Von Krakau nach Kapstadt

Von Krakau nach Kapstadt

Peggy Berolskys lange Reise
Familienfoto | © Privatarchiv Shirley Taeter

Der Bitte, das eigene schreckliche Erleben aufzuschreiben, können nur noch wenige Holocaust-Überlebende nachkommen. Gine Elsner, Medizinerin, Soziologin und bis 2009 Direktorin des Instituts für Arbeitsmedizin an der Frankfurter Goethe-Universität, hatte Shirley Taeter, die Tochter von Peggy Berolsky, die nach Auschwitz deportiert wurde, ermutigt, aufgezeichnete Erinnerungen ihrer Mutter zur Verfügung zu stellen, um sie zu veröffentlichen. Elisabeth Abendroth beschreibt den Inhalt des Buches und empfiehlt es damit.

Dass wir Peggy Berolskys Erinnerungen heute lesen können, verdanken wir Gine Elsner. Anfang der 2000er traf sie Shirley Taeter, die Tochter von Peggy Berolsky, zufällig im Urlaub. Diese erzählte davon, wie ihre Mutter bei Entschädigungsanträgen im Nachkriegsdeutschland unter post-nazistische, medizinische Gutachter_innen gefallen war. Und sie deutete deren gesamte Leidensgeschichte während der Nazi-Zeit an. Gine Elsner, Medizinerin und Soziologin, von 1995 bis 2009 Direktorin des Instituts für Arbeitsmedizin an der Frankfurter Goethe-Universität, sagte spontan: „Sorgen Sie dafür, dass die gesamte Geschichte aufgeschrieben wird! Ich mache ein Buch daraus.“

Schon als Hochschullehrerin hat sich Gine Elsner mit den durch den Hitlerfaschismus bis heute weitgehend verdrängten, humanistischen Wurzeln der Arbeitsmedizin auseinandergesetzt – und mit ihrer menschenverachtenden Indienstnahme zwischen 1933 und 1945. Seit ihrer Emeritierung hat sie mehr Zeit für ihre Forschungen und publiziert jedes Jahr mindestens ein sorgfältig recherchiertes Buch. Besonders beeindruckt hat mich ihre 2017 in Hamburg erschienene Studie „Verfolgt. Vertrieben. Vergessen. Drei jüdische Sozialhygieniker aus Frankfurt am Main: Ludwig Ascher (1865-1942) Wilhelm Hanauer (1866-1940) Ernst Simonson (1898-1974)“.

Peggy Berolskys Überlebensbericht ist im VSA Verlag erschienen, als dritter Band einer von Gine Elsner edierten Reihe mit Erinnerungen Überlebender. Peggy Berolsky hatte zwar öfter öffentlich interveniert, wenn in den südafrikanischen Medien Falsches über den Holocaust berichtet wurde, aber von ihrer ganz persönlichen „Reise“ von Krakau nach Kapstadt, über Plaszów, Auschwitz und Bergen-Belsen hat sie erst lange danach ihren Enkeln erzählt; zunächst nur Fragmente; dann, kurz vor ihrem 80. Geburtstag, schließlich ihrem Enkel Paul in einem Videointerview „die ganze Geschichte“, auf Englisch. Das war die Sprache, in der sie fast ihr ganzes Leben nach Auschwitz gelebt hat. Vor Auschwitz waren ihre Lebenssprachen Polnisch und Jiddisch gewesen. „Grandma Peggys“ Erzählungen geordnet, ins Deutsche, die Sprache der Mörder, übersetzt und als sorgfältig kommentierten Bericht aufgeschrieben hat später ihre Enkelin Lisa Strauß, die heute in Berlin lebt. Gine Elsner hat mit kurzen Zwischentexten historische Zusammenhänge hergestellt. So ist auf 117 Seiten ein kleines Kompendium der Naziverbrechen in Polen entstanden, ergänzt durch einige Fotoabbildungen, ein Glossar und eine kurze Literaturliste – zugleich der unpathetische, nüchterne, sehr komprimierte Über-Lebensroman einer Geretteten:

