Der 2011 verstorbene Philosoph Karl-Heinz Haag hat sich zu Jürgen Habermas nicht öffentlich geäußert, aber dessen Hauptwerk und den Philosophischen Diskurs der Moderne genau gelesen und mit einer Fülle von Anstreichungen sowie mit einigen Anmerkungen versehen. Mit Hilfe dieser Anmerkungen hat Peter Kern eine imaginäre Haag-Habermas-Debatte gestaltet.
Von Hegel geht die Geschichte, er habe die Französischen Revolution sein Leben lang mit einer am 14. Juli geöffneten Flasche Wein gefeiert, was die Junghegelianer als ein Wegfeiern deuteten. Der vom Feuilleton zum zeitgenössischen Hegel geadelte Habermas hat eben den Orden Pour le Mérite erhalten, und wieder ließe sich über ein Wegfeiern mutmaßen – diesmal des Philosophen selbst. Der schreibt in seinem letzten Buch über das Dasein eines emeritierten Professors, dem die Gesprächspartner abgehen. Diese Bemerkung ist keine bloß kontingente über die Einsamkeit nach dem Berufsleben. Sie steht im Kontext der von Habermas aufgeworfenen Frage: Wozu noch Philosophie? Die heute erfolgreiche ist gehobene Ratgeberliteratur (Glück. Alles, was Sie darüber wissen müssen) und ihre Urheber gleichen den Influencern. Bei Habermas dagegen wird eine moralisch-praktische Frage verhandelt. Kritische Philosophie hat keine Zukunft, wenn sich kein Adressat mehr für sie findet; das ist seine Sorge.
Mit der Flaschenpost
Am kommunikationsfreudigen (bis rauflustigen) Habermas hat es nicht gelegen, dass kein Dialog zwischen politisch Handelnden und dem Theoretiker des kommunikativen Handelns zustande kam. Der halbstaatliche Ehrenorden wirkt wie ein Trostpreis für verweigerte Debatten. Zwar hat man ihn zu Zeiten von Rot-Grün an den hohen politischen Feiertagen immer mal wieder zu einem Festvortrag eingeladen. Den Werkeltag haben die Grünen und die Sozialdemokraten aber ohne theoretische Orientierung bestritten. Dass die gegenwärtige Ampel-Regierung Bedarf an intellektueller Debatte anmeldet, kann man wahrlich nicht sagen. Die Diskussion fällt zuverlässig aus, und die an der fortschreitenden Demokratisierung arbeitenden politischen Kräfte nehmen Schaden. Auch der Theoretiker, dessen politische Interventionen auf wenig Gegenliebe trifft und der sich daher mit dem akademischen Geschäft begnügen muss, hat Schaden genommen. Habermas erwähnt in seinem letzten Buch das Flaschenpostmotiv der Kritischen Theorie. In einer vergleichbaren Lage sieht er sich wohl auch.
Aber Habermas schraubt doch die Kritische Theorie auf das Niveau einer traditionellen Theorie herunter, wussten einmal seine von links kommenden Kritiker. Dieser Anwurf war so redundant, wie es die ewige Versicherung des Kritisierten ist, er habe der Kritischen Theorie und ihrer hypertrophen Vernunftkritik eine Grundlegung geliefert, damit es mit ihr überhaupt weitergehen könne. Auch Adorno und Horkheimer sahen ihre kritische in eine traditionelle Theorie rückverwandelt; das Verschwinden des Adressaten, das Fehlen einer revolutionären Organisation mache aus ihr eine politisch abstinente, gleichsam stoische Philosophie. Horkheimers Formulierung „wir sind die Stoa, weil es keine Partei gibt“, festgehalten in den internen Diskussionsprotokollen des Instituts für Sozialforschung.
Frankfurter Stoa
Es war die Resignation nach dem Ende des Faschismus, die sich in diesem 1946 geäußerten Satz ausdrückt. 20 Jahre danach machte sich die Studentenbewegung auf, die Resignation abzuschütteln. Man wollte die Verhältnisse wieder zum Tanzen bringen, und wie der Tanz zu Ende ging, ist bekannt. Die Studentenbewegung ist gescheitert, weil es ihr und der fast völlig zertrümmerten Arbeiterbewegung nicht gelungen war, jenseits der Sozialdemokratie eine Organisation zu schaffen, die den langen Marsch durch die Institutionen mit langem Atem hätte versorgen können. Die Niederlage in der Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze war der Wendepunkt. Von der Protestbewegung ließ sich Theodor W. Adorno noch überzeugen, den Vorsitzenden der IG Metall, Otto Brenner, aufzusuchen, um ihn zu bitten, den Generalstreik auszurufen. Vergeblich; der Gewerkschaftsmann lehnte ab, aus gutem Grund; denn er wusste, wie es um das reale Bewusstsein der Industriearbeiter bestellt war, die in ihrer Mehrzahl weder den autoritären Staat fürchteten, noch Sympathien für die Langhaarigen aus gutem Haus hegten. Ein nicht befolgter Aufruf zum Generalstreik wäre wieder das Ende für die gerade auf die Beine gekommenen Gewerkschaften gewesen.
