Wie jüdische Stimmen gegeneinander in Stellung gebracht werden

Wie jüdische Stimmen gegeneinander in Stellung gebracht werden

Antisemitismus

In Debatten über israelbezogenen Antisemitismus werden Jüdinnen und Juden instrumentalisiert. Die Autoren Monty Ott und Ruben Gerczikow (Berliner Zeitung) erheben dagegen Einspruch.

Es ist ermüdend, weil das unwürdige Schauspiel immer wieder auf die gleiche Weise aufgeführt wird: Vorhang auf im Gedächtnistheater. Der erste Akt: Eine Gruppe tritt auf, die sich klar gegen jeden Antisemitismus positionieren will. Sie beschließt, jeglichen Antisemitismus, auch den israelbezogenen, zu verurteilen.

Im zweiten Akt betritt nun Person X die Bühne. Person X greift die Gruppe dafür an, dass sie vermeintlich jüdische Pluralität zum Schweigen bringe wolle, weil progressive jüdische Stimmen mit diesem Bekenntnis gegen Antisemitismus pauschal mundtot gemacht würden. Vielleicht beruft sich Person X dabei noch auf einen jüdischen Freund oder eine bekannte jüdische politische Akteurin. Der Freund, die Akteurin sehe das ganz genauso, heißt es schnell. Progressiv und jüdisch zu sein, das steckt in der Behauptung des X, bedeutet, explizit antizionistisch zu sein.

Ein bekannter Witz sagt: Zwei Juden, drei Meinungen

Im dritten Akt entfernt sich das Gespräch immer weiter von der ursprünglichen Kritik am Antisemitismus. Am Ende schreit eine Gruppe von Menschen einen Spiegel an. Der Vorhang fällt.

Jüdinnen und Juden haben bei diesem politischen Stück die passive Rolle von Zuschauer:innen. Teilnehmen dürfen sie nicht – es sei denn, sie bestätigen die Positionen von anderen. Hinter allem verbirgt sich die anmaßende Behauptung, es gebe nur eine legitime jüdische Identität.

Jede Jüdin, jeder Jude weiß um die Vielfältigkeit jüdischer Identitätsentwürfe. Da gibt es das bekannte jüdische Wortwitz: Zwei Juden, drei Meinungen. Es gibt auch die Worte des bekannten Judaisten Ernst Ludwig Ehrlich: „Der jüdische Chor hat viele Stimmen. Einen Juden stört diese scheinbare Disharmonie wenig.“ Und dennoch wird immer wieder im Brustton der Überzeugung behauptet, dass die Verurteilung von antizionistischem Antisemitismus lediglich progressive Jüdinnen und Juden treffen würde.

Wenn in Deutschland oder Österreich jemand eine solche Aussage über Jüdinnen und Juden trifft, dann hat das meist viel mehr mit dem eigenen Selbstbild zu tun, als mit realen jüdischen Menschen in dieser Gesellschaft. Deshalb geraten Antisemitismus-Debatten schnell zur oben beschriebenen Aufführung. Die Teilnehmer:innen kreisen um sich selbst, während Jüdinnen und Juden ziemlich isoliert bleiben. Sollten sie doch eine Rolle einnehmen dürfen, dann die des jüdischen Kronzeugen.

Eine undankbare Rolle, denn Jüdinnen und Juden treten nicht als Menschen mit Handlungsmacht auf, sondern werden instrumentalisiert. Ihnen wird Anerkennung zuteil, wenn sie Person X oder die Gruppe in ihren Vorstellungen bestätigen. Nur mit jüdischem Leben und jüdischer Pluralität hat das alles nichts zu tun.

Jüdinnen und Juden sind geradezu Vorbilder linker Bewegungen

Die Historikerin Shulamit Volkov schrieb, dass der Antizionismus zum „Loyalitätstest“ für linke Jüdinnen und Juden geworden ist. Er habe Symbolcharakter, denn mit ihm könnten diese ihre „Hingabe an die Sache“ beweisen. Das schrieb Volkov vor 30 Jahren. Geändert hat sich daran wenig. Nur das es eben heute nicht nur für die politische Linke, sondern für nahezu alle sich selbst als progressiv verstehenden Bewegungen gilt, die den Antizionismus zum Baustein ihres Weltbildes gemacht haben.

Doch es muss noch einmal betont werden: Das hat weder etwas mit der politischen Pluralität von Jüdinnen und Juden, noch mit der Vielfältigkeit jüdischer Identitäten innerhalb der politischen Linken zu tun. Diese waren schon immer genauso divers, wie die politische Linke selbst. Es gab in der Linken Jüdinnen und Juden, die leidenschaftliche Zionist:innen waren und linke Jüdinnen und Juden, die den Zionismus genauso leidenschaftlich bekämpften. Insofern waren Jüdinnen und Juden geradezu Vorbilder linker Bewegungen.

Was hat das also zu bedeuten, wenn heute jemand behauptet, dass es nicht links oder progressiv sein könne, wenn jemand zionistisch ist? Erst einmal zeigt sich, dass diese Person keinerlei politischen und historischen Kenntnisse darüber besitzt, wie unterschiedlich zionistische Vorstellungen sein können. Diese können zum Beispiel religiös oder sozialistisch sein. Manchmal sogar beides gleichzeitig.

