Selbst, wenn sie diese Funktion nicht angestrebt haben, sind Gewerkschaftsvorsitzende auch Politiker, in gewissem Sinne Korrekturpolitiker, die einfordern, was die gewählten Volksvertreter nicht ausreichend vertreten können. Das gilt umso mehr, wenn es sich, wie im Falle der neu gekürten IG Metall-Vorsitzenden Christiane Benner, um eine Frau handelt. Peter Kern beschreibt, welche Aufgaben Frau Benner zu bewältigen hat.
Die neue Vorsitzende der IG Metall und ihre Aufgaben
Die vergangenen beiden Landtagswahlen haben das Ausmaß des Problems deutlich gemacht. In Hessen haben 38 Prozent der Arbeiter die AfD gewählt, in Bayern waren es 33 Prozent. Das Substantiv muss nicht gegendert werden; denn es ist der männliche, zwischen 30 und 60 Jahre alte, manuelle Tätigkeit verrichtende Wähler, der sich zu einer Partei hingezogen fühlt, deren Programm wirtschaftsliberale Züge trägt. Wer aber schaut schon in das Programm, wenn er von Parolen angefixt ist? Frau Weidel, Herr Höcke und ihr jeweiliger Adlatus vor Ort werden für das Ausländer raus gewählt, für sonst nichts. Der in einem hessischen Wahlkreis das beste AfD-Ergebnis erzielte, hat keinen einzigen Wahlkampfauftritt absolviert.
Wer verspricht, der rechten Partei das Wasser abzugraben, dem fliegt alles mediale Wohlwollen zu. Herr Merz hat es versprochen, aber er kann nicht liefern. Frau Wagenknecht verspricht es und zielt mit ihrem Parteiprojekt auf eine Wählerschaft, die zwischen links und rechts nicht zu unterscheiden vermag. Christiane Benner, die neu gewählte Vorsitzende der IG Metall, sagt: Gerade wir als Gewerkschaft haben enorme Möglichkeiten, gegen den weiteren Aufstieg der AfD zu wirken… Wir können den Rechten den Boden entziehen, wenn wir in den Betrieben mithilfe von Gewerkschaften und Betriebsräten Menschen Sicherheit vermitteln, etwa indem sie weiterqualifiziert werden und bei all den Veränderungen eine gute Perspektive für sich sehen.
Ihre Botschaft ist in der kommentierenden Öffentlichkeit sehr gut angekommen. Ein wenig hört man aus den Kommentaren den Subtext heraus: Ihr von der Gewerkschaft müsst doch wissen, wie diese Proleten ticken und wie man ihnen den Kopf wieder gerade rücken kann. Das Manager Magazin, sonst nicht der größte Freund der Gewerkschaften, nennt die neue Vorsitzende eine der mächtigsten Figuren der deutschen Wirtschaft. Frau Benner ist studierte Soziologin. Vom Stammvater ihres Fachs, Max Weber, stammt der Satz, Macht sei das Vermögen, den eigenen Willen dem Verhalten anderer aufzwingen zu können. Dieses Vermögen kommt den deutschen Gewerkschaften kaum im Übermaß zu. Jede Jahresbilanz des DGBs weist seit bald 30 Jahren einen Verlust an Mitgliedern aus. Die Gesellschaft der Angestellten glaubt, auf eine Organisation der Arbeiter verzichten zu können. Ist noch jeder achte sogenannte Arbeitnehmer Mitglied eines solchen Verbandes? Nicht einmal das.
Nach ihrem Zerfall hat sich die zerbröselte bürgerliche Öffentlichkeit darauf geeinigt, Macht haben und Promi sein, seien identisch. Sie ist zerfallen und zugleich in unendlicher Ausdehnung begriffen, Stichwort Social Media. Klein gekriegt hat diese Öffentlichkeit ihre Inszenierung als Personality Show. Für Sarah Wagenknecht liegt darin eine gewisse Chance, für Christiane Benner liegt darin eine große Gefahr. Der Mensch ist am meisten verführbar, wird seine Eitelkeit rausgekitzelt. Wie leicht vergisst sich dann, was bei Max Weber zu lernen war. Man lässt sich Honig um den Mund streichen und übersieht, wo die wirklich mächtigsten Figuren der deutschen Wirtschaft zu finden sind.
