COVID als Klangbeschleuniger

COVID als Klangbeschleuniger

Der Sänger Sandeep Narayan
Sandeep Narayan | © Sandeep Narayan

Die Umstände verlangen eine andere Form, der Form folgt der Inhalt. Nach einem Jahr Corona ohne ständige Konzertpräsenz lassen sich Auswirkungen auf die Aufführungspraxis in der indischen Klassik erkennen. Clair Lüdenbach hat dazu den südindischen Sänger Sandeep Narayan befragt.

Clair Lüdenbach: Als der erste Lockdown begann, welche Folgen hatte das für Dich?

Sandeep Narayan: Ich hatte zwei US-Tourneen, eine Australien-Tournee und eine nach Neuseeland, alles innerhalb der folgenden sechs Monate. Zuerst sollte ich Anfang April [2020] nach Amerika fliegen, aber im März sprach man dann in Indien vom Lockdown. Da habe ich mich gefragt, bedeutet das, dass meine Tourneen nach Amerika und all die Konzerte nicht stattfinden werden? Das Komische war, bevor die Organisatoren offiziell die Konzerte absagten, sagten die Airlines die Flüge ab. Zuerst dachten wir, das ist ein Lockdown für eine Woche, dann wurden es zwei Wochen, dann drei. Keiner dachte daran, es könnte ein Jahr werden. Erst jetzt versuchen wir langsam herauszukommen.

Was bedeutet, wir kommen jetzt langsam heraus? Bist Du schon geimpft?

Nein. Damit meine ich, obwohl der Coronavirus noch sehr präsent ist, wollen die Organisatoren langsam wieder Konzerte veranstalten. Sie öffnen mit einer limitierten Besucherzahl und Abstandsregeln, wie es die Regierung vorschreibt. Davon machen sie vollen Gebrauch und beginnen wieder mit Festivals. Auch wenn nur hundert oder zweihundert Zuhörer reingehen, so werden sie auch online zu hören sein und erreichen auf diese Weise Tausende Zuschauer. Im Moment gibt es diese Live-Veranstaltungen in Kombination mit der digitalen Möglichkeit.

Wie viel Prozent der Live-Konzerte finden wieder statt?

Ich würde sagen, ungefähr 25 bis 35 Prozent, etwa ein Drittel der früheren Veranstaltungen. Das Problem mit der digitalen Möglichkeit ist, dass viele sagen, auch wenn das Konzert gleich nebenan stattfindet, warum soll ich das riskieren, da gehe ich lieber online. Ungefähr ein Drittel der Zuhörer wollen das Konzert live hören.

Heißt das auch, dass die Online-Konzerte kostenlos sind, oder muss man bezahlen?

Viele waren kostenlos. Ich habe versucht, die zu vermeiden, denn die ganze Online-Welt wird geflutet von den jüngsten bis zu den ältesten Musikern, es ist zu viel Information. Während des großen Dezemberfestivals haben die Organisatoren, die normalerweise Bezahlkonzerte veranstalteten, dieses Mal Tickets als Online-Konzerte angeboten, für Mitglieder, als Festivalpässe oder Einzeltickets. Ich habe in dreien davon gesungen. Es wurde gut angenommen. Denn das war die Zeit, wo Besucher aus der ganzen Welt, aus Europa und Amerika und Australien nach Chennai kommen. Alle diese Leute konnten nicht kommen, und die kauften dann die Tickets und schauten aus ihren Heimatländern zu. So auch meine Eltern, die in Los Angeles leben. Zu Anfang gaben viele etablierte Künstler kostenlose Konzerte online, weil jeder dachte, das dauert nur ein paar Wochen. Aber jetzt macht das kaum noch jemand. Die meisten haben eine Art Mitgliedsmodell, und nur darüber kann man online schauen.

Konzert des Sängers Sandeep Narayan mit Musikern der indischen Klassik. | © Foto: Sandeep Narayan, http://sandeepnarayanmusic.com/
Was bedeutet das ökonomisch für die große Anzahl der Künstler? Ich nehme an, Du bist als etablierter Musiker nicht gefährdet. Aber was bedeutet das für die Nachwuchsmusiker und weniger bekannten Künstler? Werden die als Künstler verloren gehen?

