Magdeburg und der Weltmarkt

Magdeburg und der Weltmarkt

Rechtsradikalismus und eine Vision
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Wir tun schwerlich etwas gegen unsere Interessen. Umso mehr verwundert, wie viele Menschen eine völkisch-nationale, rechtsradikale Partei wählen, die diese Interessen gefährdet. Man mag Armut, Angst, Futterneid und Menschenverachtung dafür verantwortlich machen, – die rückwärtsgewandte Katastrophenbereitschaft bleibt rätselhaft. Peter Kern sieht eine Chance für einen Gesinnungswechsel durch die Machteliten.

Wen die aktuellen Umfragezahlen für die AfD überraschen, der hat sich lange schon in die Tasche gelogen. Seit vielen Jahren gibt es die sogenannte Leipziger Mittestudie, eine alle zwei Jahre durchgeführte Untersuchung, die letzte unter dem Titel Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten publiziert. Das Wort Mittestudie ist eigentlich ironisch zu nehmen; die Leipziger Sozialforscher konstatieren, die berühmte Mitte der Gesellschaft fühle sich am rechten Rand ganz gut aufgehoben. Wie auf den von der Demoskopie dokumentierten und sich vielleicht auch bald wieder wahlarithmetisch niederschlagenden Erfolg der AfD reagieren? Der Autor dieses Artikels sieht die deutschen Konzerne in der Pflicht. Die CEOs der DAX-Unternehmen und ihre Verbände als Antifa? Sicherlich nicht, aber als benötigte Stimme der Öffentlichkeit, die der rechten Partei den Weg nach ganz oben verlegen kann.
Die genannte Studie macht die weit verbreitete autoritäre Charakterstruktur sichtbar, das antidemokratische Potenzial, an das die AfD erfolgreich andockt. Den Satz Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land unterschreiben 43 Prozent der Ost- und 37 Prozent der Westbürger. Wir brauchen starke Führungspersonen, damit wir in der Gesellschaft sicher leben können finden 27 Prozent der Bundesbürger. Dass die Bundesrepublik …durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet ist, glauben acht Prozent. Letztere Zahl erscheint beinahe gering; aber es ist bloß die Sicht der Eingefleischten. Dazu sind noch die latente Zustimmung signalisierenden 18 Prozent der Befragten zu addieren. Die Ausländer kommen hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen: Elf Prozent stimmen dem Satz völlig, weitere 16 Prozent mit leichter Einschränkung zu.

Zwar ist der klassische Antisemitismus in Deutschland tabuisiert, aber dieses Tabu verdeckt ihn bloß, bringt ihn aber nicht zum Verschwinden. Die Fragetechnik der Leipziger Soziologen macht das scheinbar Verschwundene sichtbar. Es macht mich wütend, dass die Vertreibung der Deutschen und die Bombardierung deutscher Städte immer als kleinere Verbrechen angesehen werden – das ist eine solche Frage. 31 Prozent der Deutschen sehen dies so. Israels Politik in Palästina ist genauso schlimm wie die Politik der Nazis im Zweiten Weltkrieg. 19 Prozent manifeste, 30 Prozent latente Zustimmung. Die Sozialpsychologie spricht von einer Umweg-Kommunikation. Wer den Umweg wählt, vermeidet es, mit dem Tabu zu kollidieren und die gesellschaftlich unerwünschte Antwort zu geben.

Sobald die Leipziger mit ihren Zahlen auf dem Markt sind, läuft alle zwei Jahren das gleiche Ritual ab: Der Bote bekommt den Unmut für seine Botschaft ab. Die FAZ geht immer vorneweg, und neuerdings trottet eine mäßig interessante Zeitschrift mit dem großen Namen Cicero hinterher. Dort war von der Zauberwelt der Villa Kunterbunt aus dem Hause der „kritischen Theorie“ zu lesen; ihr entstamme das hyperkritische Zeug. Es ist die sich gerne als Qualitätsjournalismus feiernde konservative Presse, die aus Gründen der Selbstberuhigung zur Politik des Vogels Strauß neigt. Die deutschen Konservativen haben mit Leidenschaft die Historikerdebatte gegen Habermas und Konsorten geführt; Martin Walser hat ihnen mit seiner Paulskirchenrede aus der Seele gesprochen. Mittlerweile ist die elaborierte rechte Ideologie im restringierten Code der AfD angelangt, aber keiner will’s gewesen sein.

