Präsident Macron im Machtpoker

Präsident Macron im Machtpoker

Frankreich vor den Parlamentswahlen

Wahl gewonnen, alles klar? Spieler, Gegenspieler, Nationalisten, Antidemokraten, Europäer, Frexiter, labile Links- und Rechtsbündnisse sind in Frankreich weiterhin wirksam. Sie treffen untereinander undurchsichtige Absprachen, und niemand weiß, was der Präsident der Republik, Emmanuel Macron, vorhat. Jutta Roitsch hat sich die politische Situation Frankreichs nach der Präsidentschaftswahl angesehen.

Frankreich vor den Parlamentswahlen: drei starke Bewegungen statt Parteien

Und jetzt? Ohne Pomp, roten Teppich und die Ode an die Freude ist Emmanuel Macron in seine zweite fünfjährige Amtszeit als französischer Präsident gestartet. Der revolutionäre Hauch, den der ehemalige Investmentbanker und Wirtschaftsminister unter dem Sozialisten Francois Hollande vor Jahren versprach, hat sich verflüchtigt. Seine Bewegung La Republique En Marche (LRM), die unter seiner jupiterhaft genannten Führung die Französinnen und Franzosen frohgesinnt und vereint voranbringen sollte, hat er jetzt (wie bereits bei den Europawahlen) landesweit umtaufen lassen in „Renaissance“. Das klingt nicht nach einem neuen Aufbruch, sondern eher nach einer Wiedergeburt von Altbewährtem, vor allem altbewährten politischen Mitstreiterinnen und Mitstreitern.

In kleinen, verschwiegenen Zirkeln suchte Macron seit seiner Wiederwahl nicht nur nach einem neuen Premierminister (die Wahl fiel nach mehreren Absagen auf die 61jährige Arbeitsministerin Elisabeth Borne), sondern sortierte selbst die Schar derjenigen aus, die für die „Renaissance“ in die Parlamentswahlen ziehen sollen. Darunter ist auch die neue „Première“, die aus den Kaderschmieden der Republik und der Wirtschaft emporgestiegen ist und sich einer demokratischen Wahl noch nie gestellt hat. Jetzt soll sie sich im Calvados bewähren. Für seine künftige Regierungsmehrheit ließ der Präsident eine Föderation der konservativ-liberalen Mitte mit dem Namen „Ensemble!“ schmieden. Nahezu verschwunden sind in diesem Club Traditionsnamen von politischen Parteien. Sie wurden ersetzt durch Bewegungsmelder: „Renaissance“, „Horizons“, „Agir ensemble“ oder „MoDem“.

So etwas Ähnliches wie eine Wiedergeburt spielt sich kurz vor den Parlamentswahlen zur Nationalversammlung am 12.und 19. Juni auch auf der Linken ab: Beschworen wird eine Volksfront von den Sozialisten bis zu den Kommunisten jedweder Färbung, die es im vorigen Jahrhundert in Frankreich dreimal (1936, 1972 und 1995) gegeben hat. Doch nicht die Sozialisten mit der Rose in der geballten Faust trieben das Bündnis voran, sondern der linksradikale Volkstribun Jean-Luc Mélenchon von „La France Insoumise“, den „Unbeugsamen“.

Sein erklärtes Ziel für die “Nouvelle Union populaire écologique et sociale“ (Nupes) ist es, eine Mehrheit im Parlament von 289 Abgeordneten zu bekommen, um den von ihm verachteten Präsidenten zu einem politischen Zusammenleben, einer „Cohabitation“, zu zwingen: Nach der Verfassung der V. Republik ernennt der Präsident zwar den Premier, aber dieser braucht bei Gesetzesvorhaben, also zum praktischen Regieren, eine Mehrheit in der Nationalversammlung. Die Kampfansage des redegewaltigen 70-jährigen Mélenchon ist verwegen: Die „Unbeugsamen“ verfügten bisher über 17 Sitze.

