen Worten, der korrumpierende Einfluss eines totalitären Staates auf die medizinische Praxis und Ethik beginnt bereits in frühen, unscheinbaren Stadien, und kommt aus unerwarteten Richtungen.

Darum darf der Kampf der Therapeuten für die Demokratie nicht auf formale Aspekte therapeutischer Praxis und Ethik reduziert werden, etwa nur auf die Meinungsfreiheit der Patienten und den Schutz ihrer Privatsphäre. Entscheidender wird sein, wie der Kampf im weiteren Kontext politischer und sozialer Strukturen geführt wird – im Kontext unabhängiger Gerichte, freier Presse, funktionierender Regierungsinstitutionen, Arbeiterkomitees und diverser zivilgesellschaftlicher Organisationen – in wechselseitiger Abhängigkeit mit der seelischen Welt und psychischen Gesundheit aller Bürger und Bürgerinnen. Psychotherapie braucht mehr als nur zwei Menschen, die bereit wären, sich alles zu sagen, was ihnen durch den Kopf geht.

Vor etwa 120 Jahren hatte Freud begonnen, jedem zu erklären, der bereit war zu lernen, wie die Verdrängung menschlicher Sexualität in Gesellschaft und Medizin sowohl der psychischen Gesundheit schadet als auch dem Recht von Frauen und Kindern auf ein gutes Leben. Heute ist es unsere Pflicht, jeden, der zu lernen bereit ist, daran zu erinnern, dass niemand immun ist gegen die Geistesstörungen und Todestriebe jenes unzurechnungsfähigen Landes, in das sich Israel verwandelt hat. Selbst wer volle Bürgerrechte genießt, eine eigene Wohnung und einen festen Arbeitsplatz hat, selbst diejenigen, die sich stabiler psychischer Gesundheit erfreuen, oder nach Ritualgesetz leben und Schabbatkerzen anzünden – jeder, der sich bislang in Israel heimisch fühlte, wird im Israel der Regierung Netanjahu/Ben-Gvir voraussichtlich auf unheimliche Weise die gewohnte Normalität vermissen. Ganze Bibliotheken zeugen davon, dass selbst bei der Auswanderung aus einem verrückt gewordenen Land der Abschied nicht leichter fällt.

Ein klein wenig Geschichtsunterricht: Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wiesen jüdische Psychiater auf den Zusammenhang zwischen schlechten Lebensumständen und der prekären existentiellen Situation ihrer jüdischen Patienten hin, samt körperlicher und seelischer Erkrankungen. Unter den Psychiatern fanden sich solche, die die Eigenarten der psychologischen Disposition osteuropäischer Juden mit deren schwierigen Lebensbedingungen in Verbindung brachten und die die hohe Depressions- und Selbstmordrate unter westlichen Juden auf deren Aufstiegsbemühungen in der christlichen Gesellschaft zurückführten, in der sie gezwungen waren, ihre einzigartige Identität aufzugeben. Beiden Erklärungsansätzen gemein ist eine breitgefächerte soziologische, politische und kulturelle Sichtweise, die nach einer Erklärung für die „geistige Entartung der Juden“ außerhalb der in der Psychiatrie der Jahrhundertwende zur Verfügung stehenden genetischen, biologischen und rassistischen Erklärungsmodelle suchte.

Die zionistische Bewegung bediente sich der Psychiater, um sich als Nationalbewegung spirituell-therapeutischer Bestimmung zu präsentieren. Diese „therapeutische“ Konzeption der zionistischen Revolution fand intellektuelle Vertreter in allen politischen Strömungen – sogar unter Freuds Nachfolgern, obwohl dieser eher dazu geneigt war, im Zionismus mehr eine Form der Wunschvorstellung als eine tragfähige Lösung für das Problem des jüdischen Volkes zu sehen.

Die mörderischen, totalitären Regime, die das Angesicht des 20. Jahrhunderts und das Schicksal der Juden prägten, gaben den bedeutendsten Anstoß zum Studium der sozialen und politischen Bedingungen und Umstände, unter denen sich individuelle Ängste und Leidenschaften in den Gruppenwahn des modernen Staates verwandeln können, vermittels hemmungsloser Führer und des Raubtierkapitalismus. Einer der Angelpunkte zwischen der psychologischen Privatsphäre und der politischen Öffentlichkeit ist ihre Haltung zu Wahrheit, Ambivalenz und Wissen. Im Unterschied zur formalen Demokratie verkörpert die liberale Demokratie auch universelle Werte, die als „therapeutisch“ bezeichnet werden können.