Als Habermas 1981 sein Hauptwerk, die „Theorie des Kommunikativen Handelns“, vorlegte, war dies alles längst vorbei. Die beiden Bände haben das Wort Anschlussfähigkeit zum stehenden Ausdruck werden lassen. Der Anschluss an empirische Studien und die analytische Philosophie ist gemeint. Dass er keine eingreifende, politisch-praktische, keine Kritische Theorie mehr liefere, warf man Habermas damals vor, als trage er mit Schuld daran, dass sich die 68er Bewegung erst dogmatisiert und dann völlig verkrümelt hatte. Er konterte diesen Vorwurf sehr selbstbewusst: Als unorthodoxer Historischer Materialist verhelfe er der in Resignation und Dogmatismus abgerutschten Neuen Linken zu einer mit den Verhältnissen al pari stehenden Gesellschaftstheorie.
Auch die Begründer der alten Schule musterten die zeitgenössische Philosophie durch mit der Frage, ob darin etwas für gesellschaftliche Lernprozesse Brauchbares wäre. Habermas betreibt zeitlebens das nämliche Geschäft, aber mit seinem Durchmustern macht er sich sehr verdächtig. Es wurde zweierlei Maß angelegt, aber das ist lange her. Jüngeren Leserinnen und Lesern sei ein Zusammenhang verdeutlicht, der ihnen vermutlich völlig fremd ist. Der „einzige deutsche Philosoph von Weltrang“, wie ihn das liberale Feuilleton feiert, stand einmal heftig in der Kritik und nicht nur bei den Neokonservativen, die ihn hassen, seit er sie mit diesem Etikett versehen hat.
Weltrang-Philosophie, ungehört
Weltrang-Philosophie, die Marketingsprache der zerfallenen bürgerlichen Öffentlichkeit, die Habermas einmal analysiert hat. Für diese Öffentlichkeit muss alles VIP und hochkarätig und Spitze sein, wenn es beachtet sein will. Der Widerpart der bürgerlichen Gesellschaft ist auch zerfallen. Die Köpfe der ehemals Neuen Linken, die Talking Heads, sind verstummt, was nicht bloß biologische Ursache hat. Mancher schweigt aus Resignation und Depression; wer kann es ihm verdenken? Ein Lautsprecher in den auf 68 folgenden Jahren jammert, er habe sich im roten Jahrzehnt die sichere Karriere als C4-Professor versaut, und der sein Leid festhaltende FAZ-Journalist nickt teilnahmsvoll. Die Linke gibt es nur noch als Fakepartei gleichen Namens, oder man ist in der Sparte Kultur beschäftigt. (Die auf der Documenta Beschäftigten können schon zwischen authentischer Kunst und authentischem Antisemitismus nicht unterscheiden). Die Sozialdemokratie lässt sich vom Spin Doctor mit den weißen Sneakers beraten, die braucht keinen von der Krawatte nicht lassenden, emeritierten Prof.
Die Theorie des kommunikativen Handelns hatte eine Vielzahl von Publikationen des mit einer unglaublichen Produktivität gesegneten Autors zur Folge, die um das nachmetaphysische Denken kreisen und von seinem Hauptwerk angestoßen sind. Noch sein letztes Buch sollte ursprünglich Zur Genealogie nachmetaphysischen Denkens heißen. Dieses Denken laufe auf seine eigene Philosophie hinaus, so Habermas.
Der folgende Text unternimmt den Versuch einer Kritik der Diskursethik aus dem Geist der gescholtenen Metaphysik. Metaphysik zeuge nach ihrer Abdankung von einem Denkgestus, der keine prinzipiell widerlegbaren Geltungsansprüche erhebe, sondern ewige Wahrheit dekretiere, so Habermas. Der verstorbene, halb vergessene Karl Heinz Haag war das Gegenteil eines geistigen Sehers, und elitäre Selbstinszenierung war ihm wesensfremd. Mit ihm soll gezeigt werden, dass die Sprache auf eine Ontologie verweist, die ihr die Diskurstheorie gerade bestreitet. Haag hat sich zu Habermas nicht öffentlich geäußert, aber dessen Hauptwerk und den Philosophischen Diskurs der Moderne genau gelesen und mit einer Fülle von Anstreichungen sowie mit einigen Anmerkungen versehen. Auf die Anmerkungen bezieht sich der Autor dieses Textes.