Dem Unterfangen haben sich im Mai die Grünen mit verschiedenen Unterbewegungen (génération.s zum Beispiel), die Kommunisten und, heftig umstritten, dennoch mehrheitlich, die Sozialisten (PS) angeschlossen. Diese neuen Unionisten verteilten die 577 Wahlbezirke unter sich wie Bonbons: 100 für die Grünen, 70 für die Sozialisten, 50 für die Kommunisten, der Rest für Mélenchon. Das viel beschworene Volk, die Wahlberechtigten, schrumpfte auf eine Wahlstatistik zusammen, denn beim Feilschen um die Bezirke drehte sich alles um das Zauberwort „gagnable“, gewinnbar: Die gewinnbaren Wahlkreise sicherten sich die Parteioberen, die weiblichen wie männlichen Funktionäre und Unterhändler dieser Volksunion, die das historisch belastete Wort „Front“ vermieden. Die Franzosen haben für diese Art, Wahlkreise zu besetzen, den vielsagenden Begriff „parachuter“: Da segeln Frauen und Männer mit dem Fallschirm (ihrer Parteien oder Bewegungen) von oben herunter auf die Erde, und das Volk sieht verwundert zu, wer da aus dem Himmel fällt. Manche sind bekannt, manche sind noch nie vor Ort gesehen worden. Vor allem bei den lokal noch immer gut verankerten Sozialisten wächst der Zorn, der Frust und das Rebellentum gegen „Kuckuckseier aus Paris“ (so der Bürgermeister von Rouen in le monde vom 17. Mai). Sozialistische Dissidenten kandidieren in Paris und andernorts. Ob die PS sie gewähren lässt oder rauswirft? Ob die einstige Volkspartei diese Volksunion übersteht? Zweifel sind angebracht. Und der „Unbeugsame“ selbst? Er kandidiert nicht für das Parlament, gibt sich aber auf Wahlflyern örtlicher Kandidaten schon als Premier aus.

Im dritten Block liefern sich die Rechtsextremen vom „Rassemblement National“ der Marine le Pen und der „Wiedereroberer“ (Reconquête!) des radikalen Eric Zemmour giftige Auseinandersetzungen um Wahlkreise und Kandidaten. Noch am Abend der Präsidentenwahl hatte der Polemiker und einstige Kolumnist des konservativen „Figaro“ gegen die unterlegene Kandidatin Marine geätzt: Zum achten Mal habe eine Niederlage bei Präsidentenwahlen den Namen le Pen getragen. Sein Vorschlag, für die Parlamentswahlen im Juni eine „Patriotische Allianz“ zu bilden, wies der RN empört zurück. Auch wenn die Rechtsextremen im bisherigen Parlament nicht einmal über den Fraktionsstatus von 15 Abgeordneten verfügten, setzen sie jetzt auf die eigene Kraft und Stärke. In allen 577 Wahlbezirken in und außerhalb des Hexagone (darunter zehn für die Auslandsfranzosen von Portugal bis Israel) tritt der RN mit Kandidatinnen und Kandidaten an. Keiner oder keine aus dem engeren Umfeld Zemmours ist dabei, wohl aber weitere le Pens, wie die ältere Schwester Marie-Caroline. Nach längerem Zieren hat sich auch Eric Zemmour entschlossen, in Saint Tropez zu kandidieren. Gegen die breiten Bündnisse der Konservativen-Liberalen und der Volksunion, auch der erstarkten Rechtsextremen, die da und dort „unter der Hand“ Zemmouristen unterstützen wollen, dürfte er selbst keine Chancen haben: Das komplizierte französische Wahlsystem mit Hürden und vorgeschriebenen Prozentsätzen lässt Minderheiten oder Einzelkämpfern kaum Raum: Ohne Bündnisse kommt spätestens am 19. Juni keiner und keine durch.

Wie konnte es zu diesen drei starken Blöcken kommen, die die Spaltung des Landes nicht nur widerspiegeln, sondern weiter vertiefen? Erbitterte Kampagnen innerhalb und außerhalb des Parlaments zeichnen sich bereits ab: Bei der Rentenfrage, der Kaufkraft angesichts der hohen Inflation, der Industriepolitik, dem Klimawandel mit und ohne Atomkraft, der Zukunft Europas im und nach dem Angriffskrieg in der Ukraine. Die politische Teilung in drei Lager, die sich abgrenzend, gegenseitig verachtend und kompromisslos gegenüber stehen, sind das Ergebnis der „présidentielle“, der Präsidentenwahlen. Daher lohnt ein Rückblick.

