Mehr als erwartet
Zehn Prozent der 2,7 Millionen Einwohner Katars sind Einheimische, 90 Prozent sind Arbeitsemigranten ohne katarische Staatsbürgerschaft, die, so ist zu lesen, größtenteils menschenunwürdig behandelt werden und sich teilweise in moderner Sklaverei befinden. Von der Diskussion, die vom Sportethischen Forum der EKD und der Evangelischen Akademie veranstaltet wurde, berichtet Doris Stickler.
Verzweifelte Bauarbeiter, unsägliche Unterkünfte, nicht gezahlte Löhne und eingezogene Pässe. Als Dietmar Schäfers 2013 zum ersten Mal die Situation der Wanderarbeiter in Katar inspizierte, war er mehr als entsetzt. Seither reiste der Vizepräsident der globalen Gewerkschaftsföderation BHI-Bau- und Holzinternationale wiederholt in das Austrägerland der Fußballweltmeisterschaft 2022 und kann Fortschritte attestieren.
Die BHI habe mit der katarischen Regierung intensiv verhandelt und einiges erreicht, berichtete er bei der Online-Diskussion „Menschenrechte stärken – Zur Verantwortung des Sports“. Das Sportethische Forum der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hatte in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Akademie Frankfurt die Diskussion organisiert, um die lauter werdenden Rufe nach einem WM-Boykott zu versachlichen.
Angesichts der erzielten Fortschritte wie verbesserte Arbeitsbedingungen, Einführung des Mindestlohns und der Unterzeichnung von Menschenrechtsabkommen hält Dietmar Schäfers einen Boykott für kontraproduktiv. „Er würde letztlich den Arbeitern schaden und die im Land angestoßenen Entwicklungen wieder zurückdrehen“, befürchtet er. „Europäern mögen die bisherigen Schritte klein erscheinen, für ein Land wie Katar sind sie groß.“
Die Hauptdefizite sieht der IG-Bau-Gewerkschaftler bei den Kontrollen. Im Land gebe es nur 200 Personen, die auf den Baustellen die Wahrung der Vorgaben überprüfen. In dieser Sache werde „eine BHI-Delegation im Juli mit den Kataris Gespräche“ führen. Eine Mitschuld an Schieflagen schreibt er auch den multinationalen Unternehmen zu. „Die Bauaktivitäten von insgesamt 200 Milliarden Dollar sind für sie ein riesen Geschäft.“
Um desolate Arbeitsverhältnisse hätten sie sich lange nicht geschert, sondern sich sogar daran beteiligt. Dass diesbezüglich „mehr und mehr Firmen ihre Politik ändern“, kann Dietmar Schäfers nur begrüßen. Kritik übte er überdies am Verhalten der FIFA. Der Weltfußballverband habe 2010 die WM an Katar vergeben, damit Verantwortung übernommen, aber keinerlei Auflagen gemacht.
Seit die FIFA mit Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften kooperiert, sei allerdings einiges in Bewegung gekommen, weiß Sylvia Schenk, die bis 2020 im unabhängigen Menschenrechtsbeirat des Verbandes tätig war. „Die FIFA hat gelernt, dass man mit Menschenrechtsverstößen anders umgehen muss. Vor zehn Jahre hätte sie jegliche Verantwortung noch vehement zurückgewiesen.“
In anderen Verbänden beobachte sie ähnliche Entwicklungen. Selbst das IOC sei dabei, etwas in Gang zu setzen – bislang freilich nur auf Papier. Als Sylvia Schenk 2018 Baustellen in Katar besuchte, konnte sie immerhin bilanzieren: „Es ist mehr passiert als erwartet.“ Dennoch sei nicht alles in Ordnung. „Theoretisch könnte mit dem Schlusspfiff beim Endspiel auch wieder alles zusammenbrechen“, räumte sie ein. „Das glaube ich aber nicht und bin optimistisch.“
Auf alle Fälle sei es wichtig, „auch nach der WM zu schauen, dass es weiter in die richtige Richtung geht“. Zumal in Katar viele Menschen Veränderungen wollen und deren Durchsetzung unterstützen. Da erst das Sportereignis die Missstände überhaupt ins Blickfeld rückte, lehnt die Juristin einen WM-Boykott entschieden ab. „Vor der Vergabe der WM hat sich niemand um Menschen- und Arbeitsrechte in Katar gekümmert.“
Zur Freude der ehemaligen Leichtathletin profitieren auch die Frauen. „Katar hat eine Frauennationalmannschaft aufgestellt, Schulsport für Mädchen eingeführt und einen Kongress über den Zusammenhang von Bewegung und Frauengesundheit abgehalten.“ 2010 sei Katar das einzige Bewerberland mit einer Frau in der Delegation gewesen, erinnerte Sylvia Schenk.
Der stellvertretende Direktor des Human Rights Watch Deutschland Büros, Wolfgang Büttner, zweifelt zwar am Willen Katars, die Reformprozesse voll umzusetzen. „Die Regierung macht noch zu wenig.“ Dennoch ist es auch für ihn keine Frage: „Wenn man jetzt die WM boykottiert, wird sich gar nichts ändern.“ Das Sportevent habe für Wanderarbeiter zumindest Verbesserungen wie freie Ausreise oder den Wechsel von Jobs und Arbeitgeber angestoßen.
„Gewerkschaften, Human Rights Watch, Verbände und die EU müssen weiter dafür sorgen, dass die Reformen nicht verpuffen“, stellte er klar. Wie fragil noch alles ist, zeige die Verhaftung eines kenianischen Arbeiters, der sich für Arbeitsrechte engagierte. Zudem werde der Mindestlohn immer wieder umgangen, fehlten Druckinstanzen wie Gewerkschaften, gebe es keine Pressefreiheit, müssten Mitglieder der LGBTIQ-Community harte Strafen fürchten.
Wenngleich in Katar noch vieles im Argen liegt, erkennt Wolfgang Büttner die eingeleiteten Schritte an. In viele Länder kämen Organisationen wie Human Rights Watch erst gar nicht rein. Bei der von Martina Knief moderierten Veranstaltung sprach die Sportreporterin des Hessischen Rundfunks auch einen Artikel im „Guardian“ an, der die Boykottaufrufe in die Höhe schnellen ließ.
Die britische Tageszeitung hatte Ende Februar von mehr als 6.500 Toten seit Beginn der WM-Bauarbeiten berichtet. „Ich kann die Zahl weder bestätigen noch bestreiten“, kommentierte Dietmar Schäfers diese Meldung und zeigte sich skeptisch. Durch Arbeitsinspektoren des BHI, die die WM-Baustellen in Katar kontrollieren, wisse er konkret von vier Todesfällen im vergangenen Jahr. In Deutschland seien 2020 auf Baustellen 97 Menschen ums Leben gekommen, weltweit 6.500.
Letzte Änderung: 13.08.2022 | Erstellt am: 13.08.2022
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