Eine imaginäre Haag-Habermas-Debatte also. Ist so eine Debatte mehr als ein innerakademischer Streit? Dem Autor will es so scheinen. Er verweist auf das Selbstverständnis der Kritischen Theorie, der die Arbeit an der Theorie als praktisch-kritische Tätigkeit gilt. Sie dient dem Interesse der Individuen an ihrer Emanzipation. Die die bestehenden Verhältnisse mit Aussicht auf Erfolg verändern wollen, sind auf eine wahrheitsfähige Theorie angewiesen. Ohne solche Wahrheit bleiben die politisch Handelnden desorientiert, und der Misserfolg ist vorgezeichnet. Die von ihm entwickelte Diskursethik sei es, welche zu orientieren vermag, sagt Habermas. Die Frage, ob dieser Geltungsanspruch einzulösen ist, ist demnach keine bloß akademische.
Verlorene geistige Wurzeln
Um den Zusammenhang kurz zu skizzieren, aus dem die Diskursethik hervorgegangen ist: Habermas greift die Vernunftkritik auf, wie sie die Dialektik der Aufklärung formuliert. Der klassischen Text gibt Vernunft und instrumentelle Rationalität als identisch aus. Die fortschreitende Naturbeherrschung zeitigt demnach ein ironisches Resultat: Die Gesellschaftsmitglieder, deren technisches Knowhow im geschichtlichen Verlauf immer mehr wächst, werden im industriellen Prozess zur Naturkraft verdummt und zum Mittel degradiert. Der Fortschritt in der Beherrschung der Natur kommt nicht ihnen zugute, wie es die Aufklärung seit ihren Anfängen versprochen hat. Stattdessen finden sie sich in der babylonischen Gefangenschaft der den Produktionsapparat besitzenden Klasse wieder. Ihrer Verdinglichung wegen müssen sie sich verhärten. Die Beherrschung der äußeren Natur und die Beherrschung der inneren entsprechen sich.
Die Verkehrung von Zweck und Mittel ist das Thema der Kritischen Theorie. Für Adorno und Horkheimer ist die Logik der instrumentellen Vernunft so zwingend wie aussichtslos. Als sie in 1947 die Dialektik der Aufklärung veröffentlichten, warf der Nazismus, wie von seinen Protagonisten versprochen, die Tür mit einem großen Knall hinter sich zu und die Erde erzitterte. In die Kritische Theorie geht diese Erfahrung ein; der Pessimismus wird die beiden Autoren nicht mehr verlassen. Innertheoretisch, so Habermas, stellt uns die später so genannte Frankfurter Schule vor ein unlösbares Problem; „sie weist der Selbstkritik der Vernunft den Weg zur Wahrheit,“ und versperre diesen Weg zugleich. Das Wesen der Aufklärung sei technisches Wissen, und mit der Entfaltung dieses Wissens sei eine Welt entstanden, in der die Idee der Wahrheit nicht mehr zugänglich sei. Habermas zitiert im ersten Band seines Hauptwerks Horkheimer: „Gerechtigkeit, Gleichheit, Glück, Toleranz, alle die Begriffe, die …in den vorhergehenden Jahrhunderten der Vernunft innewohnen…haben ihre geistigen Wurzeln verloren…Approbiert durch verehrungswürdige historische Dokumente, mögen sie sich noch eines gewissen Prestiges erfreuen…Nichtsdestoweniger ermangeln sie der Bestätigung durch die Vernunft in ihrem modernen Sinne. Wer kann sagen, daß irgendeines dieser Ideale enger auf Wahrheit bezogen ist als sein Gegenteil?“
Haag merkt hier an: „modern=nom. Sinne.“ Der Verweis auf den Nominalismus wird im Folgenden noch bedeutsam sein. Haags stimmt dem folgenden Habermas-Satz zu (ausgedrückt mit der lateinischen Abkürzung ‚dist‘ für distincta): „Aufgabe der Kritik ist es, bis ins Denken selbst hinein Herrschaft als unversöhnte Natur zu erkennen. Aber selbst wenn das Denken der Idee der Versöhnung mächtig wäre…wie sollte es diskursiv… die mimetischen Impulse in Einsichten verwandeln, wenn doch Denken stets identifizierendes Denken ist, an Operationen gebunden, die außerhalb der Grenzen der instrumentellen Vernunft keinen angebbaren Sinn haben, zumal heute, wo mit dem Siegeszug der instrumentellen Vernunft die Verdinglichung des Bewußtseins universal geworden zu sein scheint.“ (Von „wenn doch“ bis „Sinn haben“ hat Haag diesen Satz unterstrichen)
Die innere Logik des Handelns