Der Sieg Emmanuel Macrons in der zweiten Runde, der vor allem in Brüssel und anderen Hauptstädten Europas Erleichterung ausgelöst hat, ist ein mehr als zweischneidiger, wie die konkreten Zahlen belegen. Von den knapp 48 Millionen wahlberechtigten Männern und Frauen haben 13 Millionen nicht gewählt. Von den 35 Millionen, die Zettel in die Wahlurnen gesteckt haben, kreuzten nur 32 Millionen den Namen Marine le Pen oder Emmanuel Macron an: 18,7 Millionen wählten Macron, 13,2 le Pen. Der erste verlor im Vergleich zu seiner Wahl vor fünf Jahren zwei Millionen Stimmen, le Pen gewann zwei Millionen. Dieses Ergebnis zeigt ungeschönt, dass die Begeisterung unter den Franzosen und Französinnen für Macron sehr begrenzt, die für le Pen gewachsen ist, aber für einen Machtwechsel zugunsten der Rechtsextremen nicht reicht. Das Ergebnis deutet auch an, dass der Untergang der bisherigen Parteienlandschaft von den Sozialisten bis zu den Republikanern besiegelt zu sein scheint: Anne Hidalgo, die Bürgermeisterin von Paris, erreichte für die PS klägliche 1,7 Prozent im ersten Wahlgang, Valérie Pécresse von den Republikanern landete ebenfalls weit abgeschlagen unter fünf Prozent und sammelt nun Spenden, um die Wahlkampfkredite von fünf Millionen Euro bezahlen zu können. Einen fünfstelligen Scheck von Nicolas Sarkozy wies sie empört zurück: Der ehemalige republikanische Präsident hatte die Kandidatin bis zuletzt ignoriert und sich auf die Seite Macrons geschlagen.

Am Wahlabend selbst räumte der Präsident unter dem Eiffel-Turm realistisch ein, dass er von vielen nur gewählt worden sei, um die Rechtsextremen zu verhindern. Er wirkte bei den jüngsten öffentlichen Auftritten dünnhäutiger, manchmal auch nahbarer. Er versprach und versprach es wiederholt, sich und seinen autoritären Regierungsstil zu ändern. Bisher gibt es dafür keinen Beleg. Im Gegenteil: Die Machtstrukturen im Elysée-Palast scheinen sich eher verfestigt zu haben. Generalsekretär Alexis Kohler, eine umstrittene, schillernde graue Eminenz, bleibt unangefochten auf seiner Schlüsselstellung als engster Vertrauter Macrons. Der baut um sich herum auf absolute Loyalität. Das wirkt wie ein Schutzwall und ein Zeichen von Schwäche. Ein Beleg dafür ist die Regierungsbildung: Einen Monat brauchte Macron, um nicht nur mit Elisabeth Borne eine neue „Premiére“ zu finden, sondern auch 27 Ministerinnen und Minister zu ernennen oder zu entlassen. Das Kabinett, in den Medien „Borne 1“ genannt, besteht überwiegend aus Vertrauten, Wegbegleiterinnen und Erfahrenen aus den politischen Kaderschmieden der Science Po, der Hohen Schulen oder der Privatwirtschaft. Die wichtigen Posten (Innen, Wirtschaft, Justiz) behalten die bisherigen Minister. Nur für einen zentralen innenpolitischen Posten riskierte Macron viel: Für die nationale Erziehung und die Jugend ernannte er den schwarzen Historiker und ehemaligen Professor an der Science Po, Pap Ndiaye (57), Bruder der auch in Deutschland bekannten Schriftstellerin Marie NDiaye. Der Wissenschaftler, den der Präsident vor einem Jahr zum Direktor des Museums für Immigrationsgeschichte ernannt hatte, verfügt über keinerlei politische Erfahrung. Seine Ernennung steht für die von Macron immer wieder beschworene französische „republikanische Meritokratie“: Aufstieg auch aus schwierigsten Verhältnissen durch Leistung. Dieses Signal soll Ndiaye der jungen Generation in den Banlieues senden und sie abhalten, die „Volksunion“ und Mélenchon zu wählen.

Das ist im Vorfeld der Wahlen durchsichtig. Und könnte eher weiter polarisieren.

Dazu gehört, dass es Macron im eigenen konservativ-liberalen Lager nicht gelungen ist, alle Strömungen, Bewegungen und eigenwilligen politischen Köpfe in der „Renaissance“ zu versammeln. Die Föderation „Ensemble!“, die der Präsident der bisherigen Nationalversammlung, Richard Ferrand (früher einmal PS), in mühseligen Gesprächsrunden erreichte, ist ein Zweckbündnis, in dem sich konservative Republikaner, ehemalige Sozialisten und Liberale wie Francois Bayrou (MoDem) oder Eduard Philippe („Horizons“) Autonomie bewahren und eigene Machtoptionen sichern. Sie verweigerten sich einer Auflösung und Unterordnung unter „Renaissance“. Sie setzten im Gegenteil in ihren jeweiligen Bewegungen auf starke, möglichst lokal verankerte Persönlichkeiten. Bayrou und vor allem Philippe, der Ex-Premier von Macron und Bürgermeister Le Havres, testen bei den bevorstehenden Wahlen aus, mit welcher parlamentarischen Unterstützung Macron noch rechnen kann.