Finanziell wird es für viele Leute sehr schwierig werden. Wie Du sagtest, einige von uns haben das Glück, zu Essen zu haben und ein Dach über dem Kopf. Für mich gingen drei, vier Tourneen verloren, das war ein großer Teil meines Einkommens. Aber auch ohne das können wir überleben. Viele Musiker sind in einer weniger glücklichen Lage, sie leben tatsächlich von Konzert zu Konzert. Sie müssen eine bestimmte Anzahl Konzerte spielen, um ihre Miete zahlen zu können und ihre Familie zu unterhalten. Als klar wurde, dass dies ein größeres Problem werden würde als anfangs gedacht, gab es eine Menge Organisationen, die Gelder sammelten für Musiker. Ich gehöre zu einer von diesen, sie nennt sich „Global Karnatic Musicians Assoziation“. Wir sind eine Art Musikerbruderschaft und sammelten ungefähr 50 Lakh Rupies (entspricht ca. 57.000 Euro). Das verteilten wir an Musiker vor allem in Tamil Nadu, aber auch in Andhra Pradesh, Karnataka, Kerala und anderen südindischen Staaten, wo bedürftige Musiker leben. Wir verteilten das Geld für etwa sechs Monate, damit sie Geld für Lebensmittel und Mieten hatten. Danach etablierten sich langsam eigene Einnahmequellen. Wenn sich Möglichkeiten gefunden hatten, strichen wir sie von der Liste und verteilten das Geld an andere Musiker. Es ist extrem schwierig für die Geigen-, die Mrdangam-, Kanchira- oder die Ghatamspieler. Denn die Geiger und Mrdangamspieler bekommen weniger für ein Konzert. Und die Kanchira- und Ghatamspieler bekommen noch weniger. Sie sind abhängig von vielen Konzerten, sie brauchen fünfzehn Konzerte im Monat, um ihre Ausgaben zu decken. Für sie ist es also katastrophal, wenn sie von fünfzehn Konzerten auf null gehen müssen. Die meisten Musiker gaben nach einer Weile mehr Unterricht. Wir haben alle Studenten in der ganzen Welt, und dank Zoom und Skype ist alles möglich. Für meine Studenten war das gut, denn ich hatte mehr Zeit für den Unterricht. Von der nicht-ökonomischen Seite, allein von der Karriere-Entwicklung her hat das alle ein volles Jahr zurückgeworfen. Jemand, der einen Namen hat, kann immer wieder online etwas veröffentlichen oder über Youtube, Facebook, Instagram und seinen Namen so präsent halten. Wenn man keine Follower hat online, dann ist es sehr schwierig, sich bekannt zu machen. Für die Musiker ist das vermutlich eher eine Zeit, um zu üben und sich zu verbessern, als seine Karriere voranzutreiben. Corona war eine Betonwand, die alles stoppte.

Mein Eindruck ist, dass, im Vergleich zu Nordindien, die südindische Musik eine viel stärkere Zuhörerschaft in Amerika, Kanada und Australien hat, weil dort sehr viele Menschen aus Südindien leben und die klassische Musik lieben. Und die südindische Klassik hat einen starken Rückhalt in der Religion.

Die Förderung der Kultur ist wichtig, auch durch Tempel-Events. Denn alle Leute kommen für religiöse Veranstaltungen zusammen. Aber die südindische Klassik ist nicht so eng an die religiösen Veranstaltungen gebunden, deshalb findet die Karnatische Klassik nicht die Unterstützung der Massen und aller Tempelbesucher. Manchmal müssen die Tempel Druck ausüben, indem sie sagen, das ist auch ein Teil der Kultur, egal ob Musik oder Tanz. Es kann sein, wie Du sagtest, dass es da mehr Unterstützung im Süden gibt als im Norden, da bin ich nicht so sicher.

Mir stellt sich in diesem Corona-Zusammenhang die Frage: Abgesehen davon, was es für die Karriere bedeutet, welche Auswirkungen hat das auf die Musik? Ich könnte mir vorstellen, dass diese verkürzten Online-Konzerte auch auf Dauer einen Einfluss auf die Aufführungspraxis ausüben.

Ganz sicher ist das so. Erst kürzlich telefonierte ich mit jemandem im Zusammenhang mit einem Online-Konzert. Es gibt eine allgemeine Diskussion über die Dauer solcher Konzerte. Früher dauerten die Konzerte 5-6 Stunden, dann dauerten sie 3 Stunden, heute haben Live-Konzerte eine Dauer von 2 bis 2 1/2 Stunden. Sogar in Chennai dauern die großen Konzerte nicht mehr als zweieinhalb Stunden. Nur sehr selten erlebt man ein Dreistundenkonzert. Jetzt, in der digitalen Online-Welt wollen die Leute nicht einmal für 2 Stunden vor dem Computer sitzen. Deshalb fragte mich die Person: „Kannst Du 90 Minuten singen?“ Ja, ich kann 90 Minuten singen, auch 100 oder 120 Minuten, aber das Problem ist doch, dass die Leute nicht so lange zuschauen wollen. Sie schauen 15 Minuten. Ich fragte ihn: „Worauf zielt ihr ab? Ist das Live-Konzert im Mittelpunkt oder das Online-Konzert? Er sagte, es ist ein Online-Festival. Deshalb sagte ich ihm: Bei einem Online-Festival sollten wir vor allem an die Tausenden Online-Zuschauer denken, weil Du es ihnen verkaufen willst. Also sollte ich nicht mehr als 55 Minuten, 60 Minuten oder höchstens 75 Minuten singen. Das veränderte total die Herangehensweise. Man kann nicht mehr viele Stücke ausführlich singen. Und dazu wollen die Leute nicht innerhalb einer Stunde für 35 oder 45 Minuten ein Stück hören. Hingegen in einem Dreistundenkonzert kann ein Stück alleine 60 Minuten dauern. Wenn ich also nur 60 Minuten habe, dann singe ich zur Eröffnung ein Stück über 7 Minuten, dann eins für 4 Minuten und dann eins für 8 Minuten, dann singe ich mein zentrales Stück über 20 Minuten und gehe dann zurück zu Stücken von 10 Minuten oder 5 Minuten, weil wir so vieles hineinpacken wollen. Was gebe ich auf? Sicherlich gebe ich etwas auf. Ich singe den Ragam nicht so lang, wie ich möchte. Und ich singe alle anderen Teile nicht so lange, wie ich es gerne möchte. Man muss heute in dieser Covid-Präsentation so viele Dinge beachten. Wir verlieren so vieles in den Kritis(*), es sei denn wir finden einen Weg der Balance, oder kehren bald zu den Live-Konzerten zurück.