Peska Weinstock war ein selbstbewusstes Kind, von wohlsituierten, religiösen Eltern behütet, sportlich, musikalisch, selbstbewusst, zuweilen ziemlich aufmüpfig. Als Älteste von fünf Kindern wuchs sie in einer repräsentativen Fünf-Zimmer-Wohnung im Zentrum von Koszyce auf. In ihrer frühen Kindheit hatte in der Familie eine Matriarchin den Ton angegeben, Peskas Urgroßmutter, die ebenso liebevolle wie bestimmte „Babcia“, die hochbetagt noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verstorben war. Erst nach ihrem Tod übernahm Peskas Vater die Leitung des familiären Spirituosengeschäfts. Schon im Vorkriegspolen wurde der Antisemitismus immer rabiater; so verlor Peskas Vater seine Konzession an einen polnischen Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg. Rasch baute sich das Ehepaar Weinstock mit einer Konditorei eine neue Existenz auf. Kurz erwog Herr Weinstock eine Auswanderung nach Rhodesien, wo sein Bruder lebte. Von einer Erkundungsreise dorthin kehrte er desillusioniert zurück; die Auswanderungspläne wurden verworfen. Dann kam der deutsche Überfall auf Polen. Peskas Welt geriet aus den Fugen. Anfangs flohen viele jüdische Großstadtfamilien in kleinere Orte, so auch nach Koszyce, bald aber betrafen die „deutschen Maßnahmen“ auch die kleinstädtischen Juden. Sie wurden drangsaliert, enteignet, mit dem „Judenstern“ gebrandmarkt, und systematisch entrechtet. An Schule war nun nicht mehr zu denken. Peska musste gemeinsam mit anderen jüdischen Mädchen für die deutschen Soldaten unbezahlte Zwangsarbeit leisten. Die drei größeren Zimmer der Weinstockschen Wohnung okkupierte der deutsche Stadtkommandant nebst „Gemahlin“. Der siebenköpfigen Weinstock-Familie blieben zwei kleine Zimmer. Das Schlimmste war, daß Tag und Nacht Nazis durch die Wohnung liefen, die die Weinstocks unflätig antisemitisch beschimpften. Die hielten das nicht länger aus und suchten eine neue Unterkunft. Ein Onkel im Koszycer Judenrat erfuhr, daß die jüdischen Familien „ausgesiedelt“ werden sollten. Er riet den Weinstocks, aufs Land zu gehen und sich bei Bauern zu verstecken. Hilfe für Juden wurde mit dem Tode bestraft. Um der Sicherheit ihrer Helfer willen mussten die Weinstocks ihr ländliches Versteck verlassen und nach Koszyce zurückkehren. „Die Stadt war wie leergefegt.“ (S.19) Ein früherer jüdischer Polizist, den Peska auf der Straße traf, sagte ihr: „Jeder Jude, der entdeckt wird, wird sofort erschossen.“ Peska rannte nach Hause, um die Familie zu warnen. „Dann weiß ich nur noch, wie ich auf die Toilette rannte. … Ich kann nicht erklären, was in diesem Moment mit mir passiert ist, aber ich rannte einfach. … Ich lief hinaus in die Felder, lief einfach weiter. Es war das letzte Mal, daß ich meine Familie sah.“ (S.19) Bei mutigen Menschen in einem kleinen Dorf fand sie allein ein Versteck. Bald verließ sie es, um ihre Familie zu suchen. Sie erfuhr, daß ihre Familie sich in einem anderen Dorf versteckt hatte. Aber als sie dorthin aufbrechen wollte, sagte man ihr, daß auch dieses Dorf von den Deutschen „geräumt“ worden war. In der Koszycer Wohnung, in die sie ein letztes Mal heimlich zurückkehrte, fand sie eine Postkarte ihrer Eltern, mit einer neuen Adresse: „Wir sind ins Ghetto nach Lublin deportiert worden.“ Aus der Illegalität schickte Peska kleine Päckchen, Briefe, Postkarten dorthin und wollte nur noch zu ihrer Familie. Aber die Eltern flehten sie an, ihnen auf keinen Fall zu folgen. Dann kamen keine Nachrichten mehr. „Ich glaube, die Gefangenen wurden nach Treblinka deportiert. Eine Endstation. Dort gab es nur Gaskammern.“ (S.22). Peggy Berolsky vermutete, dass ihre Eltern und ihre vier kleinen Geschwister, 13, 10, 8 und 4 Jahre alt, 1942 in Treblinka ermordet wurden. Zum Schicksal der Familie Weinstock haben sich bis heute keine Dokumente finden lassen.) Peska versteckte sich bei einer polnischen Hebamme, die sie als Bäuerin verkleidete, ihr ein Stück Speck für den Schwarzmarkt besorgte und sie nach Krakau begleitete. Wieder erlebte sie mutige Hilfe, aber auch Verrat und – auch sexuelle – Gewalt. Es gelang ihr, sich gefälschte Papiere zu beschaffen, die sie zwei Jahre jünger machten. Es folgte für Monate, Jahre – das Zeitgefühl ging Peska verloren. Ein Leben im Untergrund, ständig auf der Flucht, ständig in Gefahr aufzufliegen. Trambahnfahrten in Krakau führten sie in Waggons mit versiegelten Fenstern und Türen durchs Ghetto. „Ich konnte sehen, (…) wie Babys an den Mauern des Ghettos totgeschlagen wurden.“ Von außen erlebte Peggy die „Säuberungsaktionen“ und schließlich die „Liquidation“ des Ghettos (am 13. und 14. März 1943). Sie sah, wie deutsche Soldaten Gruben aushoben. Den kommandierenden Offizier erkannte sie: Es war derselbe Deutsche, der damals in Koszyce ihre Familienwohnung okkupiert hatte.