Die rechtsextreme AfD wäre als absolut schädlich für den ökonomischen Reichtum dieser Gesellschaft darzustellen. An diesem Reichtum partizipieren die Gesellschaftsmitglieder in ganz ordentlichem Maß. Diese Gefährdung herauszustellen, ist gegenwärtig die einzig erfolgversprechende Strategie, und glaubwürdig lässt sie sich nur von mit ökonomischer Macht ausgestatteten Personen vertreten. Die Eliten, wer immer das sein soll, werden von der AfD gerne attackiert. Wenn die richtigen Eliten diese Partei attackieren, werden Frau Weidel und Herr Höcke an Attraktivität rasch verlieren. Sich mit den ökonomisch Mächtigen anzulegen, verbietet ihnen ihr politischer Instinkt. Die mit ökonomischer Power versehenen Manager der deutschen, am funktionierenden Export interessierten Konzerne haben für einen neuerlichen Nazismus keine Verwendung. Er erscheint ihnen geradezu als geschäftsschädigend. Das ist die Achillesferse der Rechten. Sie gilt es zu durchtrennen, um ihr Projekt lahm zu legen.

Es gibt im Lager der Unternehmer durchaus Leute, die für eine solche Strategie zu gewinnen sind. Der frühere Vorstandsvorsitzende der Daimler AG war nicht amused über die sich in seinem Haus breit machende rechtsradikale Truppe, die bei der letzten Betriebsratswahl antrat und einige Mandate errang. Ein Bild von schönen Limousinen, leider gebaut in einem braun angehauchten Sindelfingen, behagte ihm nicht. Wir verfolgen diese Entwicklung mit Sorge, ließ er sich vernehmen. Der alte Faschismus war funktional für die ökonomisch Mächtigen, der drapierte neue ist es nicht. Als es vor ein paar Jahren in Chemnitz zu Jagdszenen auf Ausländer kam, erklärte die dortige Industrie- und Handelskammer, man sei auf der ganzen Welt aktiv und deshalb auf offene Märkte, stabile Handelsbeziehungen und gleichsam darauf angewiesen, in anderen Ländern der Welt willkommen zu sein…Fachkräfte kommen nur, wenn ein Klima der Weltoffenheit herrscht. Gleiches gilt für Unternehmen.

Ein in Dresden produzierender Chiphersteller erklärte im Handelsblatt folgendes: Es sei derzeit nicht einfach, einen Ingenieur aus dem Ausland davon zu überzeugen, nach Sachsen zu ziehen und seine Familie mitzubringen. Wir müssen ihm erklären, dass die Region Dresden sicher ist, dass Kinder alleine zur Schule gehen können und man durch das Tragen eines Kopftuches nicht ausgegrenzt wird. Und weiter: Für die Sicherung des Wohlstandes in Sachsen ist sowohl die Offenheit gegenüber ausländischen Fachkräften als auch das Bekenntnis zur Internationalität existenziell. Eine auf der Befragung von 600 Unternehmen beruhende Studie aus Halle kam zu dem Ergebnis, ostdeutsche Betriebe bekämen sechsmal mehr Absagen in Bewerbungsgespräche als Westfirmen. Rassismus macht das Geschäft kaputt. Die Studie stammt aus einer Zeit, als der sogenannte Fachkräftemangel noch gar nicht richtig akut war; die Verhältnisse im deutschen Osten dürften sich kaum verbessert haben.

Wir müssen aufpassen, dass wir die Menschen nicht komplett an die Radikalen verlieren, so der Chef von Jenoptik. Ich sehe schon das Risiko, dass unsere Demokratie hier in Gefahr geraten könnte, sagte er neulich der Süddeutschen Zeitung. Der Konzernchef interpretiert seine wirtschaftlichen Zahlen politisch, und dabei kommt nichts Erbauliches heraus. In der optischen Industrie wird es sich wie in den großen, tonangebenden Branchen verhalten: Mehr als die Hälfte der Beschäftigten sind dem Exportgeschäft zuzuordnen, und die Länder der Europäischen Union sind so wichtig wie der chinesische oder der US-amerikanische Markt. Nationalistische Töne, wie die aus Magdeburg, kann man nicht gebrauchen.

