Vorwärts zurück
Wer viel fragt, erfährt nicht nur viel, sondern jedesmal etwas anderes. Putins Krieg hat die Kandidaten der französischen Wähler in ein anderes Licht gestellt. In dieser neuen Beleuchtung wurden wohl politische Überzeugungen revidiert. Jutta Roitsch hat den Stimmungswechsel, der sich in den Umfragen zeigt, im kleinen und größeren Zusammenhang beschrieben.
Putins Krieg in der Ukraine löst in Frankreich Unruhe, Entsetzen, Ängste und Katerstimmung aus: Vier Wochen vor der ersten Runde um die Präsidentschaft scharen sich Bürgerinnen und Bürger, die auf jeden Fall wählen wollen, um Emmanuel Macron, den „président sortant“, den scheidenden Präsidenten. Die konservative Kandidatin Valérie Pécresse und der rechtsradikale Eric Zemmour rutschen in der Wählergunst spürbar bis dramatisch ab. Und erstmals überspringt der alternde Volkstribun der Linken, der zum dritten Mal kandidierende Jean-Luc Mélenchon der Partei die „Unbeugsamen“, die zehn Prozent Hürde.
Was ist seit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine zwischen Paris und Marseille geschehen? Was spiegeln die monatlichen Umfragen? Wie reagieren die bisherigen Putinbewunderer von der Rechtsaußen Marine le Pen bis zum Republikaner Francois Fillon auf die Bomben und Raketen, auf die vielen Toten und Verletzten, auf die Millionen flüchtender Frauen und Kinder?
Innerhalb einer Woche ist in Frankreich die Stimmung gekippt. Noch Ende Februar, kurz nach dem russischen Einmarsch, lag Macron für die erste „tour“ am 10. April mit 26.5 Prozent unverändert vorn, obwohl er bis dahin seine Bewerbung um eine Wiederwahl immer noch nicht abgegeben hatte (entscheiden musste er sich bis zum 4. März, ein Datum, das er ausgereizt hat). Hinter ihm mit weitem Abstand, aber dicht an dicht, le Pen (15,5), Zemmour (15), Pécresse (12,5) und erstmals Mélenchon (11,5). Nur eine Woche später schoben die Wahlforscher (Ipsos-Sopra Steria) eilig eine Befragung zum Krieg und seinen Auswirkungen in Frankreich nach (le monde vom 6./7. März). Nur zehn Prozent der Befragten zeigten sich nicht beunruhigt durch den russischen Einmarsch, 43 Prozent dagegen „sehr beunruhigt“. Die Zustimmung für den amtierenden Präsidenten schnellte auf über 30 Prozent hoch, die Konservativen und die Rechtsextremen verloren, der linke Volkstribun legte um ein weiteres halbes Prozent zu: Alle vier könnten es nach dem gegenwärtigen Stand in die zweite Runde am 24. April schaffen, le Pen unterläge Macron dann mit 41, Pécresse mit 36, Mélenchon mit 33 Prozent.
Krisen, die Macron überstand
Welch eine Kehrtwendung der Französinnen und Franzosen nach den letzten drei Jahren, in denen Emmanuel Macron von den gelben „Warnwesten“ wegen einer Spriterhöhung zugunsten der Umwelt mit einer selbst für das Hexagone ungewöhnlich heftigen und langen Demonstrations- und Gewaltwelle herausgefordert wurde. Den Aufstand aus der Provinz, in der die Menschen auf Autos angewiesen sind, stoppte letztlich ein Virus: Unvorbereitet überrollte die Covid-Pandemie die Regierung und erzwang einen der härtesten Lockdowns in Europa. Erschüttert wurden Regierung und Gesellschaft durch islamistische Terroranschläge, die grausame Ermordung des Geschichtslehrers Samuel Paty und eine hitzige, teilweise giftige Diskussion über radikalmuslimischen Separatismus und die Werte der laizistischen Republik.
Doch erstaunlicher Weise überstand Macron diese Krisen trotz der teilweise hasserfüllten Reaktionen und katastrophalen Umfragen: 2019 zeigten sich nur noch 15 Prozent der Befragten mit ihrem Präsidenten zufrieden. Und jetzt, am Ende der fünfjährigen Amtszeit des 44jährigen sind 28 Prozent mit ihm zufrieden, 33 Prozent weder zufrieden noch unzufrieden.