Eine gute Psychotherapie setzt geistige Kräfte, Liebe und Kreativität frei, indem sie in ihren Patienten einen Sinn für Wahrheit, Gerechtigkeit und Verantwortung für das eigene Innenleben entwickelt. Politik übt einen großen Einfluss sowohl auf die Bereitschaft und Fähigkeit des Menschen aus – als Individuum und als Gesellschaft –, nach dem Guten, Richtigen und Schönen zu suchen, als auch den Schmerz und die Angst, die mit dieser Suche verbunden sind, zu verkraften, und die Konsequenzen der erkannten Wahrheit zu tragen. Psychotherapie ist dann zweckdienlich, wenn sie zur Selbsterkenntnis und nicht zur Linderung von Angstzuständen führt. Sie teilt mit dem demokratischen Projekt die Fähigkeit, integral zu denken und fühlen, sowohl Gedanken und Gefühle als auch Vernunft und Leidenschaft in wechselseitige Beziehung zu setzen – eine äußerst fragile geistige und kulturelle Errungenschaft, die die Menschheit nur mit großer Anstrengung erreicht hat.

Wir können der Politik nicht gleichgültig gegenüberstehen, denn als Menschen brauchen wir für unser Wachstum und unsere Entwicklung nicht nur gute Eltern und ein gutes Bildungs- wie Gesundheitssystem. Wir brauchen auch ein günstiges politisches Umfeld, in dem unsere Bemühungen nicht sabotiert werden, als verantwortungsvoll handelnde Individuen aufzutreten, die eigenständig nach Wahrheit suchen, und versuchen, gemäß ihrer Wahrheit zu leben, selbst wenn diese nicht immer gleich unseren unmittelbaren Leidenschaften und Interessen dient. Die Politik ist auch diejenige, die uns die Möglichkeit gibt oder nimmt, die Vielfalt verschiedener Wahrheiten und Perspektiven in der Gesellschaft zu akzeptieren, ohne physische Gewalt oder Massenmanipulation notwendig zu machen. Eine liberale Demokratie fördert die Bereitschaft von Individuen und Kollektiven, mehr als eine Meinung in ihre geistige und zwischenmenschliche Welt zu integrieren. Wer sich heutzutage für die Träume seiner Patienten interessiert, kann bezeugen, mit welcher Geschwindigkeit die individuelle Psyche die perfide Attacke der Regierung Israels auf den obersten Gerichtshof als Angriff auf das eigene Wesen deutet.

Menschen werden nicht als Demokraten geboren. Die Psyche ist eine Arena, in der sich Konflikte zwischen Bedürfnissen, Wünschen, Frustrationen, Ängsten und gegensätzlichen Impulsen ausspielen. Neben dem Wunsch nach Unabhängigkeit und geistiger Eigenständigkeit neigen Menschen unter anderem dazu, ihre Seelen zu verkaufen, sich auf- und dem hinzugeben, was eine Beruhigung ihrer Ängste verspricht. Neben der Neugier und dem Wunsch, die Welt zu erforschen, fürchten wir Neues und Fremdes so wie die Bereitschaft, in schmerzhaften, furchterregenden und gefahrvollen Situationen ganze Teile innerer und äußerer Wirklichkeit zu hassen und zu leugnen.

Tyrannische und narzisstische Führungspersönlichkeiten verstehen es, die dem Menschen innewohnende Tendenz zu radikalisieren, die die Welt nur im Schwarz-Weiß Kontrast sieht. Das misstrauensvolle und vorverurteilende politische Klima, auf das sich populistische Führer ausgezeichnet verstehen, verstärkt nicht nur die Angst vor dem Anderen, sondern auch vor der Begegnung mit unserer eigenen psychologischen Wirklichkeit. Daraus entsteht jene Art von Taubheit, Engstirnigkeit und Gleichgültigkeit, an die sich jeder gut erinnern kann, der jemals unter einer Diktatur gelebt hat.