Bei einer Kontrolle fliegt Peska schließlich auf. Sie wird festgenommen. Zum Verhängnis wird ihr, daß sie in den Saum ihres Mantels ein Foto ihrer Mutter und den letzten Brief ihrer Eltern eingenäht hatte. Bei ihrer Festnahme ist Peska Weinstock 18 Jahre alt. Nach Folterverhören im SS-Hauptquartier – sie gibt die Quelle ihrer gefälschten Papiere nicht preis! – wird Peska zunächst ins menschenleere Krakauer Ghetto verschleppt. Sie teilt die überfüllte Zelle mit anderen mit falschen Papieren aufgegriffenen Mädchen aus ganz Polen. „Ständig kamen neue Häftlinge, oder bereits Inhaftierte wurden abtransportiert – dann hieß es immer nur „gehängt“, „erschossen“ … Die Menschen wurden zur Exekution nach Plaszów gebracht, (in) das Lager, um das es in dem Film „Schindlers Liste“ geht.“ (S.35) – Anfang/Mitte der neunziger Jahre hat „Grandma Peggy“ diesen Film ihren Enkelkindern im Kino angesehen. – „Ich war Teil einer größeren Gruppe von Gefangenen, die zum Lager marschieren mussten, wie Vieh wurden wir unter Waffengewalt von der SS getrieben. Dort, da war ich sicher, würden wir alle erschossen werden.“ (S.36) Aber die jungen Frauen werden nicht erschossen, sondern vom SS-Lagerleiter Amon Göth zur Sklavenarbeit eingeteilt. Göth, der Saufgelage mit SS-Leuten und seinem „Freund“ Oskar Schindler (den Peggy lebenslang sehr skeptisch beurteilen wird) veranstaltet, Menschen bis aufs Hemd ausraubt, sich endlos bereichert, foltern läßt und selbst foltert, Exekutionen anordnet und selbst Gefangene willkürlich erschießt, ist als „Schlächter von Plaszów“ in die Literatur eingegangen. Peska Weinstock ist eine von 27.000 Gefangenen dieses Schlächters. Drangvolle Enge, Hunger, Schmutz, Krankheiten, Sklavenarbeit bis zum Umfallen. Peska wird Zeugin von Folterungen, Hinrichtungen, Massenexekutionen, Selektionen von Kindern. Daß sie überlebt, verdankt sie ihrer Angabe, sie sei Schneiderin von Beruf“; sie hatte in Koszyce einen Nähkurs absolviert. So wird sie in der Textilfabrik Madritsch in 12-Stunden-Schichten eingesetzt. „Nach der Nachtschicht mußten wir auf dem Weg zu den Baracken noch Steine schleppen … das war pure Sklaventreiberei und diente nur unserer Erniedrigung.“ (S.40) Peska erfährt physische Gewalt, auch sexuelle Übergriffe. Einmal wird sie zu 25 Stockschlägen verurteilt. „Auf dem Platz gab es für solche Gelegenheiten spezielle Tische, die in der Mitte ausgehöhlt waren. Da wurde man bäuchlings hineingelegt, so dass man sich nicht bewegen konnte. … Es blutete sehr. Anschließend wurde ich zu 48 Stunden im Bunker verurteilt … eine Art Verlies, … nahe der Villa von Göth. … es war zu klein, um in die Hocke zu gehen – man konnte nur stehen…. Ich hab‘s überlebt.“ (S42/43) Schließlich wird Peska mit vielen anderen in einen Zug „hineingepfercht, ohne Luft, ohne Fenster“ (S61).