Die Aporie der kritischen Theorie – Habermas formuliert sie und Haag stimmt ihm bei. Ein paar Seiten weiter heißt es, „daß noch die Kritik der instrumentellen Vernunft dem Modell, dem die instrumentelle Vernunft selber gehorcht, verhaftet bleibt.“ Und wieder stimmt Haag zu, aber er notiert dazu: „Das hängt vom Telos der Kritik ab.“ In der Diagnose sind die beiden sich einig, aber ihre Therapie fällt ganz unterschiedlich aus. Das Telos der Kritik bei Habermas ist bekannt: „Die utopische Perspektive von Versöhnung und Freiheit ist in den Bedingungen einer kommunikativen Vergesellschaftung der Individuen angelegt, sie ist in den sprachlichen Reproduktionsmechanismus der Gattung schon eingebaut.“
Habermas reklamiert einen komplexeren Begriff von Vernunft als Horkheimer und Adorno. Neben die mit technischen Regeln operierende instrumentelle Vernunft trete eine zweite, die an Verständnis und Kooperation orientiert sei. Diese kommunikative Vernunft weise die instrumentelle immer wieder in ihre Schranken. Sie berge das Potential an Solidarität und Veränderungsbereitschaft, das die funktionalistische Rationalität nicht mehr aufweisen könne. Auch dem kommunikativen Handeln sei eine von der Aufklärung freigesetzte Entwicklungslogik eigen. Gesellschaftliche Institutionen müssten ihren Geltungsanspruch seither mit Gründen ausweisen.
Habermas ist es laut seiner Selbstauskunft gelungen, die Kritischen Theorie gegen ihren Pessimismus zu immunisieren. Den Gedanken der Selbstfesselung der Kritischen Theorie und der von ihm geleisteten Entfesselung wird Habermas in seinen Folgewerken dann ständig wiederholen. Adorno hätte die Erkenntnistheorie zugunsten der ästhetischen Theorie verabschiedet, während sein kommunikatives Handeln dazu einlade, das geschichtlich angesammelte Vernunftpotential mit Politik auszuschöpfen. Kommunikative Vernunft verleihe dem an Emanzipation orientierten Handeln eine innere Logik. Statt einer hemmungslosen Rationalitätskritik das Wort zu reden, wären Adorno und Horkheimer gut beraten gewesen, ihrer eigenen Skepsis skeptisch zu begegnen. „Auf diesem Wege hätten sich die normativen Grundlagen der kritischen Gesellschaftstheorie vielleicht so tief legen lassen, daß sie von einer Dekomposition der bürgerlichen Kultur, wie sie sich damals in Deutschland vor aller Augen vollzogen hat, nicht berührt worden wäre.“ So steht es im Philosophischen Diskurs der Moderne.
Seine Theorie des kommunikativen Handelns liefert also die normative Grundlegung, sagt Habermas. Erst jetzt sei man im Besitz des Maßstabs, um zu kritisieren, was mit dem Prozess der Aufklärung falsch gelaufen sei. Ist der Grund gelegt, geht es nicht mehr tiefer, sollte man meinen. Aber die Haagsche Kritik setzt hier an. Er will von Habermas wissen, was dessen Sprachtheorie ontologisch zur Voraussetzung hat. „Wie ist eine sprachliche Erzeugung von Intersubjektivität ontologisch möglich?“ Das notiert Haag an den Rand der eben genannten Stelle und gibt sich selbst die Antwort: Von kommunikativem Handeln „kann sinnvoll nur die Rede sein, wenn das Handeln eines von Subjekten ist, die vermöge ihres Wesens aufeinander bezogen, also der Kommunikation fähig sind.“
Die stumme Natur
Habermas handelt vom Staat, von der Bürokratie, dem Rechtswesen, den Parteien, den Institutionen. Diese soziale Welt ist durch Sprachhandlungen hervorgebracht, im Unterschied zur ersten Natur, die wir vorfinden und bearbeitend aneignen. Dass das instrumentelle Handeln in der ersten Natur eine objektive, ontologisch strukturierte Welt voraussetzt, wird von ihm nicht in Abrede gestellt. Hier geht es um technische Regeln in der Bearbeitung der physischen Welt. Die erste Natur ist ihm aber eine dingliche Gegenstandswelt, über die nachzudenken sich weiter nicht lohnt. Habermas will ja, nach dem vollzogenen linguistic turn, eine Alternative zur Beobachterperspektive einnehmen: Hier das Subjekt, dort das Objekt. Das sei Bewusstseinsphilosophie. Er gibt der sprachlich erzeugten Intersubjektivität den Vorrang: Hier Ego, dort Alter Ego.
