Wenn das Militär die Regierung, der es unterstellt ist, stürzt, spricht man von Putsch. Der 11. September vor 50 Jahren war ein Tag, an dem mit der Beseitigung einer gewählten Regierung eine 15 Jahre dauernde Gewaltherrschaft unter General Pinochet begann, in der Repression, Folter, Morde und Menschenrechtsverletzungen zum Alltag gehörten. Dieter Maier erinnert an den Militärputsch 1973 in Chile.
Ein Putschjubiläum? In Lateinamerika gab es Dutzende von Staatsstreichen, und niemand hat gemerkt, dass es einen Jahrestag dazu gab. Aber der Putsch des chilenischen Militärs am 11. September 1973 war ein besonderer Putsch. Er zerschlug die Vision von Sozialismus in Freiheit, die dem Sozialist Salvador Allende 1970 zum Wahlsieg verhalf. Die chilenische Rechte wird am 11.09.2023 zum 50. Jahrestag den Sieg der Gewalt über diese Vision feiern, und die vielen Tausend Opfer von Haft, Folter und Exil werden „Nie wieder – nunca más“ skandieren. Die Angehörigen der über 1000 „verschwundenen“ politischen Gefangenen werden „Wo sind sie – donde están“ fragen.
Das Signal zum Putsch gab die Marine. Dann griff die Luftwaffe den Präsidentenpalast Moneda in Santiago an, und nachdem Allende ein Ultimatum verstreichen ließ, stürmte das Heer das Gebäude. Gleichzeitig durchkämmten Soldaten die Armenviertel, Fabriken und Dörfer Chiles und verhafteten Tausende. Die Gefangenen wurden in improvisierte Gefängnisse wie das Nationalstadion von Santiago oder in Kasernen gebracht. Mit dem Putschtag begann die massenweise Folter in ganz Chile.
Nach gängiger Lesart war es ein CIA-Putsch. Am 10.9. informierten der CIA und die DIA (Defence Intelligence Agency) die US-Regierung unter Nixon, dass ein von der Marine ausgehender Staatsstreich für den 10.9. geplant sei und Pinochet gesagt habe, „das Heer werde sich der Aktion der Marine nicht entgegenstellen“. Am 9.9. erhielt ein CIA-Agent in Santiago einen Anruf, der Putsch werde am 11.9. stattfinden. Der CIA war an den Putschvorbereitungen nicht aktiv beteiligt, das war weder politisch opportun noch organisatorisch notwendig.
Schon am Putschtag setzte das Militär Rundfunk und Fernsehen für seine Zwecke ein. Alle Sender mussten ein einziges, vom Militär vorgegebenes Programm ausstrahlen. Da Ausgangssperre herrschte und die Zeitungen nicht erschienen, hatte die Junta ein Nachrichtenmonopol.
Das Heer war die Waffengattung mit dem größten Gewicht. Pinochet als sein Oberkommandierender wurde deshalb der erste Junta-Chef. Dann sollten, so die Verabredung „unter Ehrenmännern“, nach jeweils einigen Jahren in einem Rotationssystem die andern drei Junta-Generäle drankommen. Pinochet brachte es auf 17 Jahre Alleinherrschaft. Dazu verhalf ihm sein 1974 gegründeter Geheimdienst DINA. Pinochet und seine Vertrauten drängten Konkurrenten aus der Junta (Gustavo Leigh), ließ zivile (Orlando Letelier) und militärische (Carlos Prats) Gegner im Ausland ermorden, versetzten Offiziere, die nicht loyal zu ihm waren.
Die Bilanz der Diktatur: 2.279 Todesopfer, davon 2.115 Opfer von Menschenrechtsverletzungen und 164 von politischer Gewalt. Hinzu kommen 957 anerkannte „Verschwundene“ und 641 ungeklärte Fälle, darunter sicher viele „Verschwundene“. Die Opfer waren in der Mehrzahl junge männliche Arbeiter. (Informe de la Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación, Bd. 2, S. 883). Die tatsächlichen Opferzahlen dürften höher liegen.
