Amaryllis
Manche Menschen tun sich schwer mit Metaphern; sie sind auch harthörig, wenn es um witzige Pointen geht. Aber das muten wir ihnen zu. Eldad Stobezki hat uns seine ersten Notate im Jahr 2024 geschickt, die er seinen neujährlichen Gedankengängen – von der Amaryllis bis zur Adventskerze – entnommen hat.
In der bauchigen grünen Vase mit dem schmalen Hals stand eine rote Amaryllis. Über Nacht war sie geknickt. Ich fotografierte die Amaryllis, postete sie als WhatsApp-Status und wünschte ihr, dass sie in Frieden ruhen möge. Der Mensch richtet sich auf, läuft einige Jahrzehnte auf zwei Beinen und wenn er Pech hat, stürzt er und bricht sich ein Bein. Fragt mich demnächst jemand, wie es mir geht, könnte ich doch spaßeshalber sagen: „Geknickt wie eine Amaryllis nach einer Woche in der Vase.“ Daraufhin rief mich meine Freundin D. aus Israel an und erzählte, dass ihre Eltern sie als Fünfjährige in den 1950er Jahren zur Internationalen Blumenschau in Haifa mitgenommen haben. Diese Blumenschau gab es von 1951 bis 1990. Seit 2012 wird sie wieder veranstaltet. Die Mutter von D., eine Holocaust-Überlebende, stand lange vor dem Amaryllenbeet und schwieg. Auch D. schwieg, denn sie spürte eine Traurigkeit, die sie nicht verstand und nicht in Worte fassen konnte. „Nun“, sagte sie, „Jetzt gibt es in Israel in jedem Blumengeschäft Amaryllis und ich habe auch welche in meinem Garten.“ Das hat ihre Mutter aber nicht mehr erlebt.
./.
Der Vater einer Freundin hatte im Zweiten Weltkrieg als Arzt gedient. Wo er eingesetzt war, habe ich nie von ihr erfahren, habe ihn auch nicht persönlich kennen gelernt. Doch nach dem, was zwischen den Zeilen zu hören war, ging ich davon aus, dass er ein devoter Nazi geblieben war. In der Familie wurde viel musiziert, es gab zwei Klaviere. Sie und ihre vier Geschwister spielten alle ein Musikinstrument, trotzdem behauptete sie immer, sie sei in ärmlichen Verhältnissen großgeworden. Nach Jahrzehnten hat sie sich jetzt verplappert: „Wir alle haben von unseren Eltern viel Gutes erfahren, aber auch viel Leid erlebt. In den Ferien fuhren wir im Wohnwagen jedes Jahr an den Gardasee. Auf der Fahrt sang mein Vater Volkslieder, zum Beispiel ‚Schwarzbraun ist die Haselnuss, schwarzbraun bin auch ich’.“ Das ist zwar noch kein Beweis für seine Gesinnung, denn das Lied gibt es schon seit dem 18. Jahrhundert, doch der blöde, chauvinistische Text ist nicht mehr zeitgemäß. Seine Frau war wohl auch ein schwarzbraunes Schatzerl. Obwohl das Lied nicht direkt ein Nazi-Lied ist, hat das Bundesministerium der Verteidigung das Bundeswehr-Liedbuch mit Stücken wie „Schwarzbraun ist die Haselnuss“ im Jahre 2017 gestoppt. Holdrio, duwiduwidi, holdria.
./.
Ein Paket mit Stollen und Weihnachtsgebäck, das ich Mitte September mit der Post an meinen Bruder in Israel schickte, traf am 2. Januar dort ein. Er freut sich jedes Jahr über den Stollen und ich freue mich, dass das Paket nicht den Kriegswirren zum Opfer gefallen ist.
Zur Meinungsbildung und Stimmung in Israel kann ich berichten, dass Steimatzky, die größte Buchladenkette Israels, jetzt in der Kinderabteilung Malbücher über den Krieg und die Armee und T-Shirts mit militaristischen Motiven verkauft. So werden Kleinkindern Hass und Rachegelüste eingetrichtert.
./.
Zwei junge Frauen, anscheinend Friseurinnen, unterhielten sich in der U-Bahn. Die eine sagte: „Offiziell habe ich nie schwarzgearbeitet.“ Einige Minuten später hörte ich zwei Männer im Gespräch. Der eine beklagte sich über seinen pubertierenden Sohn. Der andere sagte: „Ich kann da ich nicht mitreden. Ich war nie Eltern.“ Später hörte ich wie sich zwei ältere Damen unterhalten. Die eine sagte zu ihrer Freundin: „Hast du ihre Falten gesehen? Sie sah aus wie eine Adventskranzkerze am Heiligen Dreikönigstag.“
Letzte Änderung: 24.01.2024 | Erstellt am: 24.01.2024
Kommentare
Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.