Mit dieser relativen Rückenstärkung zieht Macron nun in den Wahlkampf, der für ihn ein weitgehend lautloser sein soll. Er erfüllt die Rolle des europäischen Staatsmanns, der sich an der Spitze der einzigen westeuropäischen Atommacht um Krieg und Frieden kümmert, und des Beschützers seiner verunsicherten Französinnen und Franzosen, für die persönliche ökonomische und gesellschaftliche Sicherheit oberste Priorität hat. Seine Wiederbewerbung verkündete er kurz vor Ablauf der Frist in einem dreiseitigen Brief, den er in allen Regionalzeitungen des Landes veröffentlichen ließ. Ein Schachzug, um die von ihm wenig geschätzten Pariser Journalistinnen und Journalisten weiter auf Distanz zu halten. Er brachte ihm allerdings einen deutlichen Rüffel der Nationalen Kommission zur Kontrolle der Präsidentschaftswahlen ein: Macron hatte diesen Schritt über seinen präsidialen Twitteraccount angekündigt und damit das Amt für das Mandat missbraucht. Eine Gratwanderung, die der Präsident immer wieder testet: Mit einem eigengebastelten wöchentlichen Video, mit der Webseite avecvous.fr, dem Verzicht auf Fernsehduelle und mit seltenen Auftritten im Land bei befreundeten Bürgermeistern: Drei öffentliche Bürgerbefragungen stehen bis Ende März im Terminkalender des Wahlkämpfers. Putins Krieg bietet Macron andere Plattformen, wichtigere, jedenfalls in diesen Tagen noch.
Ein schräger Wahlkampf
Die Mitbewerberinnen und Mitbewerber, es sind seit dem 4. März insgesamt elf, darunter vier Frauen und sieben Männer, entrüsten sich pflichtgemäß lautstark über diesen „président sortant“, der sich ihnen entzieht, schon seit Monaten. Es bleibt ein schräger Wahlkampf, in dem sich die Linken wie die Rechten vor allem untereinander und gegeneinander abarbeiten. Marine le Pens streitbare Nichte Marion hat sich wie andere Prominente auf die Seite des Rechtsradikalen Zemmour geschlagen, der just in diesen Tagen erneut wegen Volksverhetzung verurteilt worden ist und sich immer wortmächtig einen „französischen Putin“ gewünscht hat, der Muslime aus dem Land schmeißt und für ethnische Ordnung sorgt. Ukrainische Flüchtlinge mag er auch nicht. Das verkündet er landauf, landab in Massenversammlungen und Fernsehauftritten. In den letzten Wochen verlor dieser rechtsradikale Hetzer ein Drittel seiner bisherigen Fangemeinde an Macron, stellten die Ipsos-Wahlforscher Anfang März fest.
Die Linke gebärdet sich fast selbstzerstörerisch. Sozialistische Bürgermeister lehnen eine Unterstützung ihrer Pariser Bürgermeisterin Anne Hildago ab und wechseln zu Macron. Die linken Initiatoren der selbst organisierten „Volksvorwahlen“, die die ehemalige Finanzministerin Christiane Taubira für nicht einmal drei Wochen zur Kandidatin ausriefen, bis sie selbst mangels Unterstützung verzichtete, zerreiben sich untereinander: Gestritten wird, ob ihre Stimmen an Mélenchon oder Yannick Jadot, den Kandidaten der ökologischen Linken, gehen sollen. Beide (wie auch Hidalgo) hatten sich dieser Art Vorwahlen im Internet und außerhalb ihrer eigenen Parteien strikt verweigert. Jadot kommt über die magere Zustimmung von sieben Prozent nicht hinaus und liefert sich intern eine heftige Fehde mit einer Ökofeministin. So profitiert in diesen Tagen Mélenchon vom Verzicht Taubiras und ruft seinerseits weitere Linke, vor allem aber die Kommunistische Partei, zum Verzicht zu seinen Gunsten auf. Es ginge jetzt um eine „vote utile“, eine nützliche Stimme für ihn. Käme schließlich er in den entscheidenden zweiten Wahlgang am 24. April, dann ginge es um die Systemfrage: Sozialismus oder Neoliberalismus.