Man kontrastiere die Sicht der Unternehmer mit dem Weltbild der in der Mittestudie erfassten Befragten: 18 Prozent der Ostdeutschen sehen sich als Mitglieder einer Nation an, die anderen überlegen ist; neun Prozent der Westdeutschen unterliegen dem gleichen Wahn. Mut zu einem starken Nationalbewusstsein wünschen sich 41 Prozent der Ostdeutschen und 33 Prozent hegen im Westen denselben Wunsch. Hart und energisch möchten 28 Prozent der Ost- und 18 Prozent der Westdeutschen die Interessen Deutschlands durchgesetzt sehen. Mehr als 50 Prozent der Befragten mit der Parteipräferenz AfD stehen zu ihrem Ausländer raus; das kann nicht überraschen. Eher schon überraschend ist es, dass sich Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft und Xenophobie keineswegs ausschließen.

Ein Ende der Europäischen Union und ihrer gemeinsamen Währung wäre das Ende der Ambition, in der ökonomischen Champions League um die Meisterschaft mitzuspielen. Den drohenden Abstieg den AfD-Anhängern unter die Nase reiben, ist das einzige Argument, das sie überzeugen kann. Das Argument ist im Wortsinn natürlich keins. Wäre die AfD-Propaganda im Wesentlichen rational angelegt, könnte man sich auf Argument und Widerlegung beschränken. Aber Parteitagsbeschlüsse sind nur die Oberfläche, hinter der die psychische Schicht liegt, an welche die Hetzpropaganda anknüpfen will. Die AfD-Propagandisten haben einen feinen Instinkt für die niedrigen Instinkte, die in den Individuen schlummern.

Adorno, in einem Rundfunkvortrag einmal der Frage nachgehend, wie den für Verhetzung anfälligen Menschen zu begegnen sei, nannte als das wirksamste Gegenmittel de(n) durch seine Wahrheit einleuchtende(n) Verweis auf ihre Interessen und zwar auf die unmittelbaren…Erinnert man die Menschen ans Allereinfachste: dass offene oder verkappte faschistische Erneuerungen…auf Katastrophenpolitik hinauslaufen, so wird sie das tiefer beeindrucken als der Verweis auf Ideale oder selbst der auf das Leid der anderen, mit dem man ja…immer verhältnismäßig leicht fertig wird.

Vor wenigen Jahren äußerte sich der oberste Boss der Siemens AG auf seinem Facebook-Account so: Lieber Kopftuchmädchen als Bund Deutscher Mädchen. Frau Weidel schade dem Ansehen Deutschlands in der Welt. Will man die AfD ins Abseits stellen, wird man an den Bossen nicht vorbeikommen. Die müssen gegen die neulackierten Braunen Farbe bekennen. Sie dazu zu veranlassen, wird nicht einfach sein. Als Joe Kaeser, der zitierte CEO, seinen Kopftuch-Spruch absetzte, blieb die Unterstützung seiner Kollegen aus. Seine Einschätzung damals: Die Vertreter der Industrie, soweit sie Konsumgüter für den deutschen Markt produzieren, würden sich von der AfD nicht offen distanzieren, weil sie als Kaufmänner dächten. Umfrageergebnisse von 20 Prozent, dazu eine Dunkelziffer an Sympathisanten, da käme leicht ein Viertel der deutschen Gesellschaft zusammen. AfD-Distanzierung? Das kann man sich nicht leisten, fasste Joe Kaeser die Reaktion seiner DAX-Kollegen zusammen.

Die demokratischen Parteien, die Kirchen, die Gewerkschaften sind jetzt gefordert, den Unternehmern Courage abzuverlangen.

Letzte Änderung: 02.08.2023  |  Erstellt am: 02.08.2023

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Kommentare

Matthias Schulze-Böing schreibt
Adorno-Statement hin oder her (er hatte in gesellschaftspolitischen Fragen ja gelegentlich durchaus auch schlicht-materialistische Deutungsmuster parat) - ist das nicht allzu utilitaristisch gedacht? Es wäre ja schön, wenn die Distanzierung der kapitalistischen Eliten von der AfD die gewünschte Wirkung hätte. Allein - mir fehlt der Glaube.

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