Und wieder haben sie nicht daraus gelernt

Und wieder haben sie nicht daraus gelernt

Zur Israelkritik Slavoj Žižeks
Slavoj Žižek | © Screenshot

Es geht um die Vernichtung von Menschen. Wenn nun aber um mediale Aufmerksamkeit gerungen wird und die Toten gegeneinander aufgerechnet werden, offenbart sich, was Solidarität bedeutet. Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek hatte sich in seiner Eröffnungsrede zur Frankfurter Buchmesse ambivalent zu Israel und der Hamas geäußert. Der Wiener Autor Richard Schuberth erhebt Einspruch.

Slavoj Žižek präsentierte mit seiner Rede ein lehrreiches Beispiel für den Unterschied zwischen legitimer Kritik israelischer Politik und „Israel-Kritik“. Leider hat er sich für letztere entschieden.

Keine diabolische Taktik verfolgte der slowenische Philosoph, er tat schlichtweg, was Linke aus der Tradition des antikolonialen Widerstandes und der Palästinensersolidarität seit Jahrzehnten tun. Aus ihrer Perspektive wird die Debatte nicht sachlich, sondern ideologisch geführt. Den Vorwurf eines linken Antisemitismus halten sie für skandalös und sich für glaubwürdige Antifaschisten, auch wenn sie glauben, den Bann feierlichen Schweigens zu brechen durch die Annahme, der Holocaust wurde von der israelischen Regierung und ihren Unterstützern als moralischer Schutzschild für die Vertreibung und Unterdrückung der Palästinenser missbraucht. Sie beanstanden, wie es auch Slavoj Žižek dieser Tage tat, ein „Analyse-Verbot“, ein Unrecht, dessen Name nicht genannt werden darf.
So dumm es ist, Kritikern israelischer Palästinenserpolitik reflexartig Antisemitismus zu unterstellen, so erkenntnisblind zeigen sich diese, wenn sie darauf beharren, aufgrund ihrer Weltanschauung davor gefeit zu sein – und nicht merken, dass von ihrer Solidarität mit allen Unterdrückten dieser Welt so verdächtig viel für ganz bestimmte Unterdrückte abgezwackt wird und die neurotische Idee, man dürfe Juden nicht kritisieren, ihre therapeutische Abfuhr dadurch erfährt, Juden mehr zu kritisieren als andere.

Mit Empörung also reagieren sie auf die Verknüpfung des historischen Genozids an den Juden mit der „Palästinenserfrage“. Ebendies aber tat der Starphilosoph bei seiner Rede in Frankfurt. Indem er das Leid palästinensischer Menschen gegen das seit 1945 größte Pogrom an jüdischen Menschen aufrechnete.
Nicht die notwendige Thematisierung des Unrechts, das Arabern in der Region widerfuhr und widerfährt, hat Kritik und Zwischenrufe provoziert. Es war der kausale Kurzschluss von Hamas-Terror und der angeblichen Missachtung palästinensischer Leidensgeschichte. Vieles, was Žižek sagte, war wohl nicht unrichtig, zumindest debattierbar; Solidarität muss auch den unschuldigen Opfern in Gaza gelten, und die Kritik am Aufschub der Preisverleihung an die palästinensische Autorin Adania Shibli ist gewiss angebracht. Anders vielleicht, als es Žižek meinte. Denn wenn es stimmt, dass ihr Roman antisemitische Tendenzen aufweist, soll die Leitung der Frankfurter Buchmesse auch zu dessen Prämierung stehen. Oder den Vorwurf entkräften. Jetzt wirkt es so, als hätte sich die Auszeichnung antisemitischer Literatur leider völlig unerwartet mit einem antisemitischen Massenmord überschnitten. Man bitte um Verständnis, sobald sich die Wogen geglättet hätten und Israel durch seine Vergeltung wieder diskreditiert habe, könne man mit der gewohnten Praxis fortfahren.