Da die erste Natur nicht spricht, ist sie ihm gleichsam der Rede nicht wert. Und da sie von uns nicht erzeugt ist, eignet ihr ein Moment von Unerkennbarkeit. Für diese Unerkennbarkeit steht das kantsche Wort vom Ding an sich. Habermas schwankt, ob dieses Ding an sich ein bloßes Ding für uns ist oder ob ihm gleichsam noch Gravität zukommt. Einerseits können wir über das Ding an sich nur in Form sprachlicher Äußerung reden, andererseits löst es sich in sprachliche Rede nicht auf. In einem Buch seiner mittleren Phase heißt es: „Der Widerstand, den die Realität falschen Interpretationen entgegensetzt, zwingt uns, die Natur, obgleich sie für uns nur als eine objektivierte wissenschaftlich zugänglich ist, als eine an sich seiende zu konstruieren.“ In seinem letzten großen Buch erwägt er mit einem seiner Gewährsleute „die Liquidierung des Ding an sich.“
Die außermenschliche und die innermenschliche Natur erscheinen nur noch als Grenzbegriff, und jede Bestimmung einer Grenze ist schon ein Schritt über sie hinaus. Habermas lehnt mit Hegel eine Relativierung ‚unserer‘ Erkenntnis ab. Das sei die Einnahme eines Gottesstandpunkts, eine angemaßte Reflexion von einem unmöglichen view from nowhere aus. „Wir können keine alternative Art von ‚Erkenntnis‘ denken, die nicht schon… die Bestimmungen ‚unserer‘ Erkenntnis widerspiegeln würde.“ Habermas spricht von der „Hinterwelt des ‚Dings an sich‘“, und dieses Nietzsche-Wort lässt den in überholter Metaphysik befangenen Hinterweltler deutlich anklingen. Dass Habermas sich damit, kantisch gesprochen, in der Welt der Erscheinung bewegt, ficht ihn nicht an. Seine Rekonstruktionsversuche sind „nicht mehr auf ein Reich des Intelligiblen jenseits der Erscheinungen“ gerichtet, heißt es im Philosophischen Diskurs, „…aber ein intelligibles Ansichsein der Erscheinungen voraussetzen,“ merkt Haag hier an.
Nominalismus als Fortschritt
Habermas hält es bezüglich der kreatürlichen Welt mit den Naturwissenschaften. Da diese vom Ansichsein der Phänomene keine Impression erhalten, die sich per Experiment zeigen lässt, behandelt sein nachmetaphysisches Denken diese Wesensschicht als sei sie nichtexistent. Ist das Ansichsein aber gleichsam ad acta gelegt, gibt es die gegenständliche Welt nur noch als chaotische Mannigfaltigkeit. Begriffe, die das Allgemeine erfassen, wären demnach nur noch konventionell gebrauchte Worte. Real wäre bloß das Individuum, keine Art oder Gattung, mit denen es seine Wesensmerkmale teilt. Der Begriff des Hundes bellt nicht, lautet das zugehörige Bonmot.
Dass unsere Erkenntnis für uns unhintergehbar ist, diesen Satz würde Haag wohl unterschreiben und gleichwohl entgegen: Die uns erscheinende Welt muss eine von Etwas sein, und dieses Etwas begegnet uns nicht in der Weise bloß singulärer Objekte. Es gibt ein geordnetes Allgemeines, auch wenn es sich nicht näher bestimmen lässt. Gibt es das Allgemeine und ist es das dem Singulären eingeschriebene Prinzip? In seinem Spätwerk kommt Habermas auf diese Debatte zurück. Anlässlich der Theologie des Thomas von Aquin schreibt er, das entstehende nachmetaphysische Denken habe gleichsam „einen Sprengsatz in das Sprachspiel der Metaphysik“ gelegt.
Der sich von den Griechen herschreibenden Metaphysik gilt das Seiende als bloßer Schatten des Allgemeinen. Einzeldinge gründen demnach in Arten, diese in Gattungen, welchen höhere Gattungen übergeordnet sind, und die Hierarchie endet beim reinen, göttlichen Sein. Diese Philosophien wollen nicht wahrhaben, dass abstrahierendes, menschliches Denken hinter diesen Ideen steht und kein göttlicher Logos. In der Kritik solchen Idealismus waren Haag und Habermas sich einig. (In: Nachmetaphysisches Denken zitiert Habermas zustimmend Haags Buch Der Fortschritt in der Philosophie). Die übersinnliche Idee als das wahre Sein, das sinnliche Naturding als Abbild, als unterste Stufe in der Hierarchie des Seins auszugeben– gegen diese bis ins frühe Mittelalter dominierende Philosophie, gegen den sogenannten Universalienrealismus, war der auf der Realität der Einzeldinge bestehende Nominalismus ein philosophischer Fortschritt.
