Übersehen, überhört, vergessen
Ihrer Denkschrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier“ aus dem Jahr 1935 wurde „ungewöhnlicher Scharfblick“ und „geradezu prophetische Qualität“ attestiert. Elisabeth Schmitz (1893 – 1977) wurde in Hanau geboren und studierte Theologie, Geschichte und Philosophie in Berlin, wo sie bis 1943 lebte. Ihren aktiven Widerstand gegen das Hitlerregime hat man mehr als ein halbes Jahrhundert lang vollkommen ignoriert. Doris Stickler erinnert an eine oppositionelle Christin.
Manfred Gailus’ Buch „Mir aber zerriss es das Herz. Der stille Widerstand der Elisabeth Schmitz“
Die „lahmen, über und über in Watte gepackten Äußerungen der Kirchenbehörden“ stürzten Elisabeth Schmitz schon früh in Verzweiflung. Mit ihrem seismographischen Gespür für die drohenden Gefahren bat sie sechs Wochen nach Hitlers Machtergreifung Karl Barth um deutliche Worte. Der berühmte Theologe ließ sich damit bekanntlich Zeit. Sie selbst war von Anfang an eine der radikalsten und konsequentesten Stimmen in der Bekennenden Kirche (BK) und riskierte ihr Leben, um das Verfolgter zu retten. Doch das ist bis heute nur wenigen bekannt.
Dabei müsste ihr Name an vorderer Stelle stehen, wenn es um herausragende Gestalten des Kirchenkampfes geht. Der Zeitgeschichtler Manfred Gailus spricht von „partieller Erinnerungstrübung“ und liefert für das „nicht ganz uneigennützige Verschweigen eingeweihter Großtheologen“ eine plausible Erklärung: „Man duldete keine anderen Götter neben sich, schon gar nicht weiblichen.“ Zeitlebens bescheiden und öffentlichkeitsscheu, hat sich Elisabeth Schmitz gegen die Missachtung nie gewehrt. Ihrer Beerdigung in Hanau wohnten 1977 gerade Mal sieben Menschen bei.
Wie couragiert die promovierte Historikerin und Theologin in der Nazizeit handelte, dringt erst seit rund zehn Jahren ans Licht. Wenngleich das Ausmaß ihrer Verdienste nur noch lückenhaft zu ermessen ist – die meisten Zeitzeugen sind tot, ein Großteil der Hinterlassenschaften verloren – ist sich Gailus gewiss, dass man jene Frau, die „schlicht übersehen, überhört, vergessen“ worden ist, „über kurz oder lang in den protestantischen Heiligenstand“ erheben wird. Mit seiner 2010 veröffentlichten Schmitz-Biografie trägt der Berliner TU-Professor ein gutes Stück dazu bei.
Einen Meilenstein in der Schmitzforschung hatte 2004 schon Gerhard Lüdecke gesetzt. Als der pensionierte Richter im Keller einer Hanauer Kirchengemeinde den Inhalt einer verstaubten Aktentasche inspizierte, traute er seinen Augen kaum. Neben Briefen und Papieren hielt er das Original von Elisabeth Schmitz Denkschrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier“ in den Händen. Die wahre Urheberschaft hatte 1999 zwar bereits Schmitz ehemalige Schülerin und Freundin, Pfarrerin Dietgard Meyer, nachgewiesen. Die meisten „Experten“ aber ordneten den Text nach wie vor einer anderen Verfasserin zu.
Der Fund beseitigte nun jeden Zweifel. Die zwanzig eng getippten Manuskriptseiten sowie drei Briefe, die Schmitz nach dem Novemberpogrom 1938 an Helmut Gollwitzer sandte, zeugen für Lüdecke von „ungewöhnlichem Scharfblick“ und „vorausschauenden Deutungen von geradezu prophetischer Qualität“. So mahnte die Studienrätin bereits 1935 (!), dass es „keine Übertreibung ist, wenn von dem Versuch der Ausrottung des Judentums in Deutschland gesprochen wird“.“ Auch Gailus stuft die wenigen, noch erhaltenen Unterlagen der Vielschreiberin als das „Klarste und Klügste“ ein, „was zu dieser Zeit von Zeitgenossen überhaupt gesehen und gesagt werden konnte“. Die Bekenntnispfarrer, an die die Denkschrift verteilt worden ist, waren dafür offenbar blind – oder wollten es nicht erkennen.