Žižeks Aufruf zum Verständnis für das Leid vieler Palästinenser, ungeachtet des Schuldanteils ihrer eigenen hetzerischen Führungen, war vor zwanzig Jahren relevant und wird es leider auch noch in zwanzig Jahren sein – der Anlass und der Zeitpunkt der Rede waren es, die ihre Perfidie ausmachten.
Žižek suggeriert die Massaker der Hamas als die bedauerliche Spitze einer historischen Unrechtsspirale. Wenn er darauf beharrt, dass es nicht um einen Krieg zwischen Israel und der Hamas gehe, integriert er die Ziele der Hamas in die kollektive palästinensische Opfererzählung, deren wahrer Täter, der israelische Staat, wegen der Pogrome nicht aus den Augen verloren werden dürfe. Während viele arabische Bewohner des Gazastreifens und des Westjordanlandes sich vermutlich weder für die Hamas noch deren Gräuel verantworten wollen, macht Žižek ihnen dabei einen Strich durch die Rechnung, indem er sie als „Opfer der Opfer“ in die Verantwortung nimmt. Denn zu einem Pogrom gehören immer zwei. Man köpft nicht Babys ohne Grund. Obwohl es in der Geschichte dann doch von Unterdrückungsszenarien wimmelt, in denen erlittenes Leid sich nicht zwangsläufig durch Babyköpfen Luft verschaffte. Man muss nur suchen.
Natürlich weiß Žižek, dass die Hamas alles Mögliche, bloß nicht palästinensische Interessen vertritt. Man braucht sich nicht allein auf die Ausführungen des Überläufers Mosab Hassan Youssef, des Sohnes eines der Hamas-Gründer, zu stützen, um zu wissen, dass sie für die Vernichtung aller Juden steht. Und wenn ihr Führer Ismail Haniyya in einem Interview einmal betonte, dass sein Kampf nicht den Juden, sondern Israel gelte, log er im Wissen, was westliche Medien hören wollen, und widersprach dem Artikel 7 der Gründungscharta seiner eigenen Organisation, welcher eben zur Tötung aller Juden aufruft. Lügen indes widersprechen nicht der Gotteskrieger-Ethik, sofern sie zweckdienliche Lügen sind zum Erreichen des endzeitlichen Endziels. Die Hamas sind wahre Internationalisten des religiösen Wahns. Der nationale Rahmen eines palästinensischen Gottesstaates bedeutet ihnen freilich bloß ein Zwischenstadium, in dem für christliche Araber übrigens der Status von „dhimmi“, Bürgern zweiter Klasse, vorgesehen ist. Es dürfte kein Zufall sein, dass nur knapp 1000 von ihnen im Gazastreifen leben, 40.000 in der Westbank und 120.000 in Israel. Und ob das Ermorden und Köpfen von Kindern nur Eigenmächtigkeit einzelner „Aktivisten“ war und nicht von ihrer Führung angeordnet, wie Nahostexperten mit erhobenem Zeigefinger spezifizieren, mag in Anbetracht einer Agenda, in der die Auslöschung Israels prinzipiell keine Altersbeschränkung kennt, egal sein. Auch dürfte es eher westliche Antizionisten als die Bürger Israels beruhigen, dass das verbriefte und in den Moscheen dieser Welt tausendfach wiederholte Ausrottungsprogramm zunächst mal nur ihnen und nicht allen Juden gilt. Kann es also eine bessere Gelegenheit geben, auf durch Juden begangenes Unrecht zu verweisen, als nach so einem frischen Judenpogrom? Das musste sich Slavoj Žižek wohl gedacht haben, andernfalls er nicht diesen Zeitpunkt für seine Philippika gewählt hätte.

Sooft er auch betonte, sich zum Existenzrecht Israels zu bekennen, Gegenschläge zu verstehen, die Massaker abscheulich zu finden und Schuld mitnichten zu relativieren – er tat es. Indem er der Solidarität mit einer Gesellschaft, die den schlimmsten antisemitischen Massenmord seit 78 Jahren erleben musste, indirekt unterstellte, den Rechtsruck, die schleichende Entdemokratisierung und die zweifellos kritikwürdige Palästinenserpolitik Israels nicht nur zu verdrängen, sondern zu rechtfertigen. Dies ist seine größte Sorge, und schlimmster Kollateralschaden sei nun die Einheitsregierung, als ob sich ein linkes Kabinett in solch einer Situation nicht zur selben Maßnahme genötigt sähe.

Žižek mag es drehen und wenden, wie er will, sein Sermon teils berechtigter Anwürfe zum falschen Zeitpunkt läuft darauf hinaus, Israel wegen 1400 bestialisch abgeschlachteter Israelis nicht Deckung dafür zu geben, sich von der ewigen Anklagebank auf die Klägerbank zu schleichen. Kein Missgeschick kann Israel widerfahren, ohne dass es dieses ausnützt. Israelis scheinen überhaupt natural born Ausnützer zu sein. Schamlos nützen sie die Massaker gegen das eigene Volk aus, um Einheitsregierungen zu bilden, ebenso wie sie den Holocaust ausgenützt haben, um ein fremdes Volk zu knechten. Und hatten nicht schon ihre Ahnen das über sie verhängte Verbot von Ackerbau und Handwerk dazu ausgenützt, sich mit „Diamantenhandel und Finanzgeschäften“ (Precht) zu bereichern? Kurzum: Wieder haben die Juden die Gelegenheit verpasst, aus einem Massenmord an ihnen zu lernen.
Man brauche sich nicht zu wundern, droht Žižek, wenn die einseitige Parteinahme für Israel noch mehr Antisemiten schaffe.

Moment, sind Antizionisten nun also doch Antisemiten? Oder werden sie es erst durch den Antisemitismusvorwurf? Und sollten sich linke Israelkritiker aus Trotz nun wirklich in Antisemiten verwandeln, dann bitte die Rechnung an die Knesset schicken. Jetzt haben uns die Israelis durch schamloses Ausnützen der Antisemitismuskeule am Ende doch noch in welche verwandelt. Schöne Bescherung und danke, Israel.

So meine ich das alles nicht, würde Slavoj Žižek erwidern. Doch seine Worte meinen es, und der Kontext, in dem er sie gesagt hat; sie senden Signale an alle, die sich in ihrer schlichten oder verzerrten Wahrnehmung eines komplizierten Konflikts von einem approbierten Philosophen bestätigt wissen. Für Žižek war es eine gute Rede, wie der Wiener Schriftsteller Doron Rabinovici replizierte, „denn alle reden über Žižek, niemand mehr über die Toten“.

Letzte Änderung: 24.10.2023  |  Erstellt am: 24.10.2023

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Kommentare

Bruno Mattes schreibt
Klarer und erkenntnisreicher als dieser arg bemühte und verschwurbelte Text ist das Interview mit Moshe Zuckermann auf www.youtube.com /watch?v=AUtfOq3oFAA. Vor 75 Jahren wurde der Staat Israel gegründet, mit kriegerischer Landnahme und Vertreibungen u.a. Hat sich da was geändert bis heute ? Hat dieser neue Staat über diesen Zeitraum je eine Zweistaatenlösung akzeptiert ? Oder haben Palästinenser kein adäquates "Existenzrecht" ? Nein, ich bin kein Antisemit. Dieses Ticket fungiert nur noch als verbaler Totschlag. Ich halte nur jede fundamentalistisch begründete Religion für idiotisch - und für mörderisch gefährlich.

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