Diese Vorstellung mag linke Franzosen in der Theorie begeistern, vor allem die jüngeren Mélenchisten in akademischen oder höheren Verwaltungsberufen. In der Praxis trauen sie dem Volkstribun, der im August 71 Jahre alt wird, aber kaum: Nur 16 Prozent der Franzosen meinen, dass er im Ausland ein gutes Bild von Frankreich abgibt und die Statur für einen Präsidenten hat (20 Prozent). Hinzu kommt nun noch seine Putinfreundlichkeit, mit der er Sanktionen ablehnt und Waffenlieferungen an die Ukrainer widerspricht. Für einen Austritt aus der Nato war er immer. Das eint ihn im übrigen mit den Rechtsextremen, die zu den Putinverstehern, sogar Putinbewunderern gehören: Für ihren Wahlkampf vor fünf Jahren nahm Marine le Pen einen Millionenkredit einer tschechisch-russischen Bank auf, in diesem Jahr zog sie eine ungarische Bank vor. Ihre stramme Wählerschaft stört all dies bisher wenig.
Revolutionsträume, Katerstimmung und große Politik
Unruhe löste Putins Krieg dagegen bei den konservativen Les Republicains aus. Ihre Kandidatin, Valérie Pécresse, hatte sich zwar in den Parteivorwahlen gegen vier einflussreiche wie seilschaftenstarke Männer durchgesetzt und in den Umfragen die Rechtsextremen schnell überholt, fiel dann aber in der Gunst der eigenen Mitgliedschaft dramatisch ab. Ihren ersten Auftritt Mitte Februar vor zehntausenden von Anhängerinnen und Anhängern empfand der eigene Kampagnenstab als Katastrophe: Dieser Frau der Pariser Politelite sei keine Mobilisierung und keine Begeisterung gelungen. Auf die Enttäuschung folgten mehr oder weniger offene Absatzbewegungen in den eigenen Reihen und im konservativen Umfeld. Und nun der Absturz vom zweiten auf den vierten Platz hinter Macron.
Den Konservativen fällt der jahrelange nachsichtige Umgang mit dem Regime in Moskau und besonders mit Putin auf die Füße. Nikolas Sarkozy beschwor nach der russischen Einverleibung der Krim auf einem Parteitreffen am 7. Februar 2015 den Zusammenhalt von Russland und Europa, fand viel Verständnis für Putins Politik, alle seine Russen zu beschützen, wo auch immer sie lebten. Und sprach der Ukraine jede Berechtigung auf eine Mitgliedschaft in der EU wie in der Nato ab (le monde vom 3. März 2022). Der ehemalige Premierminister Francois Fillon rühmte seinen Freund „Wladimir“, mit dem er in Sotschi Billard spielte, und lobte Russland als Demokratie. Wie ein gewisser ehemaliger deutscher Bundeskanzler ließ sich Fillon mit üppigen Vergütungen in die Verwaltungsräte russischer Energiegiganten berufen, darunter Rosneft. Fillon allerdings trat nach massivem öffentlichen Druck vor wenigen Tagen von diesen Ämtern zurück. Von Sarkozy ist nichts zu hören, auch die Kandidatin bemühte sich bisher vergebens um eine direkte Unterstützung durch den ehemaligen Präsidenten.
So dümpelt diese „présidentielle“ im Schatten des russischen Angriffskrieges vor sich hin. Einige träumen von der sozialistischen Revolution, andere versinken in Katerstimmung, ein Dritter macht „große Politik“ in den goldglänzenden Sälen von Versailles. Mit 28 bis 30 Prozent ist die Zahl der Französinnen und Franzosen, die überhaupt nicht wählen wollen, immer noch hoch. Trotzalledem.
Der Beitrag erschien zuerst am 18. März 2022 im blog bruchstücke
Letzte Änderung: 21.03.2022 | Erstellt am: 21.03.2022
Kommentare
Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.