Der Nominalismus überzieht aber sein Argument. Die Ordnung der Dingwelt in Art und Gattung sei nur unsere Vorstellung, sei nur das der Natur übergeworfene Begriffsnetz, behauptet er. Es gäbe keine innere, wesenhafte Beschaffenheit der körperlichen Dinge, auf der ihre wahrnehmbaren Qualitäten beruhten. Im Inneren der Natur wäre – nichts. Gegen diesen Nihilismus ist festzuhalten: Der Natur selbst kommt ein logischer Aufbau zu. Die subjektiven Ordnungsprinzipien basieren auf einer objektiven Struktur. Wäre die Welt nur als Ansammlung singulärer Objekte gegeben, ließe sich keine Erkenntnis gewinnen; Naturgesetze zu formulieren, wäre unmöglich. Worauf naturwissenschaftliche Erkenntnis basiert, ist ihrer auf Experiment begründeten Methode zwar nicht zugänglich. Dennoch kommt dieser Wesensschicht Wahrheit zu. Denn wiewohl sinnlich nicht wahrnehmbar, ist das Allgemeine für die Erkennbarkeit der Naturdinge vorausgesetzt. Von ihm handelt Metaphysik.
Keine ontologische Wahrheit
Den hier in knappsten Worten dargestellten Zusammenhang hat Karl Heinz Haag in seinem Werk entfaltet. Seine Metaphysik entzieht sich der Alternative, wonach entweder das Allgemeine oder das Besondere wirklich sei. Habermas hat sich mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns auf die Seite des nachmetaphysischen Denkens geschlagen. Er hat auf diesen Zusammenhang nicht reflektiert, zum Schaden seiner Theorie. Warum zum Schaden? Weil er das Nachdenken über das Allgemeine für sinnlos ansieht. Allgemeines, Gattung, Art, Individuum sind ihm Kategorien der alten, metaphysisch verstrickten Philosophie. Diese Kategorien machen für ihn vielleicht noch im Rahmen der Sprachpragmatik Sinn. Die Reflexion auf die erste Natur und ihre Kosmologie fällt damit aus, auch wenn sich ihm die Natur nicht verflüchtigt, wie seine Kritiker gerne behaupten; denn er spricht, beinahe wie ein Ökologe, vom „Kolonialkrieg der Gesellschaft gegen die Natur, (der) auf den Aggressor zurückschlägt.“
Ohne die Ordnung der gegenständlichen Welt ist sprachliche Verständigung nicht möglich und ohne Metaphysik keine Theorie der Sprache. Da uns das Sprachvermögen gegeben ist, kann es rein Singuläres gar nicht geben. Wenn es nur Einzelnes gäbe, wäre ein Ähnliches mit einem identischen Wort bezeichnende Sprache unmöglich. Das Wort ist demnach mehr als ein konventionelles Zeichen. Es verweist auf das den zerstreuten Naturobjekten Identische. Das Identische ist für die naturwissenschaftliche Erkenntnis vorausgesetzt. Diese erschließt uns die Natur – jedoch als Phänomen; denn ihr Wesen bleibt unerkennbar.
Die Habermasche Sprachpragmatik blendet aus, was ihre Geltung voraussetzt: das Allgemeine hinter den sinnlich erfassbaren Phänomenen der ersten Natur. Auch die Individuen partizipieren an diesem Allgemeinen. Kant hat es das intelligible Substrat genannt. Habermas zeigt sich an der Reflexion über dieses Substrat nicht mehr interessiert. Er schreibt: „Indem sich Sprecher und Hörer frontal miteinander über etwas in der Welt verständigen, bewegen sie sich innerhalb des Horizonts ihrer gemeinsamen Lebenswelt; diese bleibt den Beteiligten als ein intuitiv gewußter, unproblematischer… Hintergrund im Rücken.“ Haag notiert am Rand: „Empirisches Apriori, dessen ontologische Basis zu explizieren ist.“
Bei Habermas haben sich die Begriffspaare längst geändert. Statt vom Allgemeinen, dem Besonderen, dem Einzelnen und ihrem Verhältnis zu reden, oder, wie in der auf den Universalienstreit folgenden Philosophien, von Subjekt und Objekt, ist sein Gegenstand nur noch das sich mit seinesgleichen verständigende Subjekt. Sein nachmetaphysisches Denken nähert sich dem Positivismus an, der nichts dem Bewusstsein Transzendentes mehr duldet (und zu dem sich der Nominalismus gewandelt hat). Beiden gelten die Natur und die Menschen als wesenlos. Richtiges Wissen schlage sich in logischen Aussagesätzen nieder. Ontologische Wahrheit gäbe es daher nicht; denn über sie lasse sich in solchen Sätzen nicht reden.