Dass Frau Benner die traditionell von Männern (und meist von Schwaben) besetzte Gewerkschaftsspitze der IG Metall erobert hat, ist es, was ihr die große Aufmerksamkeit beschert. Ein bisschen ist es so, als wäre das Pontifikat in weibliche Hände geraten. Wer sich in dem Old Boys Club einer Gewerkschaft durchgesetzt hat, hat wahrlich ein dickes Brett gebohrt, und sich – um noch einmal Weber zu paraphrasieren – als Politikerin qualifiziert. Als Politikerin? Frau Benner ist doch Gewerkschafterin! Die Organisation heutiger Arbeitnehmer verdankt ihren Einfluss in hohem Maß dem Draht, den sie zum jeweiligen Kabinett hat. Diesen Draht hat Rot-Grün in seinen Anfängen mal ganz dünn werden lassen, mittlerweile ist er wieder halbwegs stabil.
Den Strukturumbruch der deutschen Wirtschaft hin zu CO 2 -freien Produktionsverfahren wollen Rot-Grün mit Hilfe der Industriegewerkschaften moderieren. Herr Lindner und seine FDP machen dabei nur widerstrebend mit. Denn ihnen sitzt ihre Klientel, die Handwerksmeister und Mittelständler, im Nacken. Die können Gewerkschaftsleute gar nicht ab und sind voller Wut, weil große Konzerne gepampert werden, denen Landräte und Oberbürgermeister den reduzierten Stromtarif schon zubilligen, um den im Bund noch gestritten wird. Dass die AfD in den letzten Landtagswahlen große Zugewinne von der FDP verzeichnet hat, ist Herrn Lindner und seinem Generalsekretär Anlass, die Tonlage aufzugreifen, die beim Thema Migration nun endgültig die dominierende ist: Alle in Auffanglager stecken und den Freigängern den Brotkorb hoch hängen. In diesem Klima der Hetze ist man um jeden gegenhaltenden grünen Gesinnungsethiker dankbar. Auch wenn die Anerkennung der Realität in den Kommunen verlangt, die das Asylrecht aushöhlende Migration zu begrenzen. Die Opposition innerhalb der Koalition tut wahrheitswidrig so, als wäre die Partei der Grünen von ihren Fundis gekapert. Schon wer feststellt, er könne nicht übers Wasser laufen und habe kein Patent gegen die von Verelendung verursachte Fluchtbewegung, wird von der Demagogie zum weltfremden Gutmenschen erklärt.
In diesem politischen Großklima die Einsicht hochzuhalten, Menschen seien sich gegenseitig Solidarität schuldig und abhängig Beschäftigte im besonderen Maß, ist die den Gewerkschaften gegenwärtig gestellte Aufgabe. Sie sind dafür nicht gut gerüstet, denn ihre Basis hat Schwindsucht, und wenn der Hype um die Neue an der Spitze vorbei ist, sind die alten Probleme wieder da. Das größte: Die Angestellten bleiben den Gewerkschaften fern, die Träger des modernen Produktionsapparats, der sein Design in seinem Vorfeld findet, dort, wo geforscht, entwickelt, programmiert und die Abläufe einer Fabrik festgelegt werden. Die körperlich Arbeitenden sind nur noch die Ausführenden, minder qualifiziert und vom nächsten Automatisierungsschritt bedroht.