Auch auf der Linken haben sich nicht nur die „Unbeugsamen“ die Wahlergebnisse der „présidentielle“ genau angesehen. Die knapp acht Millionen Stimmen für Jean-Luc Mélenchon in der ersten Runde kamen von Nichtwählern, von der jungen Generation, vor allem aus Universitätsstädten, aber auch aus den Vorstädten (Banlieues) mit einer hohen Einwanderung aus den ehemaligen französischen Kolonien und jetzigen Überseedepartements, in denen es nach wie vor kommunistische, sozialistische oder ökogrüne Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, Präsidenten von Regionen oder Departements gibt. Der deutliche Rechtsruck auf der nationalen Ebene täuscht hinweg über die vielen sozialistisch-grünen Flecken im Land, über die seit den Regionalwahlen im vergangenen Jahr häufigeren links-ökologischen Koalitionen in zahlreichen Universitätsstädten wie Grenoble oder Marseille.

Nur so ist der Schub und Schwung der Sozialisten wie der Grünen zu verstehen, sich den „Unbeugsamen“ zu beugen und in die Parlamentswahlen gemeinsam als Volksunion zu starten. Ein Zweckbündnis auch hier nach dem katastrophalen Abschneiden im April. Doch es ist ein riskantes, weniger für Mélenchon denn für die Grünen und vor allem die Sozialisten.

Begründet ist dieses Risiko in der politischen Plattform, die Mélenchon vor allem mit Julien Bayou, dem nationalen Sekretär der Europäischen Ökologen-Die Grünen (EELV) ausgehandelt und dem sich später für die PS deren erster Sekretär Olivier Faure angeschlossen hat. In dem gemeinsamen Kommuniqué, endgültig verabschiedet am 1. Mai und verkündet einen Tag später, wird nicht nur die „ungerechte“ und „brutale“ Politik Macrons angegriffen, sondern das Ziel dieses Wahlkampfs verkündet, Mélenchon zu einer Mehrheit zu verhelfen, damit er Premierminister wird.

Dies ließe sich angesichts der bisherigen Mehrheitsverhältnisse als einen geschickten Mobilisierungsgag abtun: Wahlkampf kann der alte Haudegen, der 2008 die Sozialisten verließ. Weit darüber hinaus aber übernimmt die Volksunion ohne Abstriche Forderungen der „Unbeugsamen“: Eine Rente für alle mit 60 (Macron und Borne wollen 65), einen Nettomindestlohn (Smic) von 1500 Euro, gegen die Inflation einen Preisstopp für Grundnahrungsmittel. Die Unionisten bevorzugen Mélenchons Idee „für eine 6. Republik, um mit dem Präsidialsystem Schluss zu machen und neue Rechte einzuführen“, zum Beispiel Referenden auf der Basis von Bürgerinitiativen. Durchgedrungen ist auch der Euroskeptizismus der Linksextremen. „Ungehorsam“ dürfe ausgeübt werden gegen Brüsseler Beschlüsse, die nicht im französischen Interesse (zum Beispiel in der Agrarpolitik oder bei Verstaatlichungen) lägen. Altkämpfer wie der Grüne Daniel Cohn-Bendit oder der Sozialist Lionel Jospin gehen auf die Barrikaden und schlagen Alarm.

Doch jenseits vom Wahlkampfgetöse und den Erfolgschancen dieses linken Zweckbündnisses ist die politische Ausrichtung der „Volksunion“ ein Signal nicht nur an Emmanuel Macron mit seiner Weiter-so-Regierung, sondern an die französische Gesellschaft insgesamt, die sich bei diesen Wahlen aus Protest oder Missfallen nicht enthalten kann, sondern sich 577mal entscheiden muss für einen Kandidaten oder eine Kandidatin der drei Blöcke von rechtsextrem über konservativ-liberal bis ziemlich links.

Die Volksunion will das bisher eher schwache Parlament zu einem „parlement de campagne“ machen. Mit oder ohne Mélenchon. Die le Pens streben, vermutlich erfolgreich, mindestens 15 Mandate an, um eine Fraktion bilden zu können. Macrons Zweckbündnis will die Mehrheit, aber „Ensemble!“ hüllt sich programmatisch in Schweigen. Dennoch: Die Themen sind klar und die Fronten auch. Es dürfte in den nächsten fünf Jahren hart zugehen. Aber der Ort der Auseinandersetzung wäre dann die demokratisch gewählte Nationalversammlung und nicht die Straße oder rechtslastige, populistische Fernsehsender mit ihren polemischen bis rassistischen Talkshows. Dies wäre ein Gewinn für die politische Kultur im Land der französischen Revolution.

Letzte Änderung: 23.05.2022  |  Erstellt am: 22.05.2022

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