Hätte Schmitz die 200 Exemplare namentlich gezeichnet, hätte man sie wenigstens nach Kriegsende nicht so schmählich ignorieren können. Sich als Autorin erkennen zu geben, war freilich viel zu gefährlich. Es grenzt ohnehin an ein Wunder, dass die Dissidentin nie in die Fänge der Gestapo geriet. Schon 1933 nahm Schmitz für mehrere Jahre eine befreundete Ärztin, die als evangelische Christin jüdischer Herkunft ihre Existenzgrundlage verloren hatte, in ihrer Wohnung auf. Dort wie auch in ihrem Wandlitzer Wochenendhaus gewährte sie noch etlichen anderen Verfolgten Unterschlupf und bewahrte sie vor der Deportation.
Das Hissen der Flagge und den Hitlergruß lehnte die Studienrätin ebenso standhaft ab wie die Mitgliedschaft im nationalsozialistischen Lehrerbund. Nach dem Pogrom vom 9. November quittiert sie ihren Schuldienst mit geradezu provozierender Offenheit und teilte der Behörde mit, sie könne den Unterricht nicht so geben, „wie ihn der nationalsozialistische Staat von mir erwartet und fordert“.
Im Frühjahr 1939 in den Ruhestand versetzt, verschrieb sich die damals 46-Jährige nun ganz dem Widerstand. In der Berliner BK gehörte Schmitz dem sehr aktiven Kreis allein stehender, hoch gebildeter und qualifizierter Frauen an und engagierte sich in der Dahlemer Gruppe, wo sie die gefährliche Aufgabe übernahm, Juden, die sich taufen lassen wollten, Religionsunterricht zu erteilen. Zudem half sie auf eigene Faust den Verfolgten wo immer sie konnte.
Im weltoffenen, liberalen Protestantismus zuhause – Schmitz studierte unter anderem bei den Theologen Adolf von Harnack und Ernst Troeltsch – litt sie unsäglich unter dem Versagen der Kirche. „Ich kann dann gar nichts anderes tun als voll bitterer Scham schweigen“, offenbarte sie sich einmal in einem Brief. Ausgebombt und schwer erkrankt, kehrte Schmitz 1943 in ihr Hanauer Elternhaus zurück. In ihrer Geburtsstadt unterrichtete sie nach dem Krieg an der Karl-Rehbein-Schule und lebte bis zum Tod zurückgezogen und unerkannt. Ihre imponierenden Taten blieben sowohl der Kirchengemeinde als auch dem Geschichtsverein verborgen. Es hat vermutlich auch nie jemand nachgefragt.
Was man Elisabeth Schmitz zu Lebzeiten vorenthalten hat, wird ihr nun posthum zuteil. Nach Lüdeckes Fund ließen die Stadt Hanau und die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck 2005 zu ihren Ehren einen Gedenkstein errichten. Als der amerikanische Filmemacher und Theologe Steven D. Martin 2008 von Elisabeth Schmitz Schicksal erfuhr, drehte er postwendend eine Dokumentation. Manfred Gailus verfasste 2010 dann die erste Schmitz-Biografie und verfolgt seither mit Genugtuung das „kontinuierliche Aufsteigen des Schmitzschen Sterns“.
In der BK einst „unbequeme Außenseiterin“ und „lästige Randfigur“, zeichne sie sich zunehmend als „historisch bedeutsame Ausnahmeerscheinung“ ab. Der Professor für Neuere Geschichte ist überzeugt, dass die äußerlich unscheinbare Person, für die das christliche Bekenntnis nie eine zu vernachlässigende Größe war, eine angemessene Würdigung als „protestantische Ikone des 20. Jahrhunderts“ erfahren wird. Dafür hat sich Gerhard Lüdecke tatkräftig eingesetzt. Da er den Namen Elisabeth Schmitz unter den „Gerechten der Völker“ vermisste, leitete der Jurist die notwendigen Schritte ein und sorgte dafür, dass die couragierte Frau in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem verewigt ist.
Letzte Änderung: 22.11.2021 | Erstellt am: 22.11.2021
Manfred Gailus Mir aber zerriss es das Herz. Der stille Widerstand der Elisabeth Schmitz
320 Seiten, gebunden
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2010