Welche Konsequenzen hat es, wenn alles verkürzt wird? Wird dann eine größere Variation von Stücken aus Ragas präsentiert?

Der Trend geht dahin, dass wir, was früher in zweieinhalb Stunden ausgedehnt wurde jetzt auf 60 oder 90 Minuten verkürzt wird. Im Ragam, Tanam, Pallavi, wofür man früher jeweils15 Minuten hatte, wird nun jeder Teil auf 5 Minuten verkürzt. Alles erklingt in einer Mini-Version. Denn wenn ich ein Stück in seiner ganzen Tiefe auslote, verliere ich drei Viertel meiner Konzertzeit. Die Leute werden sagen, oh er sang nur ein Lied. Und in der Welt der karnatischen Musik wünscht sich das Publikum eine große Bandbreite, eine Variation der Sprachen, der Ragas, eine Variation von Talams, von Komponisten, eine Variation der Tempi, ein schnelles Lied, ein langsames, eins in mittlerem Tempo. Man wünscht verschiedene Genres, wie Bhajan, Tillana und all die verschiedenen Arten. Sie wünschen sich alles. Es ist sehr viel leichter, wenn man dafür 3 Stunden zur Verfügung hat. Hat man nur eine Stunde zur Verfügung, dann versucht man, so viel wie möglich abzudecken.

Heißt das auch, dass das Publikum weniger kenntnisreich ist und vor allem hören will, was gefällig ist?

Das ist relativ, wie weit die Leute das schätzen können und in ihrer ganzen Tiefe verstehen. Wenn meine Eltern erzählen, dann messen sie das Gehörte an dem, was sie vor 50 Jahren kennenlernten. Und die Maßstäbe meiner Großeltern orientierten sich an ihrer Zeit. Wie Konzerte vor 100 Jahren präsentiert wurden, war so anders als heute auch schon vor Covid. Wir müssen diese Anpassungen und Veränderung wegen Covid machen, ja, aber Veränderungen gäbe es auch ohne Covid. Vielleicht nicht so stark und nicht so schnell, denn das passierte ja über Nacht. Was nun geschieht, nennen manche Wachstum. Ob es nun Progression oder Regression ist, das ist eine Frage der Sichtweise. Das Wachstum geschieht, weil wir mehr Menschen in der ganzen Welt erreichen. Es ist nicht realistisch zu erwarten, dass die Menschen in der ganzen Welt, die karnatische Musik hören, ein großes Wissen haben. Wenn sie nur ein wenig, vielleicht zehn Prozent verstehen, dann ist das zehn Prozent mehr als vorher, weil es anders verpackt ist. Im Paket ist mehr oder weniger das Gleiche, wir verpacken es nur anders und binden eine andere Schleife darum. Ich glaube, das ist einfach die Richtung, in die sich die Welt bewegt, und unsere Musik muss in die gleiche Richtung gehen. Wenn wir darauf bestehen, dass die Konzerte zwei oder drei Stunden dauern müssen, dann haben wir vielleicht in einigen Jahren überhaupt keine Zuhörer mehr. Wie lange werden die Leute mit dem Wissen noch hier sein? Werden die noch in fünfzig Jahren da sein? Vielleicht noch ein ganz kleiner Prozentsatz. Bei den meisten Zuhörern heute geht es nicht nur um das Wissen, sondern auch um die Geduld, um das Medium, mit dem sie die meisten Inhalte wahrnehmen. Auch vor Corona erreichten die Youtube-Inhalte viel, viel mehr Zuschauer, als die live Konzerte. Sogar in der Welt der karnatischen Musik gibt es Youtube-Stars. Sie bekommen Welttourneen, weil sie auf Youtube Millionen Klicks bekommen, und nicht, weil sie in Indien Konzerte haben mit einem Millionenpublikum. Alles entwickelte sich sowieso in diese Richtung. Aber Covid hat es beschleunigt.

(*) Kritis: Kompositionsform der südindischen Klassik; religiöse Lieder

Letzte Änderung: 19.07.2021

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