Populistische Führer und die von ihnen kontrollierte Presse verwandeln die Wahrheit zur Lüge. Sie gehen sicher, dass unter dem „Pluralismus“ Slogan „alternative Fakten“ auf die Öffentlichkeit herab prasseln. Derart schaffen sie Chaos und Verwirrung, mit Hinblick sowohl auf die „objektiven Tatsachen“ des Lebens, als auch auf die Möglichkeit, etwas über die Welt wissen zu können. In jenem toxischen geistigen Gesprächsklima, in dem scheinbar nichts gewusst werden kann und alles nur subjektiver Deutung unterliegt, verschwindet auch das Interesse an Forschung, Nachdenken und Meinungsaustausch. Die meisten geistigen Ressourcen bleiben auf leicht zugängliche Vergnügungen ausgerichtet, mithin lediglich auf Stress- und Angstabbau. In nichtdemokratischen Regimen übertönen Erregungszustände und Gefühlsüberschwang gemeinhin das Gefühl; wird überstürztes und gewalttätiges Handeln zumeist der Überlegung vorgezogen. In einer nichtdemokratischen Gesellschaft bleibt kein Platz für Scham, Reue oder Gewissensbisse.

Wirksam ist eine Psychotherapie dann, wenn sie der Person hilft, sich ihrer unbewussten Wünsche, Ängste und Fantasien bewusst zu werden, inklusive jener, die für die der Seele innewohnenden undemokratischen Verlangen verantwortlich sind. Für Demokratie und gegen Tyrannei aus der Perspektive „psychischer Gesundheit“ zu kämpfen bedeutet, jenen Versuchungen zu widerstehen, die uns von undemokratischen Regierungsformen sowie bestimmten Geisteshaltungen in Wissenschaft, Kultur und Religion angeboten werden: Formen der Selbsttäuschung und -idealisierung, Gleichmacherei und Überheblichkeit, sowie Duckmäusertum als Bewahrung des eigenen „Seelenfriedens“. In den Händen eines faschistischen Regimes verliert sogar ein Kunstwerk seine symbolische und subversive Bedeutungen; verwandelt sich in banales, betörendes Geschwätz.

All diese Gründe verdeutlichen zugleich, warum die Demokratie stets ein frustrierendes und unabgeschlossenes Projekt bleiben wird, das sich gänzlich jedem Anspruch auf eine „Endlösung“ komplexer politischer und sozialer Probleme verweigert. In nichtdemokratischen Regimen – unter dem Druck, durch Übernahme von Verleugnungs- und Projektionsstrategien Teil kollektiver Verfolgungserfahrung zu werden –, fällt es selbst geistig gesunden Menschen schwer, zwischen innerer und äußerer Realität zu unterscheiden. Das fehlende Vertrauen in die Presse und etablierte Nachrichtenagenturen verwandelt selbst harmlose Handlungen wie didaktische Lehre und investigative Recherchen in einen subversiv anmutenden Akt. An Stelle von Mitgefühl, Rücksichtnahme und eine Akzeptanz der Parteilichkeit wie wechselseitigen Abhängigkeit treten nun Bosheit, Überheblichkeit, Verachtung und Engstirnigkeit, die einen „kulturellen Code“ bilden – vermittels dem die Regierung ihren Bürgern und Bürgerinnen einen alternativen Gesellschaftsvertrag anbietet, dessen Konventionen das „trockenen Gesetz“ verdrängen sollen. Der korrupte Staat und seine ausgehöhlten Institutionen signalisieren der Öffentlichkeit, dass sich das wirkliche Leben außerhalb des Gesetzes abspielt. Er erlaubt Hass, Neid, Unterdrückung und Verachtung dem Nächsten gegenüber, um sich jener Ängste zu erwehren, die die Erfahrungen von Abhängigkeit, Mangelhaftigkeit, Unvollständigkeit, Unwissenheit, Unsicherheit und Einsamkeit suggerieren.

Dem Regierungsputsch darf es nicht gelingen, die politische Energie, die in den letzten Wochen von der israelischen Therapeutengemeinschaft ausging, zu bremsen. Die Geschichte lehrt nicht nur, dass es ohne Demokratie keine psychische Gesundheit gibt. Sie lehrt auch, dass die auf diesem Gebiet Tätigen eine wichtige Rolle bei der Wiederherstellung und Heilung der Gesellschaft spielen – sobald es ihr gelingt, sich aus dem Griff der Todestriebe des Faschismus zu befreien und versucht, ihre demokratischen Kräfte wieder zu beleben.
 
 
 
 
Aus dem Hebräischen von Jan Kühne

Letzte Änderung: 05.03.2023  |  Erstellt am: 05.03.2023

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Kommentare

Ariane Ehinger schreibt
Lieber Eran, Fritz und ich haben voller Bewunderung Deinen Artikel gelesen. Wir sind uns bewusst, dass man antidemokratischen Tendenzen überall entgegentreten muss.

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