Familienfoto | © Foto: Privatarchiv Shirley Taeter

Todesmarsch nach Bergen-Belsen

Dieser „Transport“ endet in Auschwitz-Birkenau. Peska überlebt die Selektion (sie wird in Auschwitz später noch zwei oder drei weitere Selektionen überleben), wird kahl rasiert, entkleidet, tätowiert – „… die Nummer erhöhte meine Chance zu überleben.“ (S.71) –, geduscht. „Wir hatten Glück, daß in den Duschen Wasser runterkam. Die anderen hatten Gas, aber es war das gleiche System.“ (S.70) „Von meinem Block aus konnte ich später oft beobachten, wie immer wieder neue Häftlinge (…) ankamen, untermalt von den Klängen des Lagerorchesters. Ich sah, wie die Menschen enteignet und über die Rampen ins Lager geführt wurden. Man gab ihnen Handtücher und ein Stück Seife in die Hand, dann ging es direkt in die Gaskammern.“ (S.66)– Peska überlebt stundenlanges Appellstehen, die grauenvolle Enge in ihrer „Baracke Nummer 20, in Block B. Es ist eine der wenigen Baracken in Auschwitz, die bis heute noch existiert.“ (S.68) Wieder leistet sie zermürbende Sklavenarbeit, erträgt Hunger, Gewalt. Ihre Erinnerungen, an Mengele an andere Täter_innen, an Leidensgenossinnen, an das „Zigeunerlager“, sind sehr konkret und genau. Eine verlässliche Zeugin – und selbst unter diesen Bedingungen eine Kämpferin. In Auschwitz-Birkenau ist Peska ist an der Rettungsaktion eines Kindes, das sie aus Plaszów kennt, beteiligt. Und sie bleibt selbst am Leben. „Als die Russen immer näher vordrangen, wurde Auschwitz schließlich geräumt. Zusammen mit vielen anderen Häftlingen wurde ich auf einen Marsch geschickt. Drei Tage und drei Nächte lang marschierten wir, unter ständiger Bewachung durch die SS und ihre Maschinengewehre. Nachts schliefen wir in Scheunen (…). Wenn einer der Häftlinge nicht mehr konnte, wurde er erschossen (…).“ (S.75) Dann werden die Überlebenden auf LKWs geladen, offene Kohlewagen, bewacht von jungen deutschen Soldaten mit Wachhunden. Einer will unterwegs auf einem Bahnhof ein Bier trinken gehen und gibt ihr die Leine seines Hundes in die Hand. Der Hund beißt Peska in die Hand; die läßt die Leine los, der Hund läuft weg. „(…) der Mann war (/…) außer sich. Er nahm seine Pistole und war im Inbegriff, mich zu erschießen.“ Ein paar Gefährtinnen „warfen sich an seine Füße, küßten seine Stiefel und flehten um Gnade. Er schoss nicht.“ (S76) Eine Narbe in der Hand wird sie zeitlebens an diese Episode erinnern.

Der Todesmarsch endet in Bergen-Belsen, „inmitten eines Waldes. (…) sehr verschiedene Menschen waren auf kleinstem Raum zusammengepfercht. – „… 800, vielleicht 900 Frauen in einer Baracke“ (S.80), eine Pritsche gab es nur für die Blockälteste und ihre Vertreterin. „Zu essen gab es eine Suppe aus Mehl und einer bestimmten Art gelber Rüben, die vor allem in Deutschland wachsen“ (S.79) und ein winziges Stück Brot pro Woche. Es gab erbitterte Kämpfe um diese Hungerrationen. „Ich hatte Glück … Ich kam mit weniger Nahrung zurecht als die meisten anderen. Oftmals tauschte ich das bißchen Essen, das wir bekamen, gegen Wasser, um mich zu waschen. … Sauberkeit war mir wichtig.“ (S.80) Peggy wurde zur Arbeit im Bekleidungslager eingeteilt – und in den Unterkünften der SS, außerhalb des Lagers. Sie „organisierte“ da manchmal Zigaretten, die Lagerwährung. Bei ihrer Arbeit in der Bekleidungskammer steckte sich Peggy mit einer tödlichen Krankheit an: „Ich hatte Typhus gegen Ende des Krieges, zur gleichen Zeit wie Anne Frank.“ (S.81) Zwei Freundinnen aus Auschwitz, Kikki und Chanka, stützen Peska beim Appellstehen und bringen die Vertreterin der Blockältesten dazu, die Schwerkranke auf ihrer Pritsche unterzubringen und sich um sie zu kümmern. Das rettet Peska das Leben. „Meine Freundinnen waren sehr große Stützen für mich … trugen mich unter den Armen nach draußen zu den Löchern, damit ich mich körperlich erleichtern konnte. Sie halfen mir, wieder laufen zu lernen …“ (S.82/83) Vorsichtig geht Peska im Lager umher. Auf einmal hört sie Stimmen, Musik. Der Strom im Stacheldraht ist abgedreht. Sie sieht Josef Kramer, Lagerleiter seit 1944, und andere SS-Leute mit weißen Binden im Gespräch mit britischen Soldaten. Dann die Lautsprecherdurchsage „Ihr seid alle frei!“. (Lisa Strauß schreibt, dass Peggy diesen Satz im Interview mit ihrem Enkel Paul auf Deutsch zitiert hat.) Die britischen Soldaten sind entsetzt von dem Anblick der mit Leichen und Exkrementen übersäten Barackenböden. Sie bringen Wasser, Lebensmittel, filmen, sprechen mit den vollkommen ausgehungerten, schwerst kranken, in Lumpen gehüllten, von Läusen wimmelnden Überlebenden. Das ganze Lager ist verseucht mit Typhus und muß niedergebrannt werden. „Deshalb ist heute von Bergen-Belsen nichts mehr zu sehen.“ (S.86) Peggy erklärt, dass sie keine Familie hat, aber einen Onkel in Rhodesien. Die Postfachnummer, an die die Briefe ihres Vaters vor dem Krieg adressiert waren, hat sie noch in Erinnerung. „Die britische Armee war fantastisch … Eines Tages brachte mir ein Soldat ein frisches Ei, das er von irgendeinem Bauernhof gestohlen hatte.“ (S.86) Viele Leidensgenoss_innen stürzen sich auf die britischen Soldatenrationen. Viele sterben an der zu schweren Nahrung. Hilfsorganisationen aus den USA und aus Schweden nehmen sich der Schwerstkranken an. „Die Deutschen wurden gezwungen, selbst das Lager zu reinigen und die Toten fortzutragen. Gleichzeitig waren überall Listen mit den Überlebenden aus allen Konzentrationslagern in Umlauf…. Ich fand niemanden aus meiner direkten Familie.“ (S.90)