Was ist Wahrheit?
Wenn das von den Naturwissenschaften ausgemachte und in Gesetze sowie in logische Sätze gegossene Wissen alles Wissen ist und nicht nur ein Erfassen von Phänomenen, das auf ein Allgemeines hinter der Erscheinung verweist, dann ist eine Welt reiner Immanenz postuliert. Diese Welt ist die der nachmetaphysischen Philosophie, der sich Habermas mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns zugesellt.
Bei Habermas ist demnach eine Lücke auszumachen, könnte sich der Leser sagen. Aber so what? Kontroverse gibt es in jeder wissenschaftlichen Disziplin. Wo ist jetzt das den innerphilosophischen Streit übersteigende Problem, von Interesse für politische Leute, die mit Philosophie etwas mehr verbinden als den akademischen Zwist? Zur Erinnerung: Habermas nimmt für sich in Anspruch, eine Gesellschaftstheorie zu formulieren, die der alt und praxisabstinent gewordenen Kritischen Theorie einen Ausweg zum politischen Handeln hin öffnen soll. Als sein Hauptwerk erschien, war der Anwurf gleich zu hören: Da will einer dem Reformismus der Sozialdemokratie eine philosophische Begründung liefern. Im Nachhinein ist man sich nicht mehr sicher: Die diesen Vorwurf formulierten und sich als die wahren Erben der Frankfurter Schule ausgaben, wollten sie vielleicht beides: Sehr radikal erscheinen und zugleich eine Begründung bei der Hand haben, warum sie sich keine Gedanken mehr machen, wie emanzipatorische Politik zu organisieren sei?
Solche Politik muss, der Gedanke sei wiederholt, einer Theorie mächtig sein, und diese Theorie kann auf Wahrheit nicht verzichten. Die Selbstaufklärung der Individuen ist darauf verwiesen, während der auf die Individuen ausgeübte Zwang gut mit Unwahrheit fährt. Wenn aber die Behauptung im Raum steht, Wahrheit gäbe es gar nicht, das Reden davon sei metaphysisches Zeug, dann stärkt dies die mit den Verhältnissen einverstandenen Kräfte. Was aber soll uns eine Wahrheit, die wir nicht erkennen können? Denn Haag lässt ja keinen Zweifel an der dem menschlichen Wissen unzugänglichen Welt hinter der Erscheinung. In das Wesen der Natur einzudringen, ist unserer Vernunft nicht möglich, was den Wesensbegriff aber nicht bedeutungslos macht. Denn da das intelligible Ansichsein von Natur erweisbar ist, „steht die Ordnung der Dinge nicht im Belieben der Subjekte. Dann können rationale Argumente dagegen formuliert werden, dass Menschen in Viehwaggons transportiert, wie Tiere ausgenutzt und getötet werden.“ So Gerhard Schweppenhäuser (in dem Sammelband Zur Kritik der repressiven Vernunft) mit einer Drastik, die zeigt, dass mit dem Begriff der Wahrheit kein spieltheoretisches Späßchen und kein konstruktivistisches Anything goes verhandelt wird. Was das Wesen sei, bleibt uns unbekannt. Was das davon bestimmte Unwesen ist, bleibt uns keineswegs unbekannt.
Negative Metaphysik
Dem Nominalismus kommt der historische Effekt zu, schreibt Haag, das Denken dem Versuch zu entfremden, mit dem Begriff des Wesens noch etwas Sinnvolles zu verbinden. Stattdessen liefert er die philosophische Begründung für die dem Zangengriff der Subjekte unterworfene Natur. Nachdem der Nominalismus sich durchgesetzt und in der kapitalistischen Ökonomie seine ihm adäquate gesellschaftliche Organisationsform gefunden hatte, war der metaphysische Gedanke obsolet geworden, dem Naturding und dem Menschen eigne eine innere Form, in der ihre Identität gründe und die für Verletzung anfällig sei.
Haag hat keine Ontologie geschrieben, die mit positiven Prädikaten das Ding an sich ausleuchtet. Er nennt seine Philosophie eine negative Metaphysik und dafür steht das verwandte Adjektiv. Wofür steht aber das Substantiv? Für eine materialistische Substanz? Keineswegs. Der Materialismus verfällt ebenso der Kritik wie der Idealismus. Der Naturprozess müsste Übernatürliches können: Sich selbst als Mittel zum Zweck der Hervorbringung und Erhaltung stofflicher Entitäten koordinieren; neben den partikulären ein alle Naturgesetze koordinierendes Naturgesetz aufweisen; sich aus einfacher Materie bis zum denkenden Menschen entwickeln. Das ist eine zur schlechten Metaphysik aufgeblasene Naturwissenschaft. Die materialistische Theorie von der Selbstorganisation des Universums ist nicht haltbar, schreibt Haag.