Frau Benner haben die Delegierten der IG Metall zur Vorsitzenden gewählt, nicht weil sie vielleicht ein Nerd ist oder eine interessante Biografie hat (inklusive Feldforschung in einem Chicagoer Ghetto ), sondern weil sie im letzten Jahrzehnt der Aufgabe nachging, das steinige F&E-Feld zu beackern und sie dieses Ackern intensivieren soll. F&E? So heißt im Industriejargon das Kürzel, das für Forschung und Entwicklung, also für Ingenieure, Informatiker, Softwareentwickler etc. steht, das akademisch ausgebildete Proletariat, das als solches zu bezeichnen arg anachronistisch klingt. Man kann sich die Frage stellen, warum es notwendig sein soll, als Angehöriger einer solchen Beschäftigtengruppe Gewerkschaftsbeitrag zu zahlen. Diese Gruppe stellt sich die Frage und kann sie nicht beantworten.
Christiane Benner soll ihrer Organisation helfen, die Antwort zu liefern. Vielleicht fällt ihr dabei ihr absolvierte Studium wieder ein. Berufsethos, ein zentraler Begriff in der Soziologie von Durkheim und Weber. Die mit dem Herstellen beschäftigten Individuen wollen einen Sinn in ihrer Arbeit erfahren, und der geht flöten, wenn die dem Produktionsprozess vorausgehenden und die von ihm verursachten Prozesse schambesetzt sind. Hochqualifizierte Angestellte wollen in keinem Kinder- oder Zwangsarbeit umfassenden Arbeitszusammenhang stehen, und sie verabscheuen Umwelt und Klima schädigende Produkte. Bloß zu sagen, man wolle dies nicht, ist zu wenig; denn es braucht einen Zusammenschluss, damit aus dem Nichtwollen auch eine wirkliche Veränderung wird. Der Wahlakt alle vier Jahre stößt solche Veränderung gerade mal an. Man bringt zum Beispiel ein Lieferkettengesetz auf den Weg. Damit dieses Gesetz in den Konzernen Anwendung findet, braucht es eine Organisation, die dieses Gesetz zu ihrer moralischen Sache macht. Damit die Konzerne ihre industriellen Prozesse wirklich ändern und Nachhaltigkeit kein Werbeclaim bleibt, braucht es eine betriebliche Organisation, die nicht locker lässt, bis die karbonfreie Industrie wirklich produziert. Es braucht eine Industriegewerkschaft, was auch ein akademisches Publikum begreifen kann. Die neue Vorsitzende der IG Metall hat den Auftrag ihrer Organisation erhalten, diesen Gedanken an den Mann und an die Frau zu bringen.
Frau Benner hat recht: Man vermittelt den minder qualifizierten Beschäftigten Sicherheit, wenn man per Weiterbildung die Zuversicht stärkt, auch künftig einen ordentlich bezahlten Arbeitsplatz einzunehmen. Die Macht, dies zu tun, und damit der AfD das Wasser abzugraben, liegt aber nicht bei ihr, sondern bei den Unternehmern. Und die veranstalten mit ihren Verbänden das Gegenteil. Auf dem Arbeitgebertag neulich war gerade im Chor zu vernehmen, was seit Monaten die Einzelstimmen vortragen: Der Wirtschaftsstandort liege am Boden, der Strompreis sei viel zu hoch, die Bürokratie stranguliere das freie Unternehmertum. Der Vortragsredner Herr Merz fasste die Stimmung sarkastisch zusammen: Wollen wir eigentlich noch ein wettbewerbsfähiger Industriestandort bleiben?
Jammern ist das Lied des Kaufmanns, aber der gegenwärtige Jammerton ist ein Verstärker für die Hetzparolen der AfD. Das scheinen die Unternehmerkreise nicht zu realisieren. Sie schießen sich selbst ins Knie. Man will für Arbeitende und Studierende aus dem Ausland attraktiv werden, Stichwort Fachkräftemangel, stärkt aber eine Partei, die das Land national-borniert ausrichten will. Man will mit aller Gewalt die gewählte Koalition aus dem Amt jagen, die doch gerade noch dafür gut war, die Kapitaleigner unbeschadet durch die Pandemie zu bringen. Es sind die Unternehmer, die liefern müssen, jetzt, wo es gilt, dem AfD-Geschäftsmodell gegenzuhalten.
Letzte Änderung: 24.10.2023 | Erstellt am: 24.10.2023