Eines waren weder Zionist:innen noch linke oder progressive Jüdinnen und Juden: in allem einig. Wenn eine Person aber nun zumindest implizit die Behauptung aufstellt, dass es sich ausschließen würde, zionistisch und progressiv zu sein, dann sagt das mehr über die Person selbst aus. Es geht um die Definitionsmacht darüber, was „links“ ist. Um mehr nicht. Die Person beginnt in den Spiegel zu schreien. Jüdinnen und Juden werden für sie zur Folie.

Die Show „Gute Juden, schlechte Juden“ hat hier ihren Ursprung. Die vermeintlich Guten unterstützen das eigene Weltbild, die vermeintlich Schlechten weichen davon ab. Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie nannte das in einem Ted-Talk einmal die Gefahr einer „single story“. Adichie sagte, dass Macht „die Fähigkeit ist, die Geschichte einer anderen Person nicht nur zu erzählen, sondern sie zur maßgeblichen Geschichte dieser Person zu machen.“

Identifikation mit Israel sagt noch nichts über das politische Weltbild

Auf die jüdischen Communities wird die Erzählung von David und Goliath angewandt. Die progressiven und damit auch antizionistischen Jüdinnen und Juden seien in der Minderheit gegen eine vermeintlich konservative und rechte Übermacht, heißt es.

Wer so denkt, hat ein Herz für vermeintliche Underdogs – freilich ohne die Komplexität dieser Gesellschaft wirklich zu durchdringen. Eigentlich tritt man weiter nach unten auf Jüdinnen und Juden, die schon immer der Prügelknabe nichtjüdischer Gesellschaften waren. Doch man merkt es nicht.

Denn diejenigen, die den „Loyalitätstest“ bestehen, dürfen Teil der progressiven Bewegung sein. Das sind allerdings nur die Allerwenigsten. Denn die überwiegende Mehrheit hält laut unterschiedlicher Studien aus den vergangenen Jahren Israel für einen wichtigen Baustein der eigenen Identität. Diese Identifikation sagt allerdings wenig darüber aus, wie sie politische Entwicklungen in Israel einordnen und wie sich ihr politisches Weltbild zusammensetzt.

Es wird die Behauptung aufgestellt, dass es eine Bewegung progressiver und damit antizionistischer Jüdinnen und Juden gebe, für die Platz in der eigens definierten progressiven Bewegung sei. Nur den Rest, die konservativen Jüdinnen und Juden schließe man aus. Doch die Realität ist komplizierter. Nicht nur, dass Jüdinnen und Juden in der so definierten progressiven Bewegung keinen Platz finden, die Israel als wichtigen Baustein ihrer jüdischen Identität beschreiben. Sondern auch diejenigen, für die das nicht zutrifft, die aber israelbezogenen Antisemitismus nicht akzeptieren wollen, finden keinen Platz.

Es werden also nahezu alle Jüdinnen und Juden ausgegrenzt und gleichermaßen ein Pappkamerad geschaffen, für den dann doch Platz ist. Es ist eine Entlastungsstrategie. Die Jüdinnen und Juden, die sich antizionistisch positionieren, haben eine streng begrenzte Rolle. Sie dürfen hör- und sichtbar werden und prominente Plätze einnehmen, wenn es darum geht, andere von der Kritik des Antisemitismus freizusprechen. Aber sie dürfen nicht davon abweichen. Denn das skeptische Auge ruht wachsam auf ihnen.

Viele linke Jüdinnen und Juden haben das in der britischen Labour-Partei unter Jeremy Corbyn zu spüren bekommen. Die damalige Präsidentin der Union of Jewish Students in Großbritannien, Hannah Rose, ist 2018 wegen des virulenten Antisemitismus aus der britischen Arbeiterpartei ausgetreten. Die Strategie, die mit einer Aufteilung in „gute“ und „schlechte “ Jüdinnen und Juden verfolgt wird, ist altbekannt: teile und herrsche.

Bekämpfung von Antisemitismus sollte Aufgabe der nichtjüdischen Gesellschaft sein

Antisemitismus wird so weder verstanden, noch werden seine realen und zumeist tödlichen Folgen richtig eingeordnet. Antisemitismus ist dann etwas aus der deutschen Vergangenheit und zugleich vermeintlich gut bewältigtes, oder nur ein Nebenschauplatz, der von den wichtigen Kämpfen ablenken würde und angeblich die Schlagkraft progressiver Bewegungen untergrabe. Jüdische Stimmen werden gegeneinander in Stellung gebracht, damit das eigene Weltbild nicht in Frage gestellt, die eigene Verantwortung für den fortbestehenden Antisemitismus nicht verstanden werden muss.

Wer darunter leidet? Vor allem linke Jüdinnen und Juden. Denn der Antisemitismus wird in diesem unwürdigen Schauspiel nicht bekämpft.

Er wird zur Kulisse, vor der nichtjüdische deutsche Identitäten verhandelt werden. Ziemlich gut erklären das übrigens die Autorinnen Judith Coffey und Vivien Laumann in „Gojnormativität“ und der Autor und Comedian David Baddiel in „Und die Juden?“. Sie alle stellen fest, dass wir anders über Antisemitismus sprechen müssen. Denn die Bekämpfung von Antisemitismus sollte nicht primär die Aufgabe von Jüdinnen und Juden sein, sondern des nichtjüdischen Teils dieser Gesellschaft.
 
 

Die Autoren, Monty Ott und Ruben Gerczikow, sind junge jüdische Publizisten und Aktivisten.

 
 
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Letzte Änderung: 27.04.2022  |  Erstellt am: 27.04.2022

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