Der Putsch war in mehrfacher Hinsicht besonders: Die Menschenrechte wurden im Kalten Krieg als Repression hinter dem Eisernen Vorhang wahrgenommen, nun wurden sie zu einem Problem innerhalb des Westens. Die chilenische Diktatur perfektionierte ein arbeitsteiliges, bis heute kaum rekonstruierbares System, politische Gefangene nach der Folter spurlos verschwinden zu lassen. Die Bilder der brennenden Moneda, die Fotos Allendes mit einer Maschinenpistole, die der Junta (alle Generäle stehend außer dem finster blickenden Pinochet), die der Gefangenen im Nationalstadions, die Berichte über Mord und Folter lösten eine weltweite Solidaritätsbewegung aus.
Der Putsch unterschied sich signifikant von der lateinamerikanischen Putschserie der sechziger und siebziger Jahre. In Ländern wie Bolivien löste eine militärische Fraktion eine andere ab. Es war ein Machtwechsel ohne Systemwechsel. Der chilenische Putsch veränderte die Gesellschaft von Grund auf. Das machte ihn zum besonderen und im parteipolitischen Sinn zu einem „unpolitischen“ Putsch. Der einzige Konsens der Putschisten war, die Unidad Popular (Volkseinheit, Allendes Parteienbündnis) zu stürzen und den „Marxismus“ ein für alle Mal zu beseitigen. Die Diktatur veränderte das Verhältnis zwischen Macht, Staat und Gesellschaft. An die Stelle des demokratischen Interessenausgleichs traten Befehlsketten, die Gesellschaft wurde fragmentiert und Solidaritätsstrukturen wurden zerschlagen.
Der Sturz Allendes wurde von der großen Mehrheit der westdeutschen Öffentlichkeit verurteilt. Rechte Politiker und Publizisten im Umkreis der CSU stellten ihn als „Rettungsputsch“ dar, der ein Abgleiten Chiles in ein marxistisches Chaos verhindert habe. Der damalige bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß besuchte 1977 als erster namhafter ausländischer Politiker Chile und durchbrach damit die internationale Isolation der Diktatur.
Das Putschdatum, der 11.09, wurde zum Symbol. El once (der 11.) ist bis heute in Chile ein gängiger Begriff. Nach ihm sind Straßen und Plätze benannt. Pinochet machte „den 11.“ zum Beginn einer neuen Zeitrechnung. In seiner Autobiografie Camino Recorrido schreibt er, wie die römischen Kaiser, vom 1., 2., 3. usw. Jahr seiner Regierung. Damit offenbart er ungewollt ein Zeitverständnis, in dem sich die Geschichte Chiles zu einem einzigartigen historischen Ereignis, dem Beginn seiner Diktatur, verdichtet. Er, Pinochet, hielt sich für den Motor der Geschichte. Tatsächlich hat er das Land bis heute geprägt. Der 1975 eingeführte Neoliberalismus wurde von Chile aus in fast allen Nationalökonomien eingeführt. Chiles 1980 durch ein fragwürdiges Plebiszit eingeführte Verfassung gilt bis heute.
Der Putsch bleibt weiter eine Herausforderung. Die Verfassung muss ersetzt werden. Der Bruch mit der 1975 unter Pinochet eingeführten neoliberalen Wirtschaftsordnung muss endlich angegangen werden. Das Schicksal der „Verschwundenen“ ist ungeklärt. Die Verbrechen der deutschen Foltersiedlung Colonia Dignidad, in der mehr als 100 politische Gefangene „verschwanden“, sind bis heute nicht vollständig aufgearbeitet, ein Gedenkort auf dem Gelände ist noch nicht eingerichtet.
Literatur:
Heller, Friedrich Paul: Pinochet : eine Täterbiografie in Chile. 2. Auflage Stuttgart: Schmetterlingverlag, 2012.
Dieter Maier: Colonia Dignidad : Auf den Spuren eines deutschen Verbrechens in Chile. Stuttgart, Schmetterlingverlag. 2., aktualisierte Aufl. 2017.
Letzte Änderung: 03.09.2023 | Erstellt am: 03.09.2023