Wohin? Zunächst bleiben Peska und andere in Bergen-Belsen. Dort erlebt sie den Widerhall der beiden Prozesse in Nürnberg und (des „kleineren“) in Lüneburg, wo Josef Kramer und die SS-Aufseherin Irma Grese angeklagt waren. Peska erinnert sich an Grese sehr genau. Sie besucht die Verhandlung. „Diesen Prozess mitzuerleben …, war ein wichtiges Erlebnis für mich.“ (S.95) „Ich war allein in Deutschland, sehr allein. Konfrontiert mit der Entscheidung, mir das Leben zu nehmen oder weiterzumachen, mir ein neues Leben aufzubauen.“ (S.92) Überlebende Gefährt_innen gehen in die USA, nach Palästina. Peska schlägt ein Angebot, nach England zu gehen, aus und erzählt allen: Wenn ich hier rauskomme, gehe ich nach Afrika zu meinem Onkel. Alle halten sie für verrückt. Aber sie setzt diesen Plan in die Tat um. „Nach zwei Jahren in Deutschland schickten mich die Amerikaner nach Frankreich, um von dort nach Rhodesien weiterzureisen.“ (S.97) Dort wird aus Peska Peggy. Ein neues Leben? Auch diesmal eine Desillusionierung: Wegen des manifesten Rassismus‘ hält Peggy es in Rhodesien nicht aus und geht nach Südafrika. Dort trifft sie schließlich Michael Berolsky, einen gerade noch vor dem Holocaust aus Litauen Entkommenen, gründet eine kleine Familie, schafft mit Tatkraft, Fleiß und Entschlossenheit einen beachtlichen sozialen Aufstieg, wird Mutter, Großmutter.

Ein Happy End? Nur halb. Zeitlebens ist Peggy Berolsky krank, physisch und psychisch. Das Schlimmste sind die immer wiederkehrenden Depressionen. Für eine kleine Entschädigungsrente muss sie vor deutschen Behörden streiten, für sie entwürdigend. Als sich die Beschwerden verschlimmern, wird eine Rentenerhöhung abgelehnt, denn es liege im Wesen der Erkrankung, „daß die Antragstellerin auch ohne die Verfolgung ähnliche Beschwerden mit Sicherheit bekommen hätte.“ (S.107) Schon Jahre zuvor war in einem ärztlichen Gutachten von „anlagebedingter, hysterischer … Psychopathie“ (S.106) die Rede. So viel zur so oft gepriesenen „Vergangenheitsbewältigung“ hierzulande.

Letzte Änderung: 27.08.2021

 Von Krakau nach Kapstadt | © Privatarchiv Shirley Taeter

Peggy Berolsky Von Krakau nach Kapstadt

Deportiert nach Auschwitz:
Bericht einer Überlebenden des Holocaust
Aufgeschrieben von Lisa Strauß, herausgegeben von Gine Elsner
120 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-96488-018-5
VSA Verlag, Hamburg 2021

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