Er lässt seine Leser nicht im Zweifel: Für ‚seine‘ Substanz ist die Theologie zuständig. Die nach Arten und Gattungen geordnete Natur, das Zusammenspiel der Naturgesetze und die Symmetrie der dafür notwendigen Naturstoffe verweisen auf ein den kosmischen Prozess ordnendes Absolutes, eine allmächtige Vernunft. Für das von Wissenschaft imprägnierte Denken ist diese Metaphysik natürlich eine wahre Zumutung.
Die Existenz des Absoluten
Haag ist ebenso für die Linke eine Zumutung. Materialismus und Atheismus gehören, um die unvermeidliche Phrase auch einmal zu benutzen, doch zu deren DNA. Was manchen Theoretiker der undogmatischen Linken angeht, keineswegs zu Recht. Man denke an Bloch, an Benjamin, an Adorno und Horkheimer, die sich von den Dogmen der kommunistischen Kirche fernzuhalten wussten. Wer, wie der alte Horkheimer, offen für die mit dem ganz Anderen anklingende religiöse Aura war, der galt den Akteuren der 68er-Revolte als nicht mehr ganz dicht. Horkheimer kannte Haags Konzeption einer negativen Metaphysik. In nächtlichen, stundenlangen Telefonaten hatte sie der ehemalige Schüler seinem Lehrer entfaltet, zu dessen großer Freude.
Warum sollte sich eine neue Generation kritischer Theoretiker und Praktiker gerade eine Theologie ans Bein binden; macht sie sich damit nicht völlig bewegungslos? Vielleicht ist das Gegenteil wahr. Den großen Kirchen laufen ihre Mitglieder scharenweise davon, auch auf der Suche nach einer das Opfer des Intellekts nicht einfordernden Religion. Was wäre, wenn sie auf eine Linke träfen, fähig, ihre Kritik so tief anzulegen, dass diese Kritik anschließen kann an die keineswegs verschwundenen religiösen Ressourcen dieser Gesellschaft? Es wäre eine Linke mit dem Vermögen, an die Erfahrung von Individuen anzudocken, die es leid sind, ihre Bestimmung darin zu sehen, den ökonomischen Apparat produzierend und konsumierend im Gang zu halten. Sie würde sich nicht scheuen, von der Schöpfung zu reden und sie wäre sich nicht zu fein dafür, das ökonomische Prinzip zu attackieren. Wie im Mythos von König Midas verwandelt das Kapital alles Berührte in Gold und hinterlässt eine ruinierte, dem menschlichen Bedürfnis sich entziehende Natur. Oskar Negt hat das zu Zeiten der entstehenden Ökologiebewegung einmal geschrieben, aber die zur Partei gewordene Bewegung hat sich solcher Wahrheit zunehmend verschlossen.
Haag könnte Pate für das kritisch-politische Geschäft einer erneuerten Linken stehen. In seinen im Archiv der Frankfurter Universitätsbibliothek nun zugänglichen Nachlass finden sich Passagen, die wie mit dem Senkblei die innere Leere der Gegenwartsgesellschaften ausloten. „Der Nominalismus hat mit allen mythologischen und religiösen Ideen, die er zerstört hat, auch den Begriff der Wahrheit selbst zerstört, der in der Idee des Logos begründet war… Die großen Allgemeinbegriffe gelten seither als leer, und das hat selbst die Gefühle ihres Inhalts beraubt: Freude war einmal Glauben an eine höchste Wahrheit und ein Leben in Seligkeit.“
Oder folgende Stelle: „Alle Entitäten verlieren die Aura des Ansich. Durch ihren Verlust wird das zerstört, was humanem Handeln der Menschen einen Sinn gibt: das Bewusstsein von der Existenz eines Absoluten.“ Und eine weitere Passage: „Wo die Individuen an sich ohne alle begriffliche Bestimmung vorgestellt werden, sind sie keine konkreten, sondern isolierte Subjekte: Monaden ohne innere Bestimmung. Als solche verbinden (? unleserlich) und in solchen Verbindungen werden stets die Menschen dominieren, die über größere Kapitalkraft (Macht) verfügen. Um leben zu können, müssen die wirtschaftlich Schwächeren, also zunächst einmal all diejenigen, die über ihre bloße Arbeitskraft verfügen, sich in Abhängigkeit begeben. Sie werden subsumiert unter die wirtschaftlich Stärkeren, die so zu ihrem Begriff werden. Das ist sehr wörtlich zu nehmen.“
Siehe auch:
Karl-Heinz Haag zum 10. Todestag
Letzte Änderung: 02.09.2022 | Erstellt am: 02.09.2022